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MANGELERNÄHRUNG
Mangelernährung und DRG: erkennen, behandeln, dokumentieren
NICK VONZUN1, MAYA RÜHLIN2, ANNA-BARBARA STERCHI3
Nick Vonzun
Die Bedeutung der krankheitsbedingten Mangelernährung wird oft unterschätzt, obwohl ihr prognostischer Einfluss auf Morbidität, Krankenhausverweildauer und Letalität gesichert ist. Dementsprechend wird die Mangelernährung bei Patienten selten als eigenständige Diagnose erkannt und erfasst. Gründe dafür liegen in einer ungenügenden ernährungsspezifischen Ausbildung und Sensibilisierung des medizinischen Personals gegenüber der Problematik. Als Folge davon wird an vielen Spitälern kein Risikoscreening für Mangelernährung durchgeführt. Mit der Einführung von SwissDRG bietet sich jetzt die Gelegenheit, das zu ändern.
Identifizierte Risikopatienten bedürfen einer ernährungsmedizinischen Diagnostik und Betreuung, damit Folgeerscheinungen einer Mangelernährung vermieden werden können. Folglich besteht hier ein grosser Bedarf für die entsprechende Sensibilisierung und konkrete Umsetzung ernährungstherapeutischer Massnahmen. Diese sind deshalb so wichtig, da die medizinische und ökonomische Wirksamkeit einer effektiven Ernährungstherapie nicht nur unbestritten sind, sondern zudem auch gut in der medizinischen Literatur dokumentiert wurden. Die Einführung von SwissDRG (Swiss Diagnosis Related Groups) bietet eine einmalige Chance, die Erfassung, Therapie und Dokumentation der Mangelernährung umzusetzen.
DRG-Relevanz der Mangelernährung
Beim Fallpauschalensystem SwissDRG wird jeder Spitalaufenthalt anhand bestimmter Kriterien, wie zum Beispiel Hauptdiagnose, Nebendiagnosen, Be-
1Leitung Ernährungsberatung, KS Nidwalden 2Leitung Ernährungsberatung, KS Winterthur 3Leitung Ernährungsberatung, Inselspital Bern
handlungen, Alter und Geschlecht, einer Fallgruppe (DRG) zugeordnet und pauschal vergütet. Die Definition der Hauptdiagnose entspricht der Definition der WHO: «Derjenige Zustand, der am Ende des Spitalaufenthaltes als Diagnose feststeht und Hauptanlass für die Behandlung und Untersuchung des Patienten war.» Ist mehr als ein Zustand aufgeführt, ist derjenige als Hauptdiagnose zu wählen, der den grössten Aufwand an medizinischen Mitteln erforderte. Die Nebendiagnose ist definiert als: «Eine Krankheit oder Beschwerde, die entweder gleichzeitig mit der Hauptdiagnose besteht oder sich während des Spitalaufenthaltes entwickelt.» Die Nebendiagnose wird kodiert, wenn der medizinische Aufwand erfüllt ist. Die Mangelernährung kann Hauptdiagnose sein, ist aber in den überwiegenden Fällen eine Nebendiagnose. Schweregrade von Komplikationen und/ oder Komorbiditäten (CCL) sind Schweregradstufen, die für alle Nebendiagnosen vergeben werden. Ihr Wert kann zwischen 0 und 4 für operative und neonatologische Behandlungsepisoden und zwischen 0 und 3 für medizinische Behandlungsepisoden variieren und wird aus einer Kombi-
nation von medizinischen Bewertungen und statistischen Analysen ermittelt. Die Nebendiagnose «Mangelernährung» hat per se keinen Einfluss auf die DRG. Die CCL-Werte der Nebendiagnosen werden kumuliert. Je nach DRG kann die Mangelernährung in Kombination mit einer oder mehreren anderen Nebendiagnosen zu einem höheren Schweregrad führen, was sich wiederum auf den Erlös auswirken kann, wie die Beispiele (1–5) zeigen.
Chancen des DRG-Systems
Die Mangelernährung ist im DRG-System abgebildet und fördert dadurch deren
Beispiel 1
Hauptdiagnose: COPD mit akuter Exazerbation J44.19 Nebendiagnose: akute respiratorische Insuffizienz J96.0 (pathologische Blutgasveränderungen, Sauerstoffgabe)
Das Kostengewicht beträgt bei diesem Fall 0.822. Leidet der Patient zusätzlich an einer mässigen Energie- und Eiweissmangelernährung (E 44.0), steigt das Kostengewicht auf 1.25 (Differenz 0.428), was bei allgemein versicherten Patienten bei einer Baserate von 9800 Fr. zu einem Mehrerlös von 4194 Fr. führt.
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Beispiel 2
Hauptdiagnose: Morbus Crohn K50.9 Nebendiagnose: Zwei SIRS-Zeichen (Fieber > 38,0 ºC, Leukozytose) R65.0!
Das Kostengewicht beträgt in diesem Fall 0.689. Leidet der Patient zusätzlich an einer leichten Energie- und Eiweissmangelernährung (E 44.1), steigt das Kostengewicht auf 1.726 (Differenz 1.037), was bei allgemein versicherten Patienten bei einer Baserate von 9800 Fr. zu einem Mehrerlös von 10 162 Fr. führt.
Beispiel 3
Hauptdiagnose: Herzinsuffizienz I50.9 Nebendiagnose: Vitamin-B12-Mangel E 53.8
Das Kostengewicht beträgt bei diesem Fall 0.924. Leidet der Patient zusätzlich an einer erheblichen Energie- und Eiweissmangelernährung (E 43), steigt das Kostengewicht auf 1.361 (Differenz 0.437), was bei allgemein versicherten Patienten bei einer Baserate von 9800 Fr. zu einem Mehrerlös von 4282 Fr. führt.
Beispiel 4
Hauptdiagnose: Schlaganfall, nicht als Blutung oder Infarkt bezeichnet, I64 Das Kostengewicht beträgt bei diesem Fall 1.191. Nebendiagnosen: Sepsis, SIRS, akute Niereninsuffizienz, Pneumonie, Dekubitus, erhebliche Energie- und Eiweissmangelernährung.
Unabhängig auch von vielen schweren Nebendiagnosen ändert sich das Kostengewicht nicht.
Beispiel 5
Hauptdiagnose: Bösartige Neubildung des Colon ascendens C18.2 mit Hemicolektomie rechts 45.73; das Kostengewicht beträgt bei diesem Fall 1.904. Nebendiagnosen: Sepsis, SIRS, akute Niereninsuffizienz, Pneumonie, Dekubitus, erhebliche Energie- und Eiweissmangelernährung
Unabhängig auch von vielen schweren Nebendiagnosen ändert sich das Kostengewicht nicht.
Anerkennung als Diagnose und damit auch die Durchführung einer stationären Ernährungstherapie. Obgleich Mangelernährung per se Grund genug für eine Ernährungstherapie sein sollte, kann das
DRG-System ein zusätzlicher finanzieller Anreiz sein, die Mangelernährung zu erfassen und zu therapieren. Voraussetzung ist eine korrekte Erfassung der Mangelernährung, deren Dokumentation und korrekte Kodierung. Die Mehrerlöse, die – wie beispielhaft aufgeführt – aus der Erhöhung der CLL-Werte resultieren könnten, leiten sich einerseits aus der Erhöhung der Komplikations- und Komorbiditätsrisiken ab, andererseits aus dem zusätzlichen Aufwand für eine gezielte Ernährungsintervention. Aufgrund einer frühzeitigen, verhältnismässig kostengünstigen Ernährungstherapie während des Spitalaufenthaltes resultiert eine relevante Kosteneinsparung wegen kürzerer Hospitalisationszeiten, insbesondere durch die Verringerung von Komplikationen. Durch die Dokumentation der Diagnose und Therapie der Mangelernährung in den Austrittsberichten werden die Hausärzte sowie Patienten und Angehörige für die Thematik sensibilisiert. Mit der Differenzierung der Mangelernährung in Schweregrade können auch solche Patienten identifiziert werden, bei denen dieser erhöhte Aufwand besonders zum Tragen kommt.
Risiken vorbeugen
Die Energie- und Eiweissmangelernährungscodes E 43, E 44.0, E 44.1 werden im ICD-10-GM-Verzeichnis definiert nach Standardabweichungen vom Mittelwert der Bezugspopulation. Die schweizerische Referenzpopulation und die entsprechenden Standardabweichungen sind nicht durch aktuelle Studien abgebildet. Diese Vorgaben sind weder aktuell noch praktikabel, was zu Interpretationsschwierigkeiten mit den Krankenversicherern führen kann. Mit dem SwissDRG-System entsteht der Anreiz für das Spital, die Behandlung im Interesse betriebswirtschaftlicher Effizienz mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch durchzuführen. Es braucht heute nur einen medizinischen Aufwand grösser als 0, um die Mangelernährung als Nebendiagnose zu kodieren. Dies bedeutet dann, dass eine therapeutische oder diagnostische Massnahme durchgeführt werden musste oder ein erhöhter
Betreuungs-, Pflege- und/oder Überwachungsaufwand nötig war. Dieser medizinische Aufwand grösser als 0 ist jedoch ein dehnbarer Begriff und kann missbraucht werden, wenn mit geringem Aufwand – beispielsweise nur durch Verordnung einer Trinknahrung ohne weitergehende therapeutische Beratung und Unterstützung – die Diagnose Mangelernährung kodiert wird. Dies würde zu einem Qualitätsverlust der effektiven Ernährungstherapie führen. Eine primär monetäre Orientierung würde sowohl dem Anliegen einer wirksamen Ernährungstherapie zu Gunsten unserer Patienten als auch unserem Gesundheitswesen schaden. Wir benötigen eine Differenzierung und eine klare Definition der Mangelernährung in Schweregraden sowie konkrete Vorgaben für die korrekte Abbildung und Kodierung der Diagnose und Therapie der Mangelernährung, um einen möglichen Missbrauch zu verhindern.
Ausblick
Die Arbeitsgruppe DRG des SVDE (Schweizerischer Verband dipl. Ernährungsberater/innen HF/FH) und der GESKES (Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz) hat 2010 einen Antrag eingereicht zuhanden von SwissDRG zur Änderung der Definitionen der Mangelernährung im ICD-10-GM-Verzeichnis (siehe dazu S. 26). Da bisher keine Rückmeldung zu diesem Antrag erfolgt ist und dieser wenig Aussicht hat, berücksichtigt zu werden, wurde 2012 in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie ein Antrag für das Erstellen einer Kodierrichtlinie zuhanden des Bundesamtes für Statistik eingereicht (s. Tabelle). Die Kodierrichtlinien stehen dem ICD-Verzeichnis vor und sind für alle KodiererInnen verbindlich. Durch eine solche Richtlinie soll eine aktuelle und verbindliche Definition zur Kodierung der Mangelernährung erreicht werden. Eine Umsetzung des Lösungsvorschlages würde Klarheit schaffen und eine einheitliche Vorgehensweise für KodiererInnen, Krankenkassen, Ärzte und Ärztinnen sowie für ErnährungsberaterInnen im Bereich Mangelernährung fördern.
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Weiter soll die Mangelernährung nur dann kodiert werden, wenn auch ein entsprechend relevanter Therapieaufwand erfolgt ist und die Ernährungstherapie entsprechend dokumentiert wurde. Konkret betrifft dies Patienten mit einerseits enteraler und andererseits parenteraler Ernährung sowie Patienten, bei denen eine/ein dipl. ErnährungsberaterIn FH/HF beziehungsweise ein interdisziplinäres Ernährungsteam involviert wurde. Eine Intervention durch dipl. ErnährungsberaterIn FH/HF hat nachweislich einen grösseren Benefit als beispielsweise lediglich die Abgabe supplementaler Trinknahrungen. Durch die Kombination der Diagnosecodes mit den CHOP-Codes für Ernährungsinterventionen wird die Qualität der Ernährungstherapie gewährleistet. Diese Angaben gelten für Erwachsene. Zur Einschätzung der Mangelernährung bei Kindern kann zurzeit keine Empfehlung für ein einheitliches Erfassungsinstrument gegeben werden. Bei den pädiatrischen Fachpersonen sind diverse Methoden im Einsatz, die teilweise Inhalt aktueller Forschungsprojekte sind.
Fazit
Die Rahmenbedingungen, um eine Mangelernährung zu erkennen, zu therapieren und zu kodieren, sind im SwissDRGSystem günstig. Sowohl die Diagnose Mangelernährung als auch die Ernährungstherapien sind im System abgebildet. Die Mangelernährung kann erlösrelevant sein. Das primäre Ziel soll jedoch eine Verbesserung der Behandlungsqualität durch den Einsatz einer adäquaten Ernährungstherapie sein, die jeweils durch klinisch ausgerichtete ErnährungsberaterInnen, sensibilisierte oder ernährungsbeauftragte Ärztinnen/Ärzte und Pflegefachpersonen vorgenommen wird. In der Hoffnung, dass der Antrag für die Kodierrichtlinie der Mangelernährung auch angenommen wird, wären die Voraussetzungen geschaffen, dass die Mangelernährung schweizweit einheitlich erfasst, entsprechend dokumentiert sowie qualitativ gut behandelt und kodiert wird. Dies hätte positive Auswirkungen für Patienten und Spitäler. Ausserdem würden aussagekräftige Daten zur Ver-
Tabelle Inhaltliche Beschreibung der Eingabe der Kodierrichtlinie
Code E 43 – E 44 E 43
E 44.0
E 44.1
Definition Mangelernährung Nicht näher bezeichnete erhebliche Energie- und Eiweissmangelernährung Definition: Schwere Mangelernährung: BMI <18.5 kg/m2 bei reduziertem Allgemeinzustand oder ungewolltem Gewichtsverlust > 5% in 1 Monat und reduziertem Allgemeinzustand oder Nahrungsaufnahme in der vergangenen Woche 0 bis 25% des Bedarfs. Mässige Energie- und Eiweissmangelernährung Definition: Moderate Mangelernährung: BMI 18,5–20,5 kg/m2 bei reduziertem Allgemeinzustand oder ungewolltem Gewichtsverlust > 5% in 2 Monaten und reduziertem Allgemeinzustand oder Nahrungsaufnahme in der vergangenen Woche 25–50% des Bedarfs. Leichte Energie- und Eiweissmangelernährung Definition: Milde Mangelernährung: ungewollter Gewichtsverlust > 5% in 3 Monaten oder Nahrungsaufnahme in der vergangenen Woche < 50–75% des Bedarfs. NRS 2002 Score ≥5 4 (mind. Grad 1 bei Verschlechterung des Ernährungszustand) 3 (mind. Grad 1 bei Verschlechterung des Ernährungszustand) E 43, E 44.0, E 44.1 dürfen nur kodiert werden, wenn auch die Bedingungen zur Kodierung von mindestens einem der folgenden CHOP-Codes erfüllt sind: 89.0A.32 Ernährungsberatung und -therapie 89.0A.4- Multimodale Ernährungstherapie 96.6 Enterale Infusion konzentrierter Nährstoffe 99.15 Parenterale Infusion konzentrierter Nährlösungen fügung stehen, wie häufig die Mangelernährung in den jeweiligen Spitälern erfasst und therapiert wird. Die Diagnose «Mangelernährung» und deren adäquate stationäre Ernährungstherapie sollten in den Spitälern im Zeitalter von SwissDRG vom medizinischen Fachpersonal, der Spitaldirektion und den Kodierern nicht länger unterschätzt werden. Korrespondenzadressen: Kantonsspital Nidwalden Nick Vonzun dipl. Ernährungsberater FH, Med. Kodierer E-Mail: nick.vonzun@ksnw.ch Kantonsspital Winterthur Maya Rühlin, dipl. Ernährungsberaterin HF E-Mail: maya.ruehlin@ksw.ch Inselspital, Universitätsspital Bern Anna-Barbara Sterchi dipl. Ernährungsberaterin FH E-Mail:anna.barbara.sterchi@insel.ch Literatur: 1. Keller U. Malnutrition in the hospital. Schweiz Med Wochenschr 1996; 126(suppl 79): S9–13. 2. Ballmer PE, Steffen P, Imoberdorf R. Mangelernährung, ein stark unterschätztes Problem. Schweiz Med Forum 2001; 36: 887–891. 3. Imoberdorf R, Stanga Z, Ballmer PE. Mangelernährung. Auswirkungen bei akuter Erkrankung. Schweiz Med Forum 2001; 36: 892–895. 4. Kondrup J. et al. Clin Nutr 2003; 22: 415–421. 5. Keller U et al. ME im Spital, Stellungnahme einer Expertengruppe des Europarates und Empfehlungen der Eidgenössischen Ernährungskommission, BAG (2006) 6. Frei A. Mangelernährung im Spital – medizinische Kosteneffektivität bei Verhinderung. Bericht im Auftrag des BAG (2006). 7. Stanga Z, Leuenberger M, Gerber A, Imoberdorf R. Mangelernährung: welches ist das geeignete Screeninginstrument? Aktuel Ernähr Med 2009; 34: 74–82. 8. Imoberdorf R.,Meier R. et al. Prevalence of undernutrition on admission to Swiss hospitals. Clin Nutrition 2010; 29: 38–41. 9. Imoberdorf R, Rühlin M, Ballmer PE. Malnutrition im Alter. Zahnarzt Praxis 2010; 6: 30–32. 10. Löser C. Unter-/Mangelernährung im Krankenhaus. Aktuel Ernähr Med 2011; 36: 57–75. 11. Rüfenacht U, Rühlin M, Wegmann M, Imoberdorf R, Ballmer PE. Nutritional counseling improves quality of life and nutrient intake in hospitalized undernourished patients. Nutrition 2010; 26: 53–60. 12. Ockenga J. Abbildung von Mangelernährung und Ernährungstherapie im DRG – 2012. Aktuel Ernähr Med 2011; 36: 337–340. 23 3/12