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KONGRESSBERICHT
ECTRIMS-Kongress Multiple Sklerose
Neue Outcomeparameter in der Langzeittherapie der Multiplen Sklerose
Das Satellitensymposium «Novel Performance Measures for Early and Long-term Gains» innerhalb des von mehr als 7000 Teilnehmern besuchten Jahreskongresses des European Committee for Research and Treatment in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) in Lyon war speziell der Therapie mit Interferon (IFN) beta-1b gewidmet. IFN beta-1b war unter dem Markennamen Betaferon® (in den USA Betaseron®) das erste Interferon, das mit der Indikation Multiple Sklerose zugelassen wurde. Derzeit liegen Langzeitdaten aus fast 25 Jahren vor. Neben Sicherheitsaspekten beleuchteten die Referenten insbesondere die Bedeutung neuer Outcomeparameter wie Kognition und Überlebenswahrscheinlichkeit in der Langzeittherapie mit IFN beta-1b.
Richard Altorfer
S eit Jahrzehnten wird nach wirksamen Medikamenten zur Behandlung der Multiplen Sklerose geforscht. Die Variabilität des Krankheitsbildes, die schnelle Fluktuation der Krankheitssymptome, aber auch oft lange Perioden ohne Krankheitsprogression erschweren die Erforschung. Heute sind randomisierte und kontrollierte, meist plazebokontrollierte oder mit einem Verumpräparat vergleichende Studien der Goldstandard, um Risiken und Nutzen neuer Wirkstoffe zu erforschen. Die Studien laufen in der Regel über einen Zeitraum von zwei Jahren und richten sich nach Parametern wie Behinderungsprogression, Schubrate oder Krankheitsaktivität, Zunahme der Läsionslast und Progression der Hirnatrophie, messbar durch Magnetresonanztomografie (MRT). Interferon beta-1b (Betaferon) wird bereits seit 25 Jahren bei gehfähigen erwachsenen Patienten mit schubförmig-remittierend verlaufender Multipler Sklerose (relapsing remitting MS = RRMS) angewendet. «Betaferon hat sich als eine First-Line-Therapie etabliert, die aufgrund der Datenlage als lang anhaltend wirksam und sicher bezeichnet werden kann», sagte Prof. Tjalf Ziemssen, Leiter des MultipleSklerose-Zentrums des autonomen und neuroendokrinologischen Funktionslabors und des neuroimmunologischen Labors der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Klinikum Carl
Gustav Carus in Dresden (5). Aus der BENEFITStudie (Betaferon in Newly Emerging multiple sclerosis For Initial Treatment) (1–4) liegen Daten aus acht Jahren Behandlungszeit mit Betaferon vor, aus den Nachbeobachtungsstudien sogar Daten aus mehr als 20 Behandlungsjahren (7, 8). Damit sind nun auch Aussagen bezüglich Kognition, Lebensqualität und Überleben möglich, zu Parametern also, die in anderen MS-Studien kaum oder gar nicht erfasst wurden, weil die kurze Studiendauer keine zuverlässigen Resultate zuliess. Dabei weisen zehn Jahre nach Krankheitsbeginn 43 bis 65 Prozent der MS-Patienten eine kognitive Dysfunktion auf.
Neue Parameter sind notwendig Zur Erfassung der Behinderungsprogression hat sich der EDSS-Score (Expanded Disability Status Scale) etabliert. «Allerdings hat der EDSS einige Defizite, beispielsweise in der Erfassung kognitiver Dysfunktionen», so Ziemssen (6). «Der aktuelle Trend geht deshalb heutzutage dahin, die Testbatterie zu verfeinern und zu standardisieren.» Beispielsweise bildet der EDSS die Behinderungsprogression nicht linear ab, und er erfasst die durch die MS veränderten kognitiven Funktionen nur ungenügend. Bei der BENEFIT-Studie wurden deshalb neben dem EDSS auch der PASAT (Paced Auditory Serial Addition Test), der FAMS-TOI (Assessment of Multiple Sclerosis-Trial Outcome Index), die Black-Hole-Analysen (13, 14) und der
Health Related Quality of Life (HRQoL) als neue Parameter mit einbezogen. Der neuropsychologische PASAT etwa erfasst die Informationsverarbeitungskapazität und -geschwindigkeit, der FAMS-TOI die Lebensqualität. «Schwarze Löcher» (black holes) sind bei MS-Patienten Zeichen für fortgeschrittene, endgültige Schäden. Prof. Xavier Montalbàn, Direktor der Forschungsgruppe Multiple Sklerose, Neurologische Forschung und Klinische Neuroimmunologie in der Abteilung Neurologie des Vall d’Hebron-Universitätsklinikums in Barcelona, untermauerte die Bedeutung dieser Testbatterien: «Die kognitive Dysfunktion beeinflusst das Sozialleben, den Beruf, die Aktivitäten des täglichen Lebens und das Krankheitsmanagement negativ.» Personen, die in diesem Bereich von der Therapie profitieren, werden deshalb auch eine bessere Lebensqualität aufweisen. Die Ergebnisse der BENEFIT-Studie weisen darauf hin, dass Betaferon positive Effekte auf die kognitive Funktion haben könnte. In der randomisierten Studie erhielten Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) 250 mcg Interferon beta-1b oder Plazebo über zwei Jahre oder bis eine klinisch gesicherte Multiple Sklerose (CDMS) diagnostiziert wurde. Nach Abschluss der zweijährigen Behandlung konnten die Patienten in eine Nachbeobachtungsstudie eintreten, in der alle Teilnehmer fünf weitere Jahre mit Interferon beta-1b behandelt wurden. Danach folgte eine weitere dreijährige Beobachtungszeit bis maximal 8,7 Jahre. Es zeigte sich auch ein deutlicher Unterschied zwischen den Patienten mit frühzeitigem und denjenigen mit verzögertem Therapiebeginn. In der späten Phase der Nachbeobachtung wiesen Probanden, die von Beginn an Interferon beta-1b erhalten hatten, ein 40 Prozent geringeres Risiko für fortschreitende körperliche Beeinträchtigungen gemäss EDSS-Score auf. Der EDSS-Score lag bei 93 Prozent der Studienteilnehmer immer noch unter 3,5. Das Risiko für eine CDMS war in der Gruppe mit frühzeitigem Behandlungsbeginn um 32,2 Prozent reduziert. Ausserdem trat eine CDMS bei der 50er Perzentile 1345 Tage später ein. Keiner der Teilnehmer unter Betaferon benötigte eine
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Eskalationstherapie. Lediglich 6,6 Patienten wechselten auf eine andere Therapie (meist Natalizumab). Zudem, so Montalbàn, bestätigen die Daten, dass Betaferon verträglich und sicher ist.
Die Bedeutung eines Langzeit-Follow-up Die Multiple Sklerose ist eine chronische Krankheit. «Aber Langzeitdaten waren lange Zeit unterpräsentiert, trotz des chronischen Krankheitsprozesses», monierte Prof. Anthony T. Reder, Direktor der MS-Klinik an der Universität Chicago. Beispielsweise komme der Faktor Überlebensvorteil in den bisherigen Studien kaum vor. Dabei reflektiere genau dieser Faktor die Sicherheit und Effizienz eines krankheitsmodifizierenden Medikamentes am deutlichsten. Zu Betaferon liegen zwei Langzeitstudien bezüglich Überleben vor.
16-Jahre-Long-Term-Follow-up: Die 16-jährige Langzeit-Nachbeobachtungsstudie 16Year-LTF (Long Term Follow-up) zeigt, dass MSPatienten von einer Langzeitbehandlung mit Interferon beta-1b profitieren: Im Verlauf von 16 Jahren konnte die jährliche Schubrate um bis zu 40 Prozent reduziert werden. Die Erkrankung bei Patienten, die langfristig mit Interferon beta-1b behandelt wurden, schritt langsamer fort als bei Patienten, die nur eine Kurzzeitbehandlung erhalten hatten. Als Langzeitbehandlung wurde eine Therapie über mindestens zwölf Jahre, als Kurzzeitbehandlung eine Anwendung bis zu etwa 1,6 Jahren definiert. Neue oder unerwartete Nebenwirkungen traten unter Langzeittherapie nicht auf. Der EDSS-Score – bei Studieneintritt unter 2 – lag nach 16 Jahren bei 6 (7).
21-Jahre-Long-Term-Follow-up: Primärer Outcomeparamter der über einen Zeitraum von 21 Jahren laufenden Langzeit-Nachbeobachtungsstudie (21-Year-LTF) war die Mortalität jeglicher Ursache. Es zeigte sich, dass Patienten, die frühzeitig mit Betaferon behandelt
Kasten 1:
Erfinder und Hersteller von Interferon beta-1b ist die US-Firma Chiron. Interferon beta1b wurde 1993 von der deutschen Schering AG unter dem Markennamen Betaseron® zunächst in den USA eingeführt, 1995 unter dem Namen Betaferon auch in Europa und in der Schweiz. Mit der Übernahme von Chiron sicherte sich Novartis das Recht, das Präparat parallel ebenfalls zu vermarkten. Unter dem Markennamen Betaseron wird das Präparat heute noch in den USA vertrieben. Die Firma Schering wurde 2007 von Bayer übernommen. Betaferon ist das Interferon gegen Multiple Sklerose mit der längsten Erfahrung.
Kasten 2:
Zwei bisher selten erfasste Outcomeparameter
Kognitive Dysfunktion ● Prävalenz: 43–65% zehn Jahre nach Krankheitsbeginn ● Auswirkungen auf Beruf, Aktivitäten des täglichen Lebens, soziales Umfeld. Lebenserwartung ● 5 bis 7 Jahre kürzere Lebenserwartung ● 2- bis 7-fach erhöhtes Suizidrisiko (am höchsten 5 Jahre nach der Diagnose)
worden waren, ein um 46,8 Prozent vermindertes relatives Sterberisiko hatten (p = 0,0173). Die Studie untersuchte ausserdem die Todesursachen bei den verstorbenen Patienten, die in den meisten Fällen zuverlässig ermittelt werden konnten. Die Analyse ergab, dass 78,3 Prozent der Todesfälle MS-bedingt waren und dass das durchschnittliche Sterbealter 52 Jahre betragen hatte. Es zeigte sich also deutlich die durch die Multiple Sklerose verminderte Lebenserwartung. Am häufigsten verstarben die Patienten an pulmonalen Infektionen (8–12).
«Die Number needed to Treat (NNT) im Hin-
blick auf eine verlängerte Lebenserwartung im
21-jährigen Follow-up mit Betaferon versus
Plazebo liegt bei 8», schloss Prof. Reder seinen
Vortrag. «Das ist eine NNT, die sich viele Kar-
diologen bei ihren Medikamenten wünschen
würden.»
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Dr. med. Richard Altorfer
(based on documents)
Quelle: Novel Performance Measures for Early and Long-term Gains (Satellitensymposium, sponsored by Bayer), 12. Oktober 2012, ECTRIMS-Jahreskongresses, Lyon (F).
Die Firma Bayer hatte keinen Einfluss auf den Text.
Referenzen: 1. Kappos L et al.: Lancet 2007; 4; 370(9585): 389–97. 2. Kappos L et al.: Neurology 2009; 8: 987–997. 3. Montalbàn X et al.: ECTRIMS 2012. 4. Edan G et al.: ECTRIMS 2012; P925. 5. Plosker GL; CNS Drugs 2011; 25: 67–88. 6. Cohen JA et al.: Lancet Neurol 2012; 11: 467–476. 7. Ebers GC et al.: 2010; 81: 907–912. 8. Reder AT et al.: Neurology. 2010; 74: 1877–1885. 9. IFNB Study Group et al.: Neurology 1993. 10. IFNB MS Study Group et al.: Neurology 1995. 11. Evers S et al.: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2010; 81:
907–912. 12. Goodin DS et al.: Neurology 2012; 78(17):1315–22. 13. Cadavid D et al.: JNNP 2009. 14. Fillipi M et al.: Neurology 2011.
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