Transkript
HIGHLIGHTS
Weitere Highlights vom Münchner Suchtkongress
Kindeswohl in Familien suchtkranker Menschen
Sind die Eltern suchtkrank, ist das Risiko gross, dass die Kinder später selber suchtkrank werden. Das Projekt «Kleine Riesen» versucht, Kinder suchtkranker Eltern zu unterstützen.
Die Zahl von Kindern, die in Familien mit akuten Suchtproblemen aufgrund der Erkrankung eines oder beider Elternteile aufwachsen, wird in Deutschland auf 2 bis 4 Millionen geschätzt. Mehr als 30 Prozent der Kinder suchtkranker Eltern werden später selber suchtkrank (Lieb et al. 2006). Mehr als 50 Prozent der Jugendalkoholiker (14.–21. Lebensjahr) stammen aus einer Familie mit alkoholkranken Vätern oder Müttern (Klein, 2005). Kinder suchtkranker Eltern weisen laut Untersuchungsergebnissen psychosoziale Auffälligkeiten und Verhaltensstörungen auf: Sie sind während der Jugend häufig hyperaktiv, impulsiv, aggressiv, weisen Angst- und depressive Symptome auf, sie haben Defizite in der schulischen
Leistung und in der visuellen Wahrnehmung und sind ausserdem durch innerfamiliäre Konflikte gekennzeichnet.
Kinder aus suchtbelasteten Familien unterstützen Das Projekt «Kleine Riesen» im Kreis Pinneberg und in der Stadt Norderstedt hat als Ziel, Kinder aus suchtbelasteten Familien zu unterstützen, und bietet darüber hinaus die Unterstützung bei der Entwicklung angemessener Konfliktund Problemlösungsstrategien sowie die Hilfe in Krisensituationen an. Zwischen 2009 und 2011 betreute der «Kleine Riese» 154 Kinder im Alter von 5 bis 19 Jahren und 140 direkte Angehörige. Einzelgespräche mit dem Kind zeigen zu Beginn auf, wo die Probleme liegen. Angeboten werden beispielsweise regelmässige wöchentliche Gruppen, in denen das Alltagserleben der Kinder in ihren Familien besprochen wird, und auch altersadäquate Informationen zum Thema Sucht. Die Gruppenstunden haben
immer den gleichen Ablauf, damit die Kinder vertraute Strukturen erhalten, die ihnen in der Familie fehlen. Bis sich die Kinder öffnen, dauert es laut Dr. Hans-Jürgen Tecklenburg, Leiter der ATS-Suchtberatungsstelle Kaltenkirchen (D), der auch für das Projekt «Kleine Riesen» verantwortlich ist, oft mehrere Wochen oder Monate. Bis Ende 2011 beendeten 117 Kinder die Betreuung im «Kleinen Riesen». Erreicht wurden unter anderem eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion (47,4%), verbesserte Schulleistungen (31,5%), eine Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten (49,1%) und eine Verbesserung im Sozialverhalten (49,1%). Obwohl das Projekt erfolgreich ist und bereits zwei Auszeichnungen gewonnen hat, ist eine notwendige und wünschenswerte Ausweitung aufgrund der finanziellen Situation schwierig. Das Projekt hat keine feste Finanzierung. Langfristig ist die Existenz des Projektes deshalb nicht gesichert.
Annegret Czernotta
Suchttherapie über Netz und Social Media
Mehr als 1 Prozent der Bevölkerung konsumieren Kokain. Mit einem Online-Interventions-Tool hat Michael Schaub von der Sucht- und Gesundheitsförderung Zürich ein Interventionstool in Zusammenarbeit mit der ARUD Zürich erstellt. Das Projekt «Webbasierte Selbsthilfeoberfläche für problematischen Kokainkonsum Snow Control» testet die Wirksamkeit und die Effektivität einer achtwöchigen Selbsthilfeintervention für Kokain-Problemkonsumenten im Internet. Diese Selbsthilfeintervention basiert auf den vielversprechenden Ansätzen der ko-
gnitiv-verhaltenstherapeutischen Therapie, auf gängigen Selbstkontrollprinzipien sowie auf dem Rückfall-Präventions-Modell. Insgesamt 282 Personen wurden bis Juli 2012 in Snow-Control eingeschlossen. Die Teilnehmer waren durchschnittlich zwischen 30 und 40 Jahre alt. Kokain wurde mehrheitlich nasal konsumiert, selten geraucht. Nach drei Wochen waren immerhin noch 44,8 Prozent der Teilnehmer registriert. Die Auswertung zeigt, dass die konsumierte Menge an Kokain signifikant abnimmt, dass sich durch die Intervention das Binge Drin-
king reduziert und auch die depressiven Symptome. Keinen Einfluss hatte die Intervention hingegen auf die Menge an konsumfreien Tagen, das Craving verstärkte sich eher noch. Vorteile von Snow-Control liegen darin, dass die Bearbeitung der Tools ortsunabhängig erfolgen kann, die Anonymität gesichert ist und die Teilnahme kostenlos ist.
Annegret Czernotta
Weitere Infos zum Projekt: www.snowcontrol.ch
5/2012
&PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
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HIGHLIGHTS
Substitution 50+: Wie geht es weiter?
Mehr als 50 Prozent der Substitutionspatienten sind in Deutschland älter als 50 Jahre.Wie soll man in Zukunft ältere Drogenabhängige mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Pflegebedarf versorgen?
Brauchen ältere Substitutionspatienten spezielle Altenheime? Oder bedarf es integrierter Module zur Betreuung dieser Klientel? Ist «Woodstock», ein Altersheim für Drogenabhängige über 45 Jahre in Den Haag, ein nachahmenswertes Vorbild? Diese Fragen wurden am Symposium «Substitution 50+: Wie geht es weiter?» intensiv diskutiert. Studiendaten, die Dr. Susanne Hösselbarth vom Institut für Suchtforschung in Frankfurt am Symposium präsentierte, zeigen deutlich, mit welchen Problemen ältere Drogenabhängige zu kämpfen haben. An den Interviews nahmen 74 Personen teil, das Durchschnittsalter lag bei 51 Jahren, 89 Prozent der Teilnehmer waren in einer Substitutionsbehandlung. Die Angaben zur allgemeinen Gesundheit (auch zu den körperlichen und psychischen Erkrankungen) beruhten auf eigenen Einschätzungen der Befragten: ● 46 Prozent schätzten ihren allgemeinen Ge-
sundheitszustand als schlecht ein; ● ein Drittel fühlte sich im Alltag sogar stark
beeinträchtigt;
● 67 Prozent waren HCV-infiziert; ● 42 Prozent litten an einer Atemwegserkran-
kung und/oder an Erkrankungen der Zähne. Hinzu kamen starke psychische Belastungen (Depression 62%, Spannungszustände 55%), Gefühle der Einsamkeit/Vereinsamung (38%), und mehr als die Hälfte litten an (53%) schweren Konzentrationsstörungen und/oder Vergesslichkeit (53%). Ein Drittel der Befragten gab an, durch die psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen im Alltag stark oder sehr stark beeinträchtigt zu sein. «Die Notwendigkeit von Pflegeangeboten wird aufgrund dieser Beeinträchtigungen steigen», sagte Susanne Hösselbarth am Symposium. «Fraglich ist, ob wir ein betreutes Wohnen anbieten sollen oder Kooperationsprojekte mit bestehenden Altenheimen.»
Betreutes Einzelwohnen als Lösung Dem widersprach Ansgar Kreft von den Malteser Werken. Es sei schwierig, so Kreft, ältere Drogenabhängige in bestehende Pflegeeinrichtungen unterzubringen, weil das Wertesystem unterschiedlich sei. So haben ältere Drogenabhängige Hafterfahrung, sie sind kalendarisch jung, aber biologisch vorzeitig gealtert, sie weisen massive psychische Komorbiditäten auf und benötigen einen speziellen und hohen Pflegeaufwand (offene Wunden, schwierige Schmerztherapie wegen Wechselwirkungen
bei Substitution, Substitutionsmöglichkeiten usw.). Lösungsansätze sieht Ansgar Kreft deshalb eher im betreuten Einzelwohnen oder in kleinen, dezentralen betreuten Wohngruppen, die spezialisiert sind auf eine geriatrisch-psychiatrische Zielgruppe.
Für Rahmenbedingungen sorgen Wie der Bedarf eines älteren Substitutionspatienten aus Sicht eines Betroffenen aussehen könnte, stellte Dirk Schäffer von der deutschen Aidshilfe dar. Substitutionspatienten seien multimorbid, meist männlich, alleinstehend und arbeitslos, so Schäffer. Und der behandelnde Arzt ist oftmals der einzige soziale Kontakt, den Substitutionspatienten haben. Für Dirk Schäffer ist es wichtig, dass Substitutionspatienten mit Empathie begegnet wird, gleichzeitig wünscht er sich mehr Flexibilität bei der Substitution. Denn oft seien die Abgabezeiten sehr eng. Jemand, der älter ist, eingeschränkt gehfähig ist und noch zusätzlich an einer Atemwegserkrankung leidet, wird Schwierigkeiten haben, diese Zeitfenster einzuhalten. Vielmehr sollte man die Patienten wissenschaftlich befragen, wie sie sich ihr Leben vorstellen, und dann für rechtliche Rahmenbedingungen sorgen.
Annegret Czernotta
&34 5/2012 PSYCHIATRIE NEUROLOGIE