Transkript
Vorhofflimmern, Vitien, NSTEMI und Sport
Die neuen ESC-Guidelines
ESC
Gleich vier neue Leitlinien präsentierte die European Society of Cardiology (ESC) im Rahmen ihres diesjährigen Kongresses, der infolge der Covid-Pandemie virtuell abgehalten wurde. Im Vergleich zu den jeweiligen Vorgängerdokumenten reichen die Änderungen bei 3 der 4 Guidelines vom Feinschliff bis zum Paradigmenwechsel. Die vierte Richtlinie ist vollkommen neu.
Ein solcher Paradigmenwechsel wurde mit der Leitlinie für das Management von Vorhofflimmern vollzogen. Die ESC und die European Association of Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) propagieren nun eine «Atrial fibrillation Better Care»-(ABC-)Strategie, was letztlich auf ein hohes Mass an Individualisierung hinausläuft. Zwischen Patienten mit Vorhofflimmern und ihren Behandlern sollen künftig individualisierte Behandlungspläne vereinbart werden. Damit der Patient aber zu einem Verhandlungspartner werden kann, benötigt er ausführliche und korrekte Informationen über die Erkrankung, die Risiken und die therapeutischen Optionen. Das ABC-Schema setzt sich zusammen aus A (anticoagulation/avoid stroke) für die medikamentöse Hirnschlagprophylaxe, B (better symptom management) und C (cardiovascular and comorbidity optimisation). Womit hinter dem Paradigmenwechsel wieder die altbewährten therapeutischen Massnahmen stehen. Antikoagulation ist für die grosse Mehrzahl der Betroffenen indiziert, zumal die Empfehlungen hinsichtlich der Schlaganfallprävention weitgehend unverändert bleiben. Vorgegangen wird dabei nach einem Ausschlussverfahren. Zunächst werden Patienten mit niedrigem Schlaganfallrisiko identifiziert, was für Männer einen CHA2DS2-VASc-Score von 0 und für Frauen einen von 1 bedeutet. Diese Patienten seien die einzigen, die keine Antikoagulation benötigten, wie Prof. Dr. Gregory Lip von der Universität Liverpool im Rahmen der Präsentation der Leitlinie ausführte. Die Guideline gibt bei der Wahl des Antikoagulans der Substanzgruppe der DOAK (direkte orale Antikoagulanzien) gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten den Vorzug. Auch die Kontrolle von Herzrhythmus und Herzfrequenz mit Medikation oder interventionellen Strategien (das «B») ist seit Langem wichtiges Therapieziel bei Vorhofflimmern. In diesem Zusammenhang wies Prof. Dr. Isabelle van Gelder von der Universität Groningen (NL) darauf hin, dass Rhythmuskontrolle auch Symptomkontrolle bedeute. Unter «C» betonen die Experten die Wichtigkeit der kardiovaskulären Prävention insbesondere bei jener älteren Patientengruppe, in der Vorhofflimmern am häufigsten auftritt. Gewichtsreduktion, Nikotinstopp, Blutdruckkontrolle und moderates Ausdauertraining sind die empfohlenen Massnahmen. Eine Lebensstilmodifikation mit Gewichtsreduktion verbessert auch die Prognose nach Katheterablation. Mit dem Konzept der «4 S» (stroke risk, symptom severity, severity of AF burden, substrate severity) gibt die Guideline
auch die Eckpunkte für die Diagnostik des Vorhofflimmerns inklusive der Verlaufsbeobachtung vor. Screening auf asymptomatisches Vorhofflimmern wird explizit empfohlen. Dazu wird explizit auf die Möglichkeiten von Alltags-Devices wie Smart Watches oder Blutdruckmessgeräte verwiesen, die allerdings zu einem hohen Prozentsatz nicht klinisch für die Detektion von Vorhofflimmern validiert sind. Opportunistisches Screening soll generell bei Personen über 65 Jahre sowie bei Hypertoniepatienten bereits in jüngeren Jahren durchgeführt werden. Für die Katheterablation zur Rhythmuskontrolle besteht nun die Empfehlung sowohl bei paroxysmalem als auch bei persistierendem Vorhofflimmern, sofern ein Antiarrhythmikum der Klasse I oder III unwirksam war oder nicht vertragen wurde. Eine First-Line-Empfehlung für die Ablation besteht auch bei Patienten mit einem hohen Risiko für eine Tachykardie-induzierte Kardiomyopathie. Auch bei ausgewählten Patienten mit Herzinsuffizienz bestehe die Indikation für eine Katheterablation zwecks Vermeidung struktureller Schäden am Herzen, so Prof. Dr. Gerhard Hindricks vom Herzzentrum Leipzig und Leiter der Guidelines-Task-Force.
Behandlung von Herzvitien bei Erwachsenen
Auch die ESC-Leitlinie zum Management kongenitaler Vitien bei erwachsenen Patienten hat – zum ersten Mal in 10 Jahren – ein Update erfahren. Hintergrund sind die persistierenden Symptome und Risiken von Menschen mit bestehenden oder chirurgisch behandelten Vitien. Das Update der Leitlinie sei angesichts neuer Evidenz erforderlich gewesen, so der Vorsitzende der Guideline-Task-Force, Prof. Dr. Helmut Baumgartner von der Universität Münster. Die Leitlinie hält grundsätzlich fest, dass die Betroffenen zumindest einmal in einem spezialisierten Zentrum von einem multidisziplinären Team abgeklärt werden sollen, wobei Art und Frequenz der erforderlichen Kontrollen definiert werden. Die Hilfestellung sollte dabei über den rein kardiologischen Bereich hinausgehen. Beispielsweise stelle sich häufig die Frage nach Kinderwunsch oder Arbeitsfähigkeit. In vielen Fällen könne eine genetische Beratung sinnvoll sein, was nicht nur Frauen, sondern auch Männer betreffe, so Prof. Dr. Julie De Backer vom Universitätsspital Ghent in Belgien. Die Guideline gibt Empfehlungen zum Management von Komplikationen der verschiedenen kongenitalen Vitien, die im Text in jeweils eigenen Punkten detailliert abgehandelt werden.
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ESC
Geringe Änderungen in neuer Leitlinie zum NSTEMI
Relativ wenig verändert wurde die ESC-Leitlinie zum Management des akuten Koronarsyndroms ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI). Die überarbeitete NSTEMI-Leitlinie empfehle ein diagnostisches Work-up, basierend auf vier Säulen, so Prof. Dr. Christian Müller, Universitätsspital Basel: nämlich klinische Untersuchung, EKG, kardiales Troponin bei Präsentation sowie Veränderung des kardialen Troponins über 1 oder 2 Stunden. Neu ist die Bevorzugung des 2-Stunden-Algorithmus gegenüber dem 1-Stunden-Algorithmus. Neu definiert wurde auch die Rolle der Bildgebung, konkret der CT-Angiografie. Diese kann die invasive Angiografie ersetzen, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine koronare Herzkrankheit moderat oder gering ist und das EKG oder das Troponin negativ oder inkonklusiv sind. Die Empfehlung für den Einsatz des GRACE-Risikoscores wurde auf das Niveau IIa herabgestuft, da der Score für den klinischen Alltag zu komplex und in seinen unterschiedlichen Versionen verwirrend ist. Ein Vorteil durch Einsatz des Scores konnte nie nachgewiesen werden. Stattdessen wird nun die Bestimmung von BNP oder NTproBNP zur Risikobewertung empfohlen. Über EKG, Troponin und NTproBNP hinaus sollen keine weiteren Biomarker bestimmt werden. Neu ist die Empfehlung bei Patienten, die eine perkutane Intervention erhalten, Prasugrel gegenüber Ticagrelor zu bevorzugen. Weitere Empfehlungen hinsichtlich des längerfristigen Managements sehen eine verlängerte duale Plättchenhemmung bei Patienten mit hohem Risiko für ein ischämisches Ereignis bei gleichzeitig geringem Blutungsrisiko vor. Ein Update erhielten auch die Empfehlungen zur heiklen Dreifachtherapie für Patienten mit Vorhofflimmern und NSTEMI. In solchen Fällen soll über eine Woche in stationärer Behandlung ein DOAK, ein P2Y12-Inhibitor und Acetylsalicylsäure gegeben werden. Danach wird die Umstellung auf eine duale Therapie empfohlen, was in der Regel die Kombination eines DOAK mit einem P2Y12-Inhibitor
Die 4 neuen ESC-Guidelines: Kongenitale Herzfehler
https://www.rosenfluh.ch/qr/congenitalheartdisease
ACS bei NSTEMI
https://www.rosenfluh.ch/qr/acsnstemi
Vorhofflimmern
https://www.rosenfluh.ch/qr/afib
Sport und Herz
https://www.rosenfluh.ch/qr/sportkardiologie
bedeutet, die dann weiter zu einer DOAK-Monotherapie deeskaliert wird. Das genaue Vorgehen richtet sich nach dem individuellen Risiko. Neu ist auch ein Abschnitt über die spontane Koronararteriendissektion (SCAD) als Ursache für einen NSTEMI. Das Management dieser Patienten kann konservativ oder interventionell erfolgen. Die ESC gibt dazu einen Algorithmus für Diagnose und Behandlung vor.
Erste ESC-Guideline zu Sport und Herz
Erstmals präsentierte die ESC eine Leitlinie zu den Themen Sportkardiologie und Training für Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Die Kernaussage lautet: Training wird für Gesunde ebenso wie für die grosse Mehrheit der kardiologischen Patienten empfohlen. Die Empfehlungen dieser Guideline sind breit gefasst, betreffen die gesunde Allgemeinbevölkerung ebenso wie Personen mit hohem kardiologischem Risiko, kardiologische Patienten und Leistungssportler. Die zugrunde liegende Evidenz ist mit zumeist Level C jedoch schwach. Empfohlen werden, quasi als «Standardtraining», 150 Minuten pro Woche mit moderater oder 75 Minuten mit hoher Intensität. Dieses Training kann und soll von asymptomatischen Gesunden ohne weitere medizinische Abklärung aufgenommen werden. Vorteilhaft ist eine Steigerung auf 300 Minuten mit moderater Intensität oder 150 Minuten mit hoher Intensität. Personen mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko sollten kardiologisch abgeklärt werden, wenn sie vorhaben, intensives Training zu beginnen. Eine kardiologische Untersuchung wird auch für angehende Wettkampfsportler sowie für Personen über 65 Jahre, die Sport mit hoher Intensität beginnen wollen, empfohlen. Hinsichtlich Krafttraining bestehen bestimmte Einschränkungen. Dieses soll von adipösen Personen und Patienten mit Diabetes mellitus und/oder Hypertonie vermieden werden, wenn bereits Endorganschäden bestehen oder die Hypertonie nicht kontrolliert ist. Bestehen keine Endorganschäden, profitiert gerade diese Personengruppen von moderatem Krafttraining. Schwieriger ist die Frage nach dem Training für manifest herzkranke Patienten. Personen mit chronischer, stabiler KHK sollen trainieren, benötigen jedoch vor Beginn jeglichen Trainings eine Risikoevaluation, ein langfristiges Follow-up und eine leitlinienkonforme Therapie. Patienten mit Herzinsuffizienz sollten nur nach sorgfältiger Abklärung trainieren, wenn sie sich in einem klinisch stabilen Zustand befinden. Ein individualisierter Trainingsplan soll verschrieben werden. Eine auf Training basierende kardiale Rehabilitation kann die Belastbarkeit und die Lebensqualität verbessern und wird daher für alle stabilen Patienten mit Herzinsuffizienz empfohlen. Sport ausserhalb solcher Trainingsprogramme ist nur für Patienten in NYHA Klasse I unter optimaler Therapie empfehlenswert. Ausdauersport mit hoher Intensität ist bei Herzinsuffizienz kontraindiziert. Die Leitlinien wurden im «European Heart Journal» online publiziert und stehen samt begleitenden Materialien auf der ESC-Website zum Download bereit unter: https://www. escardio.org/Guidelines/Clinical-Practice-Guidelines. s
Reno Barth
Quelle: Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 28. August bis 2. September 2020, virtuell.
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