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Neurobiomechanische Aspekte bei Schmerz
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Schmerzen und Gelenkschäden können als Antwort auf eine Entlastung durch Veränderung der neuromuskulären Plastizität der Muskulatur verstanden werden. Über die komplexen neurobiomechanischen Zusammenhänge sprach der Wissenschaftler Prof. Paul Hodges von der Queensland University, Australien.
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FORTBILDUNG SCHMERZ
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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV
Neurobiomechanische Aspekte bei Schmerz

Schmerzen und Gelenkschäden können als Antwort auf eine Entlastung durch Veränderung der neuromuskulären Plastizität der Muskulatur verstanden werden. Über die komplexen neurobiomechanischen Zusammenhänge sprach der Wissenschaftler Prof. Paul Hodges von der Queensland University, Australien.

M it grosser Spannung wurde der Beitrag von Prof. Paul Hodges, University of Queensland, Australien, erwartet. Hodges ist einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler im Bereich der Physiotherapie. Sein Interesse gilt der Erforschung der Beziehung zwischen Schmerz und Bewegungskontrolle und der Frage, warum sich die Bewegung unter Schmerz ändert. Schmerz hat nach Angaben von Paul Hodges eine biologische, soziale und psychologische Komponente (bio-psycho-soziales Modell). Wie sich die Komponenten gegenseitig beeinflussen und es zu Schmerz kommt, ist allerdings nicht bis ins Letzte wissenschaftlich erklärbar. Zwei bedeutsame Theorien haben sich bisher mit der Muskelaktivität bei Schmerzpatienten beschäftigt: Die Vicious-Cycle-Theorie, die davon ausgeht, dass sich die Muskelaktivität in einem stereotypischen Mass verstärkt, unabhängig von der Aufgabe der Muskulatur, und in einer Ischämie und damit Schmerz mündet. Ferner existiert die Pain-Adaptation-Theorie, die zuerst von Lund et al. initiiert wurde und von Paul Hodges weiter erforscht wird. Eine zentrale Prämisse dieser Theorie ist, dass sich die Verteilung von Aktivität in und zwischen den Muskeln bei Schmerz verändert. Experimentelle Studien zeigen beispielsweise, dass sich im Quadrizeps aktive Muskeleinheiten bei einem Schmerzreiz um wenige Grade in Richtung der schmerzfreien Zone bewegen. Diese muskuläre Dysbalance setzt sich fort, beispielsweise in Richtung der Rumpfmuskulatur: Die Bewegungen der Wirbelsäule verlaufen vermehrt en bloc, es kommt in der Folge zu einer Steifheit der Wirbelsäule und zu lumbalen Rückenschmerzen. Zum Schutz vor Schmerz werden die Armbewegungen reduziert. Diese Änderung im Bewegungsablauf dient demnach dem Schutz des Körpers vor weiteren Schmerzen und weiterem Schaden. Und das Zentralnervensystem (ZNS) scheint demnach ein Bewegungsmuster zu suchen, das weniger schmerzhaft ist. Im Gegensatz zur Vicious-Cycle-Theorie scheint das aber nicht nur eine stereotypische Bewegungsänderung zu sein, sondern es sind viele verschiedene Bewegungsmuster, was komplexe neuronale Prozesse voraussetzt. Wird ein funktionelles Mapping im zerebralen Cortex durchgeführt (Tsao Galea, Hodges 2008, Brain), sind nachweislich Reorganisationen in diesem Bereich zu erkennen. Kurzfristig, so Paul Hodges, kommt es im Rahmen dieser Schmerzadaptation zu einer Schmerzlinderung. Was sind allerdings die langfristigen Folgen für das Be-

Paul Hodges ist Professor an der University of Queensland, Australien. Als Doktor der Physiotherapie promovierte er zusätzlich in Neurowissenschaften.
wegungssystem? Welche negativen Konsequenzen hat beispielsweise die Adaptation auf das gesunde Gewebe? Hodges geht davon aus, dass das ZNS nur limitiert auf die geänderte Motorik antworten kann, da fortwährend Schmerzreize im ZNS eintreffen. Anscheinend ist dies der Grund, weshalb auch nach Wegfall des Schmerzreizes, beispielsweise nach einer analgetischen oder physiotherapeutischen Intervention, zwar der Schmerz entfällt, das falsch adaptierte Bewegungsmuster im Muskel aber beibehalten wird. Deshalb ist die Rückkehr ins oder die Persistenz des alten Schmerzmusters so häufig. Allein 73 Prozent der Personen mit akutem Rückschmerz erleiden innerhalb eines Jahres einen Rückfall. Allerdings sei wissenschaftlich unklar, was den Rückfall wirklich auslöse, so Paul Hodges. Ist der Rückfall mit einer mangelnden Schmerzadaptation zu begründen, oder ist es die mangelnde Kompensation des umliegenden Gewebes, die es eigentlich brauchen würde, um ins normale Bewegungsmuster zurückkehren zu können?
Körperschwankung und Körperhaltung Eine schlechte Haltung gilt als Risikofaktor für Rückenschmerzen. Dieser Zusammenhang ist jedoch sehr umstritten, da sich eine schlechte oder richtige Haltung nur schlecht definieren lassen. Auch unterscheiden sich rückenkranke und rückengesunde Patienten in der Haltung nicht. In einer vom Paraplegikerzentrum Nottwil initiierten Studie untersuchten Dr. André Ljutow, Schmerzmediziner und Leitender Arzt, und Dr. Wolfgang Schleinzer, Chefarzt Zentrum für Schmerzmedizin, die Bedeutung von Körperschwankung und Hal-

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SIG: PAIN, MIND AND MOVEMENT IV

Dr. André Ljutow, Schmerzmediziner und Leitender Arzt am Zentrum für Schmerzmedizin, Nottwil
tung in Bezug auf die Auswirkungen auf chronische, lumbale Rückenschmerzen (CLBP). Einbezogen wur-

den 50 Personen mit CLBP, verglichen mit 50 rückenge-

sunden Probanden. Die Messung der Wirbelsäule er-

folgte in einer 4-D-Wirbelsäulen- und Haltungsanalyse

(Diers Formetric 4D). Dabei wird (strahlungsfrei) ein

Liniengitter auf den Rücken projiziert, von der einge-

bauten Kamera ausgelesen und vom Computer ausge-

wertet. Gleichzeitig wurde der Fussabdruck auf einer

Kraftmessplatte gemessen.

Die Messung der Wirbelsäule erfolgte auf Höhe C7 und

L4 in posteriorer und anteriorer Richtung. Gemessen

wurde jeweils für 30 Sekunden mit geschlossenen und

geöffneten Augen des Probanden. Aufgrund unter-

schiedlicher Studien scheint die Störung der Propriozep-

tion durch Rückenschmerzen und damit einhergehend

die Störung der Haltungskorrektur durch Bewegungen

im Becken-Lenden-Bereich gesichert. Der «Ausfall»

drückt sich in einer vermehrten Schwankung des Kör-

pers in der antioren/posterioren Richtung aus. Allerdings

war diese Korrelation in der Studie nur schwach positiv,

und die Signifikanz wurde knapp unterschritten (Pear-

son-Korrelation: r = 0,306, p = 0,055).

Der Schmerzmediziner Ljutow fragte am Kongress, ob

es vielleicht noch Studien mit Subgruppen brauche.

Weitere Studien sind geplant.

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