Transkript
SCHWERPUNKT
Das Geburtsmanagement bei adipösen Patientinnen
Empfehlungen für den klinischen Alltag
Die peri- und besonders die intrapartale Betreuung von adipösen Schwangeren stellt eine zunehmende Herausforderung in der Schweiz und auch in den Nachbarländern dar. In der folgenden Übersicht werden wichtige Aspekte beschrieben, mit welchen sinnvolle und praxisrelevante Empfehlungen für den klinischen Alltag abgeleitet werden können.
MADLEINA MARIA MÜLLER, OLAV LAPAIRE
Madleina Maria Müller Olav Lapaire
Adipositas hat sich zu einem weltweiten Problem entwickelt und ist eine grosse Herausforderung für das gesamte Gesundheitssystem, besonders auch für die Geburtshilfe. Die Zahl der adipösen Personen in der Schweiz hat sich seit 1992 verdoppelt. 2017 waren etwa 42% der Erwachsenen in der Schweiz übergewichtig (BMI ≥ 25), davon waren 11% adipös (BMI ≥ 30). Männer sind deutlich häufiger übergewichtig als Frauen (Frauen 23%, Männer 39%); der Geschlechterunterschied bei Adipositas ist geringer, 10% der Frauen und 12% der Männer sind adipös. (1). Eine britische Studie zeigt, dass zwischen 1990 und 2004 die Anzahl der Schwangeren mit Adipositas ebenfalls signifikant zugenommen hat (2). Mit Adipositas nimmt das Risiko für einen komplizierten Verlauf der Schwangerschaft zu: Das Risiko für Gestationsdiabetes, schwangerschaftsassoziierte Hypertonie und für ein höheres fetales Geburtsgewicht steigt (3). Zudem ist das Risiko für einen intrauterinen Fruchttod (IUFT) und einen neonatalen Tod doppelt so hoch bei mütterlicher Adipositas im Vergleich zu Normalgewichtigen (4). Diese Risiken haben einen signifikanten Einfluss auf die peripartale Betreuung und das Management bei adipösen Schwangeren.
Vorbereitung auf die Geburt
Frauen mit Adipositas benötigen eine geeignete und adaptierte Ausstattung im Gebärsaal. Jede geburts-
hilfliche Klinik sollte sich deshalb mit diesem Thema auseinandersetzen und auch die Kriterien für einen Transfer an ein Zentrumsspital definieren. Die belastbare Einrichtung (z. B. Geburtsbetten, Operationstische) sollte für ein Gewicht von bis zu 250 kg zugelassen sein. Ebenfalls sollten die chirurgischen und anästhesiologischen Instrumente und Blutdruckmanschetten für ein erhöhtes Körpergewicht ausgelegt sein. Schwangere mit einem BMI ≥ 30 sollten über potenzielle technische Schwierigkeiten während der Geburt, über mögliche intra-/peripartale Komplikationen und über die Abläufe in diesen Fällen ausführlich antenatal aufgeklärt und beraten werden. Die Aufklärung sollte u.a. das erhöhte Risiko für eine Schulterdystokie, für eine instrumentelle Geburt und für eine postpartale Hämorrhagie beinhalten. Idealerweise wird bei einem BMI ≥ 40 antenatal zudem ein Behandlungsplan zusammen mit der Schwangeren und der Anästhesie erstellt, um technischen Problemen vorzubeugen. Zudem sollten ein Facharzt der Geburtshilfe sowie der Anästhesiologie während der Geburt unmittelbar verfügbar sein. Empfohlen wird, frühzeitig einen Epiduralkatheter anzulegen, um den durch die Adipositas technisch erschwerten Bedingungen der Punktion rasch zu begegnen und um im Falle einer sekundären Sectio die Anästhesie zügig einzuleiten (5).
Merkpunkte
I Adipositas stellt sowohl peri- als auch intrapartal eine technische Herausforderung dar.
I Beeinflusst wird das peripartale Management (Geburtseinleitung, Sectioindikation) vor allem durch die mit Adipositas assoziierten Risiken wie Gestationsdiabetes und fetale Makrosomie.
I Eine vaginale Geburt ist primär anzustreben, da bei Sectio ein grösseres Risiko für postpartale Komplikationen besteht.
Sectio oder vaginale Entbindung? Bezüglich der Frage nach dem besten Geburtsmodus bei adipösen Schwangeren müssen verschiedene Punkte beachtet werden: Das Risiko für eine Entbindung mittels Sectio oder vaginal operativen Modus ist durch die Adipositas erhöht, wie unter anderem eine Metaanalyse von Chu und Kollegen zeigte (6). Dabei ist das Risiko vor allem bei Nulliparen erhöht, insbesondere für eine sekundäre Sectio. In einer Analyse von über 24 000 Nulliparen wurde
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bei 42,6% der Frauen mit einem BMI ≥ 35 eine Sectio durchgeführt (7). Die nicht adjustierte Odds Ratio (OR) für adipöse Schwangere, welche mittels Sectio entbunden hatten, betrug 2,05 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,86– 2,27) bei einem BMI ≥ 30 und 2,89 (95%-KI: 2,28–3,79) bei einem BMI ≥ 35 im Vergleich zu normgewichtigen Schwangeren (8). Eine primäre Sectio wird jedoch aufgrund einer Adipositas nicht grundsätzlich empfohlen. Ebenfalls bei Status nach Sectio sollte man individuell abwägen und die Schwangere präpartal über die geringeren Erfolgschancen einer vaginalen Geburt sowie über deren mögliche Risiken aufklären. Die Sectio sollte wegen der erhöhten postoperativen Komplikationsrate insgesamt möglichst vermieden werden (5).
Geburtseinleitung bei Adipositas
Bei adipösen Erstgebärenden wird die Geburt häufiger eingeleitet als bei normalgewichtigen (9). Die adipösen Frauen gebären ebenfalls eher nach dem festgelegten Geburtstermin (10). Eine Übertragung erhöht bereits das Risiko für einen IUFT. Das IUFT-Risiko ist bei Übergewicht beziehungsweise Adipositas zusätzlich erhöht (11). Deshalb sollten Schwangere mit einem BMI ≥ 30 über das erhöhte IUFT-Risiko bei Terminüberschreitung aufgeklärt werden (5). Übergewicht und Adipositas sind zudem mit einem höheren Risiko für eine kindliche Makrosomie verbunden. Diese stellt ebenfalls einen möglichen Grund für eine Geburtseinleitung dar (12). Die Geburtseinleitung bei Verdacht auf fetale Makrosomie zwischen der 37. und 38. Schwangerschaftswoche (SSW) führt zu einem verringerten Kindsgewicht und einem verringerten Risiko für eine Schulterdystokie ohne Anstieg der Sectiorate. Nachteile der vorzeitigen Geburtseinleitung sind eine gehäufte neonatale Hyperbilirubinämie aufgrund des früheren Gestationsalter und eine Verdopplung des vorgeburtshilflichen stationären Aufenthalts (13). Zu beachten ist ebenfalls, dass die sonografische Gewichtsschätzung gerade bei Adipositas und makrosomen Feten häufig ungenau ist. In der Studie von Gibbs und Kollegen wurde gezeigt, dass nach einer elektiven Geburtseinleitung ab der 39. SSW bei adipösen Schwangeren das Risiko für eine Entbindung mittels Sectio insgesamt geringer ist. Ebenfalls ist die mütterliche Morbidität kleiner, und es werden weniger Kinder postnatal auf die neonatale Intensivpflegestation (IPS) verlegt (14). Zudem zeigt sich bei einer elektiven Sectio bei Frauen mit Adipositas von Grad III (BMI ≥ 40) keine Reduktion der mütterlichen oder neonatalen Morbidität, verglichen mit einer Geburtseinleitung (15). Jedoch verlaufen die Geburtseinleitungen bei Adipositas häufiger frustran. Peripartale Interventionen wie eine fetale Blutgasanalyse bei Verdacht auf feta-
len Distress sind bei adipösen Primigravidae gehäuft (9). Zurzeit kann nicht gesagt werden, welche Einleitungsmethode bei adipösen Frauen am erfolgreichsten ist. Adipositas ist jedoch mit dem Einsatz von hohen Dosen an Prostaglandinen während einer Geburtseinleitung assoziiert (16). Zur Wirksamkeit der Einleitung mit mechanischen Methoden (z. B. Ballon) gibt es hierzu noch wenig Daten. Es ist insgesamt also individuell abzuwägen, ob und zu welchem Zeitpunkt die Geburt bei einer adipösen Schwangeren eingeleitet werden soll. Bei zusätzlichen Risikofaktoren ausser der Adipositas ist es empfohlen, in der 39. SSW – nach sorgfältiger Beurteilung des Zustands – eine Einleitung zu diskutieren (5).
Geburtsverlauf
Bei Eintritt in den Gebärsaal wird geraten, direkt die Anästhesie zu informieren, damit bei einem BMI ≥ 40 frühzeitig eine PDA angelegt werden kann. Die Qualität der intrapartalen fetalen Überwachung mittels Kardiotokogramm (CTG) wird durch den höheren BMI negativ beeinflusst. Das Tokogramm wird durch die Adipositas nicht wesentlich beeinträchtigt (17). Ebenfalls ist die bei Verdacht auf fetalen Distress notwendige intrapartale Blutgasanalyse eine technische Herausforderung. Falls die fetale Überwachung aufgrund der Adipositas transabdominal nicht möglich ist, kann die Skalpelektrode eine mögliche Alternative sein. Übergewichtige Nulliparae zeigen häufig einen deutlich längeren Geburtsverlauf. Dieser kann durch den engeren Geburtskanal aufgrund der inneren Adipositas, eine assoziierte fetale Makrosomie und eine mögliche Einschränkung der Kontraktilität des Myometriums aufgrund von Cholesterinablagerungen bedingt sein (8). Um eine sekundäre Sectio bei Geburtsstillstand zu verhindern, wird bei adipösen Schwangeren eine längere Eröffnungsperiode befürwortet. Voraussetzung dafür ist die ausreichende und unauffällige fetale Überwachung. Jedoch wird in der Austreibungsphase bei fehlendem Tiefertreten des Kopfes oder wegen des erhöhten Risikos für eine Schulterdystokie insbesondere in Kombination mit einer fetalen Makrosomie und einer vaginal operativen Entbindung eher die Sectio gewählt (5).
Sectio Bei einer Sectio ist die Entwicklungszeit durch den erschwerten Zugang häufig verlängert; postoperativ ist das Risiko für Komplikationen wie Blutung oder Wundinfektionen erhöht (18). Die Adaptation der Subcutis (ab 2 cm Dicke) wird zur Verhinderung von Wundseromen empfohlen, ebenso kann die Anlage eines Wundverbands mit negativem Druck das Risiko für Wundkomplikationen senken (19). Grössere Studien zu dieser Therapie mit negativem Druck nach
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SCHWERPUNKT
Sectio fehlen, deshalb kann der klinische Nutzen ab-
schliessend nicht beurteilt werden. Es wird empfoh-
len, dass bei einem BMI > 35 ein niedriger, flacher
Querschnitt erfolgt, da dort die Subcutis auch bei
adipösen Frauen am dünnsten ist. Ein subumbilikaler
Zugang ermöglicht zwar einen schnelleren Zugang
zum Uterus, ist jedoch mit einer erhöhten Morbidität
verbunden. Die antibiotische Prophylaxe vor dem
Hautschnitt zur Reduktion postoperativer Infektionen
soll erfolgen; eine subkutane Drainage wird aber
nicht standardmässig empfohlen (5).
I
Dr. med. Madleina Maria Müller (Erstautorin, Korrespondenzadresse) E-Mail: MadleinaMaria.Mueller@usb.ch
Prof. Dr. med. Olav Lapaire Frauenklinik Universitätsspital Basel 4031 Basel
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Bundesamt für Statistik (10/2020): https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/ statistiken/gesundheit/determinanten/uebergewicht.html 2. Heslehurst N et al.: A nationally representative study of maternal obesity in England, UK: trends in incidence and demographic inequalities in 619 323 births, 1989–2007. Int J Obes. 2010; 34(3): 420–428. doi: 10.1038/ijo.2009.250. 3. Joy S et al.: The impact of maternal obesity on the incidence of adverse pregnancy outcomes in high-risk term pregnancies. Am J Perinatol. 2009; 26(5): 345–349. doi: 10.1055/s-0028-1110084. 4. Kristensen J et al.: Pre-pregnancy weight and the risk of stillbirth and neonatal death. BJOG. 2005; 112(4): 403–408. doi: 10.1111/j.1471-0528.2005.00437.x. 5. S3-Leitlinien. Adipositas und Schwangerschaft. AWMF-Registernummer 015–081. Stand Juni 2019.
6. Chu SY et al.: Maternal obesity and risk of cesarean delivery: a meta-analysis. Obes Rev. 2007; 8(5): 385–394. doi: 10.1111/j.1467-789X.2007.00397.x. 7. Dietz PM et al.: Population-based assessment of the risk of primary cesarean delivery due to excess prepregnancy weight among nulliparous women delivering term infants. Matern Child Health J. 2005; 9(3): 237–244. doi: 10.1007/s10995-0050003-9. 8. Marchi J et al.: Risks associated with obesity in pregnancy, for the mother and baby: a systematic review of reviews. World Obesity. 2015; 16(8): 621–638. doi: 10.1111/obr.12288. 9. O’Dwyer V et al.: Maternal obesity and induction of labor. Acta Obstet Gynecol Scand. 2013; 92(12): 1414–1418. doi: 10.1111/aogs.12263. 10. Kandil M et al.: Body mass index is linked to cervical length and duration of pregnancy: An observational study in low risk pregnancy. J Obstet Gynaecol. 2017; 37(1): 33–37. doi: 10.1080/01443615.2016.1205555. 11. Boulvain M et al.: Induction of labour at or near term for suspected fetal macrosomia. Cochrane Database Syst Rev. 2016; 22; 2016(5): CD000938. doi: 10.1002/14651858. CD000938.pub2. 12. Martin KE et al.: The influence of maternal BMI and gestational diabetes on pregnancy outcome. Diabetes Res Clin Pract. 2015; 108(3): 508–513. doi: 10.1016/ j.diabres.2014.12.015. 13. Boulvain M et al.: Induction of labor versus expectant management for largefor-date fetuses: a randomized controlled trial. Lancet. 2015; 27; 385(9987): 2600–2605. doi: 10.1016/ S0140-6736(14)61904-8. 14. Gibbs Pickens CM et al.: Term Elective Induction of Labor and Pregnancy Outcomes Among Obese Women and Their Offspring. Obstet Gynecol. 2018; 131(1): 12–22. doi: 10.1097/AOG.0000000000002408. 15. Subramaniam A et al.: Mode of delivery in women with class III obesity: planned cesarean compared with induction of labor. Am J Obstet Gynecol. 2014; 211(6): 700.e1–9. doi: 10.1016/j.ajog.2014.06.045. 16. Pevzner L et al.: Effects of maternal obesity on duration and outcomes of prostaglandin cervical ripening and labor induction. Obstet Gynecol. 2009; 114(6): 1315–1321. doi: 10.1097/ AOG.0b013e3181bfb39f. 17. Cohen WR et al.: Influence of maternal body mass index on accuracy and reliability of external fetal monitoring techniques. Acta Obstet Gynecol Scan. 2014; 93(6): 590–595. doi: 10.1111/aogs.12387. 18. Lim CC et al.: Obesity in pregnancy. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol. 2015; 29(3): 309–319. doi: 10.1016/j.bpobgyn.2014.10.008. 19. Yu L et al.: Prophylactic negative-pressure wound therapy after cesarean is associated with reduced risk of surgical site infection: a systematic review and meta-analysis. J Obstet Gynecol. 2018; 218(2): 200–210.e1. doi: 10.1016/j.ajog.2017.09.017.
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