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Fachveranstaltung der Epilepsie-Liga: Epilepsie und ihre «weniger bekannten Auswirkungen»
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Über die «weniger bekannten Auswirkungen von Epilepsie» wie eine beeinträchtigte kognitive Entwicklung bei Kindern oder die erhöhte Mortalität sprachen Schweizer Experten am Symposium der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie und dem Universitätsspital Basel.
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Fachveranstaltung der Epilepsie-Liga:
Epilepsie und ihre «weniger bekannten Auswirkungen»

FORTBILDUNG

Über die «weniger bekannten Auswirkungen von Epilepsie» wie eine beeinträchtigte kognitive Entwicklung bei Kindern oder die erhöhte Mortalität sprachen Schweizer Experten am Symposium der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie und dem Universitätsspital Basel.

Epilepsie und Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung von Kindern
I n der Schweiz leiden rund 15 000 Kinder unter behandlungsbedürftigen epileptischen Anfällen. Bei Kindern ist die frühe Abklärung und Behandlung besonders wichtig, damit die kindlichen Entwicklungsschritte nicht beeinträchtigt werden. Über den Zusammenhang von Epilepsie und Kognition bei Kindern sprach Prof. Peter Weber, Leitender Arzt der Neuro- und Entwicklungspädiatrie an der Universitäts-Kinderklinik beider Basel. Laut Definition der Internationalen Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy; ILAE) und des Internationalen Büros für Epilepsie (International Bureau for Epilepsy; IBE) ist eine Epilepsie definiert als eine «Störung des Gehirns, die durch eine dauerhafte Neigung zur Entwicklung epileptischer Anfälle sowie durch die neurobiologischen, kognitiven, psychologischen und sozialen Konsequenzen dieses Zustands gekennzeichnet ist. Die Definition einer Epilepsie setzt das Auftreten mindestens eines epileptischen Anfalls voraus.» Die Kognition wiederum umfasst reizverarbeitende und selbstreflexive Prozesse. «Wobei die Genetik und die Umwelt modifizierend wirken», so Prof. Weber. Bei Epilepsien sind Defizite in den Bereichen Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder Sprache häufig. Sie können bedingt sein durch mehrere Faktoren, wie die ursächliche Läsion, medikamentöse Nebeneffekte oder die interiktale Aktivität. Je nach Epilepsietyp treten auch häufig nächtliche Entladungen auf. Schlaf dient allerdings der Lernkonsolidierung. Wie ist Lernen also möglich, wenn nachts Anfälle auftreten? Zusätzlich gibt es weitere ursächliche Faktoren, die zur Lernbeeinträchtigung oder einem Lerneinbruch führen können. Prof. Peter Weber erklärte dies anhand eines Fallbeispiels: Eine siebenjährige Patientin erlitt einen plötzlichen Einbruch ihrer Schulleistungen. Das Mädchen hatte Redestörungen, litt unter häufigen Absencen. Die Neuropsychologie zeigte ein gestörtes figurales Gedächtnis und einen Rückgang der Lern- und Merkfähigkeit bei überdurchschnittlicher Intelligenz. In weiteren Untersuchungen konnte ein gutartiger Hirntumor entdeckt

und in toto reseziert werden. Die fokalen Anfälle verschwanden. Kognitiv erholte sich das Mädchen wieder. In Bezug auf die Medikation zeigt sich, dass Phenytoin und Phenobarbital zu einer stärkeren kognitiven Beeinträchtigung führen als Valproinsäure oder Carbamazepin. «Allerdings muss jede Substanz und jedes antiepileptische Medikament einzeln für sich betrachtet werden», so Prof. Weber. Auch zeigen Studien, dass die Polytherapie eher zu einer kognitiven Beeinträchtigung führt als die Monotherapie. Wobei zu beachten ist, dass die kognitive Beeinträchtigung assoziiert ist mit einem hohen Medikamentenspiegel. «Wenn die Müdigkeit und damit Lernleistung aufgrund der medikamentösen Therapie sehr eingeschränkt ist, sollte ein Medikamentenswitch in Betracht gezogen werden», sagte Prof. Weber. Einen wechselnden Einfluss auf die kognitive Situation haben auch die Anfallsaktivität, der Manifestationszeitpunkt und die Dauer des Bestehens der Erkrankung. Häufig scheinen die kognitiven Defizite wesentlich von epileptologisch prämorbiden Bedingungen abzuhängen, die sich im Verlauf der Epilepsie verstärken können. Interessanterweise fokussiert sich die elterliche Sorge mehr auf die kognitiven Störungen denn auf die Grunderkrankung. «Besonders die Lernstörungen verstärken die elterliche Sorge und erhöhen den elterlichen Stress», sagte Prof. Weber. Deshalb bedarf es einer detaillierten, individuumsbezogenen Diagnostik, um die kognitiven Ressourcen des Kindes abzuklären.
Epilepsie und Suizidalität Im Jahre 2008 führte die US-amerikanische Arzneibehörde FDA eine Standardwarnung für antiepileptische Medikamente (AED) ein, da die Auswertung einer Reihe von plazebokontrollierten Studien ergeben hatte, dass die Einnahme von Antiepileptika das Risiko von suizidalen Gedanken oder Selbstmordversuchen verdoppelt. «Der Warnhinweis entfachte eine heftige Diskussion unter Experten», sagte PD Dr. Ute Gschwandtner, assoziierte Ärztin der Abteilung für Klinische Neurophysiologie am Universitätsspital Basel, im Rahmen ihres Vortrags. In der Folge wurden Followup-Studien durchgeführt, die dieses Risiko genauer

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untersuchten. Es zeichneten sich insbesondere methodische Schwächen in den bisher durchgeführten Studien ab. «Was ein Suizid ist, wie dieser definiert ist, ging aus den Studien nicht hervor», so Dr. Gschwandtner. So war unklar, ob es sich um suizidale Gesten (appellativer Suizid), Suizidversuche oder das finale Beenden, den Suizid, handelte. Aus den nun folgenden Untersuchungen zeichnete sich ab, dass bei Patienten mit Epilepsie psychiatrische Komplikationen die häufigste Komorbidität sind, die zum Suizid führen. Und mit Abstand der wichtigste Risikofaktor sind Depressionen. Diese sind bei Epilepsie nicht nur häufig, sondern sie haben auch einen grossen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Alltagstauglichkeit der Patienten. Auch haben depressive Patienten ein sechsfach erhöhtes Risiko, später an Epilepsie zu erkranken, was auf eine mögliche ätiopathogenetische Gemeinsamkeit beider Erkrankungen hindeutet. Weitaus mehr Männer als Frauen nehmen sich das Leben. Sie suizidieren sich häufig mit brutalen Methoden wie Erschiessen und Erhängen. Frauen unternehmen hingegen 1,5-mal häufiger Suizidversuche als Männer. In der Mehrzahl werden Medikamente in Überdosierung genommen. Interessanterweise weisen neuere Studiendaten darauf hin, dass die Suizidalität auch nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff erhöht ist, «wobei der Bezug oder die Ursache unklar sind», so Dr. Gschwandtner. In Studien wurde – wie anfangs erwähnt – oftmals nicht differenziert in Suizidversuch, Geste oder Suizid, was die Auswertung erschwerte. Auch fielen die Daten in Abhängigkeit von der untersuchten Region sehr unterschiedlich aus. Daten von Bagerty 2011 wiesen beispielsweise auf eine erhebliche Erhöhung der Suizidalität im AED-Arm hin, besonders unter den neueren AED. «Andererseits zeigte die gleiche Studie, dass neue AED das Risiko auch senken», so Dr. Gschwandtner. Einzig bei Topiramat weist eine Odds Ratio von 2,9 darauf hin, dass das Risiko unter diesem AED steigt. Was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass Topiramat die Entwicklung einer Depression begünstigt und die exekutiven Funktionen einschränkt. «Bisher konnte aber keine Metaanalyse eine eindeutige Bestätigung der FDA-Befunde liefern, dass AED die Suizidalität erhöhen», so Dr. Gschwandtner. Dementsprechend liess das FDA die Warnung wieder entfernen. Eindeutig ist hingegen, dass psychiatrische Komorbiditäten wie eine Depression das Risiko erhöhen. Deshalb gilt es, Epilepsiepatienten auf ihre Suizidalität zu erfassen, aktiv nach Depressionen zu suchen und Behandlungsmassnahmen einzuleiten. Solch ein Behandlungsprogramm ist PEARLS. PEARLS (Depression treatment of Patients with Epilepsy, www.pearlsprogram.org) ist ein evidenzbasiertes US-amerikanisches Behandlungsprogramm für ältere Menschen mit Depression. Ein Behandlungsarm richtet sich speziell an ältere Menschen mit Depression und Epilepsie. «Das Programm führt zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität. Die Teilnehmer fühlen sich emotional und kognitiv nach der Teilnahme besser», so Dr. Gschwandtner. Während des Programms sind die Patienten online mit dem Therapeuten verbunden. Dieser erklärt Copingstrategien oder/und unterstützt bei der medikamentö-

sen Behandlung. Auch hält er zur körperlichen Bewegung an. «PEARLS zeigt, dass insbesondere die Empathie und Aufmerksamkeit des Arztes entscheidend dazu beitragen können, ob die Depression zurückgeht oder nicht», erklärte Dr. Gschwandtner abschliessend. Und durch eine adäquate Behandlung der Depression sinkt auch das Risiko für einen Suizid.
Epilepsie und Mortalität Die Sterberate für Epilepsiepatienten ist allgemein erhöht, wobei dieser Effekt vor allem durch Patienten mit pharmakoresistenter Epilepsie verursacht wird. Anfallsfreie Patienten ohne gravierendes Grundleiden weisen demgegenüber kein erhöhtes Sterberisiko auf. «Am höchsten ist das Risiko, an einem SUDEP zu versterben, vor Unfällen», erklärte PD Dr. Stephan Rüegg, Leiter des EEG-Labors am Universitätsspital Basel. SUDEP steht für Sudden Unexpected Death in Epilepsy und ist ein Rätsel in der Epilepsiebehandlung. Mit 6 bis 9 Todesfällen/1000 Patientenjahren ist der SUDEP insbesondere bei therapierefraktären Patienten erhöht. 60 bis 70 Todesfälle gehen in der Schweiz jährlich allein auf einen SUDEP zurück. Meist tritt der plötzliche Tod im Alter zwischen 15 und 30 Jahren ein. Die Betroffenen versterben zu Hause – im Bett liegend. Gewisse Risikofaktoren für einen SUDEP sind bereits bekannt. So ist das Risiko erhöht bei vielen generalisierten Anfällen, Medikamenten-Malcompliance und männlichem Geschlecht. Unklar ist aber weiterhin der Pathomechanismus. Es wird ein komplexes Zusammenspiel zwischen genetischen, pulmonalen, kardialen und Behandlungsfaktoren sowie einem unmittelbar dem SUDEP vorausgehenden (generalisierten tonisch-klonischen) epileptischen Anfall mit nachfolgender «electrocerebral silence» (komplette EEG-Nullinie für Sekunden bis Minuten nach einem generalisierten Anfall) angenommen. Letzteres ist ein bis anhin pathophysiologisch nicht geklärtes Phänomen. Dramatische Sauerstoff-Sättigungsabfälle bis auf 70 Prozent und weniger innerhalb von zwei bis drei Minuten selbst während partiell-komplexer Anfälle sind inzwischen gut bekannt und kommen bei etwa einem Siebtel der Patienten vor. Eher selten verlaufen durch einen epileptischen Anfall zerebral getriggerte Arrhythmien letal; so kommen (meist überlebte) Asystolien bei 0,2 bis 0,4 Prozent der pharmakoresistenten Patienten vor. Bis anhin ist umstritten, ob Antiepileptika einen SUDEP zu triggern vermögen. Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) wiederum scheinen in Tiermodellen vor einem SUDEP zu schützen, wobei Experten sich uneins sind, ob man SSRI deshalb präventiv bei Epilepsiepatienten einsetzen soll. «Aber auch eine mögliche Anfallsfreiheit oder zumindest die Unterdrückung tonisch-klonischer Anfälle durch Antiepiletika wirken präventiv und verringern das SUDEP-Risiko auf einen Siebtel», so Dr. Rüegg. Diskutiert werden auch nächtliche Überwachungssysteme, wie Pulsoxymeter, bewegungsmeldende Matratzen oder Überwachungskameras mit Infrarotlicht, wobei fraglich ist, ob diese eine stressfreie Nachtruhe überhaupt zulassen und der Aufwand für Familien nicht zu hoch ist. Nach dem SUDEP sind Unfälle für eine erhöhte Mortalität verantwortlich: Epilepsiepatienten stürzen häufi-

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ger, sie erleiden dadurch schwere Gehirnerschütterungen und/oder Wunden. Weil gewisse Antiepileptika die Knochenmasse negativ beeinflussen, woraus eine Osteoporose resultieren kann, erleiden Epileptiker bei Stürzen auch häufiger schwere Knochenbrüche. Besonders unglücklich sind anfallsbedingte Verbrennungen und tragisch verlaufende (Ertrinkungs-)Unfälle bei Epilepsiepatienten, so Dr. Rüegg. Die meisten Ertrinkungsunfälle ereignen

sich in der eigenen Wohnung, wenn insbesondere

kleine Kinder mit Epilepsie unbeaufsichtigt in der Ba-

dewanne baden.

Annegret Czernotta

Quelle: «Weniger bekannte Auswirkungen von Epilepsie», Fachveranstaltung der Epilepsie-Liga in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Basel, 16. August 2012, Basel.

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