Transkript
FORTBILDUNG
Traumerleben und Trauminhalt im Schlaf
Serge Brand
4/2012
Der Traum ist die psychische Aktivität während des Schlafens. Kultur- und epochenunabhängig haben das Traumerleben und die Interpretation des Traumes Faszination ausgelöst und zu Spekulationen Anlass gegeben. Neuere Studien zum Traum zeigen auf, dass das Traumerleben und der Trauminhalt von einer Reihe verschiedenster Faktoren abhängen wie Alter oder Geschlecht.
Serge Brand
T raum und Trauminhalt werden mit den lebhaften und seltsamen Erfahrungen während des Nachtschlafs gleichgesetzt. Während in früheren Epochen und Kulturen der Traum als Botschaft der Götter interpretiert wurde (1), erfuhr die Traumdeutung mit Sigmund Freud einen Paradigmenwechsel: Das Deuten der Träume wurde als Königsweg, als Via Regia, zum Unterbewusstsein betrachtet (2); das Träumen habe – so die Ansicht tiefenpsychologischer Richtungen – die Aufgabe, unbewussten Anteilen unserer Psyche eine Möglichkeit des Erlebens zu geben. Neuere Konzepte zum Trauminhalt und zur Traumdeutung umschreiben den Traum als subjektive Erfahrung, die während des Schlafens auftritt. Hierbei stehen komplexe, Zeit, Raum und Personen vermengende und verzerrende Handlungen und Bilder im Vordergrund (3). Die dabei stattfindenden kognitiven Prozesse scheinen die «current concerns» widerzuspiegeln; mit «current concerns» sind Themen gemeint, die den Schlafenden tagsüber im Wachzustand am meisten beschäftigen. Experimentelle Untersuchungen weisen zudem darauf hin, dass das Träumen Stimmungen zu regulieren vermag (4) und zum Lösen von Problemen hilfreich sein kann (5). Aus einer Fülle von Untersuchungen bei Erwachsenen wurden zudem folgende Resultate gefunden: 1. Frauen erinnern sich gegenüber Männern besser an
ihre Träume. Dieser Geschlechtsunterschied wird einerseits auf ein vermehrtes Interesse der Frauen an den Trauminhalten zurückgeführt. Andererseits scheinen Frauen gegenüber Männern nachts häufiger zu erwachen, was die Häufigkeit der Erinnerung an Träume erhöht (6). 2. Nicht nur die kognitiv-emotionalen Prozesse des Tages haben einen Einfluss auf den Trauminhalt, auch der umgekehrte Fall wird beobachtet: Der Trauminhalt und die damit verbundenen Gefühle können die Stimmung am folgenden Tag beeinflussen (7). 3. Sich häufiger an die Träume zu erinnern, scheint auch an gewisse Persönlichkeitsmerkmale wie Kreativität (8), Neurotizismus und «dünne Grenzen» (erhöhte Sensibilität und Verletzbarkeit; unkonventio-
nelle oder schwierige Beziehungsgestaltung) gebunden zu sein.
Der Traum bei Jugendlichen Wovon träumen Jugendliche? Nielsen et al. (2003) (9) untersuchten den Trauminhalt von 1348 kanadischen Studierenden und fanden folgende fünf sich wiederholende Themen: verfolgt werden; in die Tiefe fallen; sexuelle Erfahrungen machen; Schule, Lehrkräfte, Aufgaben; zu spät kommen. Das Resultatemuster kann in zwei Richtungen interpretiert werden: 1. Der REM-Schlaf («Traumschlaf») hat phylogenetisch
betrachtet die Aufgabe, den Organismus optimal und maximal auf das Überleben (Flucht, Sturz, Fortpflanzung) vorzubereiten. 2. In Anlehnung an die Kontinuitätshypothese von Schredl wird im Traum weiterverarbeitet, was die Jugendlichen tagsüber kognitiv und emotional am meisten beschäftigt (sexuelle Erfahrungen machen; in der Schule, im «Job» erfolgreich sein und genügen). In der Folge wurde dieses Resultatemuster von DeCicco (2007) (10) repliziert, was ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass es sich bei den Studien nicht um Zufallsbefunde handelt. Dass der Umgang mit dem Trauminhalt kulturabhängig ist, zeigte eine neuere Studie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten: Salem et al. (2009) (11) befragten rund 350 Studierende (Durchschnittsalter: 21,4 Jahre) zu ihren Träumen und fanden im Einklang mit den aktuellen kulturellen und religiösen Vorstellungen, dass die Befragten den Inhalt und die «Botschaft» der Träume sehr ernst nahmen. Geschlechtsunabhängig wurde die «Botschaft» des Traums vor allem dann herangezogen, wenn es darum ging, wichtige Entscheidungen im Alltag zu Studium, Zukunftsplanung, Beziehungen oder teuren Anschaffungen zu fällen. Die Autoren waren zudem der Ansicht, dass in der Vorstellung der Befragten der Traum und der Trauminhalt durch «höhere» Instanzen mit beeinflusst und weniger durch die eigenen kognitiv-emotionalen Prozesse generiert würden. Dieses Interpretationsmuster stand in klarem Kontrast zu einer von King und DeCicco 2009 veröffentlichten
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FORTBILDUNG
Studie aus Kanada (12): Die 197 befragten Collegestudenten (rund 22 Jahre alt) gaben zwar – wie bei den Teilnehmenden aus den Vereinigten Arabischen Emiraten – an, dass der Traum und die «Traumbotschaft» bei wichtigeren Entscheidungen im Alltag und in der Beziehungsgestaltung herangezogen würden. Allerdings waren sie auch der Ansicht, dass sie selbst die eigenen Träume generierten, der Traum also nicht von «höheren Instanzen» dem Schlafenden eingeflösst werde. In einer eigenen Studie haben wir rund 5580 Jugendliche zu den Themen Traum, Schlaf und Persönlichkeit befragt (13). Hierbei zeigte sich ganz im Einklang mit Studien im Erwachsenenalter, dass sich jugendliche Frauen gegenüber jugendlichen Männern viel häufiger und besser an die eigenen Träume erinnern konnten. Zudem erinnerten sich jene Adoleszente häufiger und intensiver an Träume, die sich selbst als kreativ einschätzten und zum Beispiel sehr gut anhand visueller Darstellungen lernen konnten. Schliesslich gaben auch vor allem weibliche kreative Teilnehmende an, dass der Trauminhalt und die mit dem Traum verbundenen Gefühle die Stimmung am folgenden Tag massgeblich beeinflussten.
Träume im Lauf des Lebens Ändern sich Traumerinnerungshäufigkeit und Traumthemen im Lauf des Lebens? Nielsen (14) hat hierzu 28 888 Teilnehmende im Alter von 10 bis 79 Jahren befragt und Folgendes festgehalten: Das Traumerinnern nimmt im Lauf der Adoleszenz bis ins frühe Erwachsenenalter zu und nimmt dann ab dem 30. Lebensjahr kontinuierlich ab. Hierbei zeigte sich die Abnahme bei Männern früher als bei Frauen. Die Anzahl der Traumthemen nahm ebenfalls von der Adoleszenz bis ins frühe Erwachsenenalter zu, um dann bis zum 60. Lebensjahr kontinuierlich und danach rasch abzunehmen. Nielsen erklärt sich die Veränderungen in der Traumerinnerungshäufigkeit und den Traumthemen mit den parallel stattfindenden Veränderungen in der Schlafstruktur wie geringere Schlafdauer, Fehlen des Tiefschlafs, Verringerung des sogenannten «Traumschlafs» (REM-Schlaf ) sowie mit den Veränderungen
der Gedächtnisleistungen (zum Beispiel quantitative
und qualitative Einbussen des autobiografischen Ge-
dächtnisses).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die
Erinnerung an den Trauminhalt vor allem mit folgen-
den Faktoren assoziiert sind: weibliches Geschlecht,
kreative Persönlichkeitsmerkmale, kulturelle und religi-
öse Anschauungen, die «current concerns» sowie Ver-
änderungen im Lauf des Lebens.
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Korrespondenzadresse:
PD Dr. phil. Serge Brand
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Zentrum für Affektive, Stress- und Schlafstörungen (ZASS)
Wilhelm Klein-Strasse 27
4012 Basel
E-Mail: Serge.Brand@upkbs.ch
Literatur:
1. Palagini L, Rosenlicht N.: Sleep, dreaming, and mental health: A review of historical and neurobiological perspectives. Sleep Med Rev 2011; 15: 179–86.
2. Freud S:. Die Traumdeutung. 1990. Fischer, Frankfurt a.M. 2005, 13. Auflage.
3. Schredl M.: Characteristics and contents of dreams. In: Clow A, McNamara P, eds. International Review of Neurobiology 2010; 92: 135–154.
4. Hartmann E.: Outline for a theory on the nature and functions of dreaming. Dreaming 1996; 6: 147–170.
5. Cartwright R.: The contribution of the psychology of sleep and dreaming to understanding sleep-disordered patients. Sleep Med Clinics 2008; 3: 157–166.
6. Schredl M.: Explaining the gender difference in dream recall frequency. Dreaming 2010; 20: 96–106.
7. Schredl M.: The effect of dreams on waking life. Sleep Hypn 2000; 2: 120–124.
8. Schechter N, Schmeidler GR, Staal M. Dream reports and creative tendencies in students of arts, sciences and engeneering. J Consulting Psychol 1965; 29: 415–421.
9. Nielsen TA, Zadra AL, Simard V et al.: The typical dreams of Canadian university students. Dreaming 2003; 13: 211–235.
10. DeCicco TL.: Dreams of female university students: Content analysis and the relationship to discovery via the Ullman method. Dreaming 2007; 17: 98–112.
11. Salem M, Ragab MA, Razik AYA.: Significance of dreams among United Arab Emirates university students. Int J Dream Res 2009; 2: 29.
12. King DB, DeCicco TL.: Dream relevance and the continuity hypothesis. Dreaming 2009; 19: 207–217.
13. Brand S, Beck J, Kalak N, Gerber M, Kirov R, Pühse U, Hatzinger M, Holsboer-Trachsler E.: Dream recall and its relationship to sleep, perceived stress and creativity among adolescents. Journal of Adolescent Health 2011; 49, 525–531.
14. Nielsen T.: Variations in dream recall frequency and dream theme diversity by age and sex. Frontiers in Neurology 2012; 3: 1–11.
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