Transkript
KONGRESSBERICHT
Deutsches Forum für Sucht, Kassel
Neue Fortschritte in der Substitutionstherapie
Unter dem Motto «Schnittstellen in der Suchttherapie» besuchten rund 200 Teilnehmer das 2. Forum für Sucht in Kassel. Ärzte, Apotheker, Assistenzpersonal, Sozialarbeiter, Psychologen und weitere Interessierte diskutierten intensiv an der interaktiven Weiterbildung.
Annegret Czernotta
N eben der Bekämpfung der Drogenabhängigkeit wächst die Bedeutung der beruflichen und sozialen Integration von Heroinabhängigen. Am Satellitensymposium «Lebensqualität in der Substitutionstherapie – von Anfang an» wurden aktuelle Studiendaten zur Verbesserung der Lebensqualität unter Suboxone® vorgestellt. Suboxone ist die Kombination von Buprenorphin und Naloxon zur Behandlung einer manifesten Opiatabhängigkeit. Bei sachgerechter, das heisst sublingualer Anwendung wirkt nur Buprenorphin. Der Patient bleibt handlungsfähig, und im Vergleich zu Methadon treten selbst nach zwei Einnahmetagen keine dysphorischen Gefühle auf. Naloxon erschwert die nicht sachgerechte Anwendung (nasal, intravenös). Bei intravenöser Injektion wird der First-Pass-Effekt in der Leber umgangen, und Naloxon wird als Opiatantagonist wirksam. Naloxon löst bei missbräuchlicher Anwendung deshalb kurzzeitig Entzugssymptome aus. 2007 wurde die Kombination von Buprenorphin und Naloxon erstmals in Deutschland zur Substitution eingeführt. In den skandinavischen Leitlinien ist sie bereits Mittel erster Wahl in der Substitutionsbehandlung. In der Schweiz hat das Kombipräparat die Aufnahme in die Spezialitätenliste bisher nicht geschafft.
Ziele der Behandlung Neben den vordringlichen Zielen, das heisst der Behandlung der Drogenabhängigkeit und damit der Verminderung der Beschaffungskriminalität, der Obdachlosigkeit und Prostitution, tritt die Resozialisierung immer mehr in den Vordergrund. «Einer beruflichen Tätigkeit nachkommen, diese langfristig behalten und den Kontakt zur Familie wiederherstellen, sind heute weitere, wichtige Ziele in der Behandlung von Drogenabhängigen», sagte Dr. Claus Schubert, Leiter der Substitutionsambulanz Gelnhausen (D). Der Arzt und Suchtmediziner
betreut rund 115 Patienten in der Substitutionstherapie, wovon 75 bis 80 Prozent einer Arbeit nachgehen. In der Substitution werden in Deutschland in der Regel Methadon, Buprenorphin oder Buprenorphin und Naloxon eingesetzt. Nach Dr. Schuberts Ansicht ist zu beachten, dass Vorund Nachteile der Wirkung dieser Substitutionsmittel dem Patienten gut erklärt werden. Beispielsweise müsse der Patient wissen, dass unter Buprenorphin keine Opiat-EntzugsErscheinungen auftreten und der Kopf frei ist. «Das mögen nicht alle Patienten», so Dr. Schubert. «Die Compliance ist aber höher, wenn die Patienten sich selber bewusst für dieses Medikament entschieden haben.» Der Mediziner hat gute Erfahrungen damit gemacht, dass die Patienten im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen die weiteren Therapieziele selber festlegen. Daten einer deutschen Beobachtungsstudie, die von Dr. Klaus Weckbecker, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin in Bonn, vorgestellt wurden, zeigen, dass sich unter der Einnahme von Suboxone der Suchtdruck und Entzugserscheinungen rasch stabilisieren lassen und der Beikonsum (Alkohol, Tabletten etc.) signifikant abnimmt. «Die Studie ist deshalb so wertvoll, weil es im Bereich Suchtmedizin kaum Untersuchungen gibt», hielt Dr. Weckbecker fest. Der Allgemeinmediziner betreut selbst rund 75 Patienten in Substitution. Die Beobachtungsstudie belegt, dass sich die Suchtkranken unter der Kombination lange in Behandlung begeben und die Medikamente auch korrekt einnehmen: Bei 76 Prozent der Patienten verbessert sich die familiäre Situation, und rund 82 Prozent konnten ihre berufliche Situation verbessern. Der Bonner Mediziner setzt im Entzug vermehrt auf die Kombination von Buprenorphin und Naloxon statt Methadon alleine. Allerdings ist Dr. Weckbecker überzeugt, dass «wir eine Palette an Medikamenten brauchen, um
Kasten 1:
Vordringliche Ziele der Behandlung
● Wegkommen von allen Drogen ● Keine gefährliche Einnahme (i.v.) ● Keine Abszesse und Infektionen
mehr ● Weg von der Beschaffungskrimina-
lität ● Wegkommen von der Prostitution ● Keine Obdachlosigkeit mehr
Kasten 2:
Weitere Ziele der Behandlung:
● Arbeit finden und behalten ● Kontakt zur eigenen Familie
wiederherstellen ● Eigene Wohnung ● Leben ohne Drogen und Alkohol ● Behandlung von Hepatitis, HIV,
Aids
Kasten 3:
Ziele, die der Patient selber definiert
● Patienten können selbst über den Verlauf und den Erfolg der Behandlung mitentscheiden, beispielsweise beim Beigebrauch. – Was tue ich, um das in Zukunft zu verhindern? – Was tue ich, wenn es doch wieder vorkommt?
● Hohe Akzeptanz, da der Patient die weiteren Schritte selbst definiert, wie zum Beispiel Teilentgiftung.
die beste Substitutionstherapie zu finden». Nach der ersten Therapiewoche sollte der Arzt beispielsweise in einem Gespräch den Therapiefortschritt von Suboxone evaluieren. Zeigt sich, dass der Patient nicht von der hohen Vigilanz profitiert, kann er die Therapie auf das dämpfende Methadon umstellen. Die Umstellung ist problemlos, es kommt zu keinem Entzug, weil sich Buprenorphin nur langsam von
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KONGRESSBERICHT
den Rezeptoren löst und Methadon nach und
nach die Rezeptorbindung übernimmt.
Die Bedeutung der Substitutionstherapie
unterstrich er zuletzt mit den Worten, dass «die
Substitution eine Behandlung ist, die Leben
rettet, und zwar jenes von jungen Menschen».
In der Schweiz konsumieren rund 50 000 Men-
schen Heroin. Von diesen sind rund 18 000 in
Behandlung mit einem Substitut, rund 1300
Personen erhalten in der Schweiz Heroin unter
ärztlicher Aufsicht.
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Annegret Czernotta
Quelle: Deutsches Forum für Sucht, 30.–31. März 2012, Kassel.
Die Firma Reckitt Benckiser ermöglichte die Kongressteilnahme; auf die Berichterstattung hatte sie keinen Einfluss.
Weitere Informationen zum Thema Sucht
Mit dem Ziel, hochwertige Informationen zur Heroin- und Opioidabhängigkeit bereitzustellen, haben sich führende europäische Usergruppen und Behandlungsorganisationen – unter anderen JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) aus Deutschland, ASUD (Auto Support des Usagers de Drogues) aus Frankreich oder FeDerSerD (Federazione Italiana degli Operatori dei Dipartimenti e dei Servizi delle Dipendenze) aus Italien – zusammengeschlossen und die Website «Meine Behandlung, Meine Wahl» ins Leben gerufen. Internet: www.mytreatmentmychoice.eu. Die Website bietet ausführliche Auskünfte zur Definition von Sucht, zu den verschiedenen Behandlungsoptionen, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen in Europa. In Videos kommen Süchtige und Angehörige mit ihren eigenen Erfahrungsberichten zu Wort.
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