Transkript
SCHWERPUNKT
Guidelines in der Praxis
Wichtig ist eine ausgewogene Synthese von evidenzbasierter Medizin, eigener Erfahrung und Praxisrelevanz
In der ärztlichen Arbeit geht es im Kern um den Umgang mit Ungewissheit. Konkret vorhergesehen werden können Verläufe nur dort, wo Ursache und Wirkung klar sind – was bei vielen Patienten nicht der Fall ist. Individualistische Konzepte der ärztlichen Arbeit nach dem Motto «jeder Patient ist einzigartig» sind deshalb tief verwurzelt. Trotzdem können Guidelines, wenn sie der Situation in der Praxis gerecht werden, eine wertvolle Hilfe sein. Von besonderer Bedeutung sind hierbei ärztliche Qualitätszirkel.
Von Peter Berchtold, Christof Schmitz und Joachim Maier
Viele Guidelines werden aus Angst vor einer vermeintlichen «Kochbuch-Medizin» zu wenig angewendet.
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Eine grundlegende Herausforderung der Anwendung von Guidelines ist, dass verschiedene Formen der Medizin und des ärztlichen Handelns aufeinander stossen. Denn die Medizin – ob in der Hausarztpraxis oder im Spital – ist eine besondere Art «Geschäft», eines, für das die Sonderform der Profession* erfunden wurde. Professionen sind dort relevant, wo es um die Bewältigung von «Krisen» geht. Im Fall der Medizin sind das Krisen der somato-psycho-sozialen Integrität. Bei Krisen dieser Art kann nicht – und das ist das eigentlich Besondere an der Medizin – auch nur annähernd genau vorhergesehen oder sogar berechnet werden, ob und wie eine medizinische Massnahme wirken wird, denn Patienten sind lebendige und damit auch unberechenbare Systeme. «In medicine, uncertainty is the water we swim in» umschreibt die Grundthematik der Medizin in eindrücklicher Weise (1, 2). Diese Grundthematik durchdringt alle Dimensionen der Medizin und des ärztlichen Handelns und ist folgen- wie auch konfliktreich.
Über den Umgang mit der Ungewissheit
Die Ungewissheit in der ärztlichen Arbeit besteht darin, dass nur begrenzt vorhergesehen werden kann, welchen genauen Verlauf eine konkrete Krankengeschichte nehmen wird, ob die diagnostische Abklärung zur genauen Diagnose führt und welche genauen Wirkungen (und Nebenwirkungen) eine bestimmte ärztliche Massnahme haben wird (3).
*Als Profession wird ein Beruf mit hohem Prestige betrachtet, der vor allem wegen der Herausforderung, oft im Sinne einer «Berufung», ausgeübt wird. Typisch für Professionen sind Standesorganisationen, berufsspezfische ethische Regeln sowie eine gewisse Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit. Zu den klassischen Professionen gehören Berufe wie Arzt, Jurist oder Geistlicher.
Konkret vorhergesehen werden können Verläufe nur dort, wo Ursache und Wirkung klar zuordenbar sind (z.B. Insulinmangel bei Diabetes), weder Komorbiditäten vorliegen noch unerwartet Nebenwirkungen auftauchen und die Patienten sich entsprechend den ärztlichen Vorstellungen verhalten. In solchen Situationen fördern Guidelines und Patientenpfade, welche im Grundsatz Standardisierungen von Vorhersehbarem sind, Qualität und Sicherheit der ärztlichen Behandlung. Wenn hingegen Ungewissheit dominiert (z.B. bei komplexen Krankheitsbildern, multimorbiden Patienten oder unerwarteten Komplikationen), kann das Befolgen standardisierter Vorgaben nur noch sehr bedingt gelingen und für Patienten sogar gefährlich sein. Ärztinnen und Ärzte lernen deshalb früh in ihrer Ausund Weiterbildung, mit dieser Ungewissheit umzugehen und zwischen Lehrbuchwissen und konkreten Patienten, zwischen explizitem Wissen und impliziter Erfahrung sowie zwischen wissenschaftlicher Legitimation und ärztlicher Intuition hin und her zu pendeln. Individualistische Konzepte der ärztlichen Arbeit nach dem Motto «jeder Patient ist einzigartig» sind deshalb tief verwurzelt (4). Individualistische Konzepte vertragen sich grundsätzlich schlecht mit Systematisierung und Standardisierung. Das ist die eigentliche Schwierigkeit, um die es bei der Einführung und Anwendung von Guidelines in der ärztlichen Arbeit geht. Diese Schwierigkeit darf jedoch nicht als «entweder-oder», als «immer einzigartig vs. immer standardisiert» missverstanden werden. Die Herausforderung besteht vor allem darin, dass bei derselben Krankheit und demselben Patienten häufig hin und her zu pendeln ist zwischen Klarheit und Ungewissheit oder zwischen «externer» wissenschaftlicher Evidenz und «interner» Evidenz der persönlichen Erfahrung (5).
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SCHWERPUNKT
Grosse Teile der Medizin sind nicht systematisierbar, weil die Variabilität und Interdependenzen der medizinischen Interventionen zu gross und zu komplex sind.
Wenn zu stark auf die Anwendung expliziten Wissens aus der Wissenschaft gepocht wird, fehlt die notwendige Verknüpfung mit implizitem Wissen.
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Evidenzbasierte Medizin und Guidelines
Evidenzbasierte Medizin (EBM) will mit biostatistischen und epidemiologischen Studien und auf wissenschaftlicher Grundlage (zu) grosse Variabilität und unsichere Qualität der Patientenbehandlung sowie ausufernde Kosten verhindern. EBM meint eine «gewissenhafte, explizite und vernünftige Anwendung der besten medizinischen Informationen in der täglichen klinischen Entscheidungsfindung», nicht in Konkurrenz, sondern in Kombination mit der klinischen Kompetenz (6). Durch mit wissenschaftlicher Evidenz unterlegter Standardisierung sollen Ungewissheit reduziert, Prozesse effizienter gestaltet und gemanagt und Fehler vermieden werden. Im klinischen Alltag wird EBM heute bei vielen akuten und chronischen Krankheiten in Form von Behandlungsleitlinien oder Guidelines angewandt, die einzelne Diagnose- und Therapieschritte bis hin zu ganzen Behandlungsphasen empfehlen. Evidenzbasierte Guidelines verstehen sich als «systematisch entwickelte Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung von Ärzten, anderen im Gesundheitssystem tätigen Personen und Patienten mit dem Ziel einer angemessenen, gesundheitsbezogenen Versorgung in spezifischen klinischen Situationen» (7). Tritt während einer guidelinegestützten Patientenbetreuung Unvorhergesehenes – beispielsweise Komplikationen oder Nebenwirkungen – auf, oder äussert der Patient anderslautende Präferenzen, sind Abweichungen zulässig, sollen aber begründet werden. Guidelines wollen nicht vorschreiben, sondern mit wissenschaftlichen Erkenntnissen valide Orientierungen für den klinischen Alltag geben. EBM war und ist einer der grossen Fortschrittsgeneratoren der Medizin und ermöglicht eine Alternative zum «eminenzbasierten» System des traditionellen ärztlichen Handelns. Und gleichzeitig steht die in den Guidelines festgelegte Standardisierung von Diagnose und Therapie häufig in Konflikt mit den Prämissen einer patientenorientierten, auf das Individuum bezogenen Behandlung. Dieses Spannungsfeld zwischen Individualität der Patienten und statistisch definierter Evidenz ist Quelle vieler Auseinandersetzungen innerhalb der ärztlichen Profession. Die Folge ist, dass viele Guidelines, gestützt auf die Begründung, keine «Kochbuch-Medizin» betreiben zu wollen, wenig oder ungenügend Anwendung finden (8). Für eine evidenzbasierte und dem individuellen Patienten angepasste Behandlung ist nicht nur «explizites» Wissen (z.B. durch eine Guideline) notwendig, sondern ebenso «implizites» Wissen, das heisst die Erfahrung einzelner Ärzte und jene, die kollektiv (z.B. in Qualitätszirkeln) zusammengetragen wird (9). Damit Evidenz in ausreichendem Ausmass in die Patientenbehandlung einfliessen kann, sind nicht nur exogen wirkende Implementierungsmassnahmen notwendig (wie z.B. Onlinezugriff auf Guidelines, Remindersysteme oder finanzielle Anreize), sondern auch Massnahmen, welche Guidelines im lokalen Kontext eines Ärztenetzes beziehungsweise einer Hausarztpraxis verankern helfen. Das ist deshalb eine grosse Herausforderung, weil
das Gros der publizierten Guidelines heute (noch) aus einer monodisziplinären Sichtweise (einer bestimmten Fachgesellschaft) und für Patienten mit eben dieser einen Krankheit entwickelt wird. Solche Guidelines sind in der Hausarztmedizin mit den vielen multimorbiden Patienten und primär unklaren Symptomenbildern vielfach von geringem Nutzen (10). Ein wirksames Implementieren von Guidelines heisst auch, dass sich die beteiligten Ärzte mit den Empfehlungen der Guidelines identifizieren sollten, diese als die ihren betrachten und aus deren Anwendung einen professionellen Nutzen ziehen können (11–13).
Grenzen der evidenzbasierten Medizin
Zwei Aspekte setzen der evidenzbasierten Medizin Grenzen: Guidelines sind besonders geeignet für einzelne akute Behandlungen, wie zum Beispiel orthopädische Eingriffe nach einem Unfall oder einzeln vorkommende chronische Krankheiten, wie zum Beispiel Diabetes. Ganz anders präsentiert sich die Situation bei Patienten mit mehreren chronischen Leiden. Da Guidelines sehr häufig aus der Perspektive einer jeweiligen Krankheit beziehungsweise der entsprechenden Fachgesellschaften entwickelt werden, nehmen sie nur ungenügend Bezug auf mögliche Begleiterkrankungen, auf Interdependenzen verschiedener Behandlungen oder Interferenzen von Medikamenten. Ein striktes Befolgen von Guidelines bei Patienten mit mehr als einer chronischen Krankheit (z.B. mit Hypertonie, Diabetes, Osteoporose, Asthma) kann sogar gefährliche Interferenzen beziehungsweise Nebenwirkungen hervorbringen (14). Zudem sind grosse Teile der Medizin nicht systematisierbar, weil die Variabilität der Biologie und der Ausdrucksformen der Krankheiten wie auch die Interdependenzen der medizinischen Interventionen zu gross und zu komplex sind. Diese Effekte sind wesentliche Treiber in der Entwicklung der «personalisierten Medizin» (15).
Guidelines als Fortbildungsinstrument
Sinn und Zweck von Guidelines ist es aber nicht nur, Orientierungen für den klinischen Alltag zu geben und die klinische Entscheidungsfindung zu unterstützen. Guidelines sind auch Fortbildungsvehikel für Ärzte und andere Gesundheitsberufe und empfehlen Kriterien zur Evaluation der Qualität von Behandlung und Betreuung. Guidelines sind, vor allem mit Blick auf komplexe und chronische Krankheiten, viel weniger Handlungsanweisungen für einzelne Fachpersonen als Entscheidungsrahmen für viele Beteiligte in interdependenten Behandlungsabläufen. Nicht (nur) in der Anwendung von Guidelines entfaltet sich deren eigentliche Wirkung, sondern während der Erarbeitung und Einführung der Guidelines werden Schnittstellen sichtbar, potenzielle Interferenzen antizipiert und notwendige Abstimmungen zwischen Ärzten und anderen Leistungserbringenden vorgenommen. Eine wesentliche Frage ist, wie und mit welchen Strategien Guidelines wirkungsvoll implementiert werden können. Denn offenkundig hat das alleinige Bereit-
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stellen beziehungsweise Publizieren von Guidelines keinen oder kaum einen Effekt auf Behandlungsabläufe (16). Es erstaunt deshalb nicht, dass in vielen wissenschaftlichen Studien zu Guidelines vor allem die Wirksamkeit verschiedener Implementierungsstrategien evaluiert wurde wie beispielsweise Feedbacksysteme (an die behandelnden Fachpersonen), Peer-Reviews, computerbasierte medizinische Entscheidungshilfen (medical decision support systems), computerbasierte Lernprogramme und verschiedene Formen von Weiterbildungsveranstaltungen (17–19). Wichtigste Erkenntnis aus diesen Studien ist, dass eine erfolgreiche Implementierung von Guidelines ein massgeschneidertes und mehrstufiges Vorgehen erfordert, beispielsweise indem die Benutzer der Guidelines in deren Erarbeitung und Entwicklung einbezogen werden, regelmässig Feedback zu Compliance und Behandlungserfolgen erhalten und durch attraktive Weiterbildungsinitiativen unterstützt werden.
Praxisrelevanz durch Erstellen eigener Guidelines
In einer Untersuchung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) wurde untersucht, wie Guidelines in Schweizer Ärztenetzwerken erstellt und genutzt werden (20). Die grosse Mehrheit der Guidelines (80%) wurde eigens in den Netzen entwickelt. Darunter ist jedoch nicht eine Eigenentwicklung im engeren Sinne (Neuentwicklung) zu verstehen: Als Implementierungsmassnahme und zum Einbezug der Anwender werden bestehende beziehungsweise publizierte Leitlinien (in den Qualitätszirkeln) diskutiert, überarbeitet und an netzspezifische Bedürfnisse adaptiert. Nur ein kleiner Teil der Guidelines wurde unverändert (7%) oder mit nur kleinen Anpassungen (13%) aus publizierten Leitlinien übernommen. Diese Resultate stehen in Übereinstimmung mit denjenigen vieler anderer Studien zur Frage, welche Massnahmen der Implementierung von Guidelines wirksam sind. Eine systematische Review der Universität in Adelaide, Australien, zeigt, dass Wirksamkeit vor allem bei mehrstufigen und mehrdimensionalen Implementierungsstrategien gegeben ist und dass eine wirksame Implementierung eine intensive Auseinandersetzung der Ärzte mit den Guidelines (z.B. in Qualitätszirkeln) und eine hohe Aufmerksamkeit für die Guidelines (z.B. durch Remindermassnahmen) fördert (11, 21). Gleichzeitig wissen wir seit Langem, dass das Befolgen von Guidelines auch bei ausgefeilten, mehrstufigen Strategien lückenhaft ist (22). Eine grosse niederländische Arbeit fand dazu eine durchschnittliche «Befolgungsrate» von rund zwei Dritteln mit erheblichen Unterschieden zwischen einzelnen Ärzten und Guidelines (21). Bei vielen dieser Studien muss jedoch kritisch hinterfragt werden, ob das, was analysiert wird, in einem kausalen Zusammenhang mit der Anwendung einer Guideline steht. Beispielweise werden als Mass einer Guideline-Compliance bestimmte krankheitsrelevante Qualitätsindikatoren gemessen (z.B. ob Patienten ein bestimmtes von der Guideline empfohlenes Medikament erhalten oder nicht), welche auch von Parametern beinflusst sind, die mit der
Anwendung der Guideline nichts zu tun haben. Eine neuere deutsche Erhebung stellt eben diesen Kausalzusammenhang infrage, indem die Autoren keinen Unterschied in der Guideline-Compliance zwischen Ärzten fanden, welche mit der Guideline gut vertraut beziehungsweise weniger vertraut waren. Und nicht nur das, die letztere Gruppe schnitt bezüglich Qualitätsindikatoren sogar besser ab (23).
Guidelines und ärztliche Autonomie
Die an der Obsan-Umfrage (20) teilnehmenden Ärzte gaben sehr wenig Einschränkung ihrer ärztlichen Autonomie durch Guidelines an. Interessanterweise ist die erlebte Einschränkung in Gruppenpraxen – wenn auch mit kleinem Unterschied – signifikant kleiner als in Einzelpraxen. «Mehr Nutzen und weniger Schwierigkeiten in der ärztlichen Tätigkeit, je grösser die Auseinandersetzung mit Guidelines ist, sowie kaum oder nur wenig wahrgenommene Einschränkung der ärztlichen Autonomie durch die Anwendung der Guidelines in den Ärztenetzen», auf diesen kurzen Nenner lassen sich die Ergebnisse aus unserer Fragebogenerhebung (20) zusammenfassen. Das ist bemerkenswert, auch wenn wir davon ausgehen, dass die an dieser Studie beteiligten Ärztenetze und Ärzte aufgrund der langjährigen Erfahrung Guidelines und ihrer Anwendung in der Praxis grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Gleichwohl bleibt die Frage, was diesen Nutzenzuwachs bei Ärzten mit hohem Engagement ausmacht und wie dieser zu erklären ist. Der beschriebene Nutzenzuwachs für die ärztliche Arbeit und die Patientenbetreuung kann kaum allein dadurch entstehen, dass Guidelines als Handlungsrahmen die Ärzte im Bemühen um eine evidenznahe und qualitativ hochstehende Behandlung unterstützen. Deshalb sind in jüngster Zeit Initiativen zu beobachten, welche die Implementierung von evidenzbasierter Medizin in der klinischen Praxis als Prozess der Wissensentwicklung verstehen (24).
Wissensentwicklung durch Guidelines
Guidelines sind mehr als das darin kondensierte explizite Wissen aus Wissenschaft und Forschung. Wissen ist nicht nur Inhalt (Information), sondern immer auch Prozess. Wissen so verstanden ist kontextuell, existiert in den Köpfen Einzelner, aber auch im ärztlichen Kollektiv, in den Prozessen und der Organisation, und vor allem entwickelt sich Wissen laufend durch Aktivitäten, Entscheide und neue Erfahrungen (25). Dies trifft auch für das in den Guidelines gespeicherte Wissen, dessen Implementierung und Anwendung in der klinischen Praxis zu. Guidelines als Wissensentwicklung verstanden, lassen die vielfach beschriebenen Implementierungsschwierigkeiten von Guidelines für die Hausarztmedizin in ein neues Licht rücken (9): Wenn von Promotoren einer evidenzbasierten Patientenbehandlung (zu) stark auf die Anwendung «expliziten» Wissens aus der Wissenschaft gepocht wird, geht die notwendige Verknüpfung mit implizitem Wissen (auch implizite Evi-
Die Benutzer der Guidelines sollten in deren Erarbeitung und Entwicklung einbezogen werden.
Wenn Ungewissheit dominiert, kann das Befolgen standardisierter Vorgaben nur noch sehr bedingt gelingen und für Patienten sogar gefährlich sein.
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denz genannt) gerne vergessen. Und dies führt dann – statt zu Nutzenzuwachs – zur bekannten Abwehrhaltung seitens vieler Ärzte, welche damit ihre Patienten vor einer «Kochbuch-Medizin» bewahren wollen. Wissensentwicklung in der Allgemeinmedizin kann zudem nicht auf einsilbigen Implementierungsstrategien gedeihen, denn es gilt, die Komplexität der Patientenbehandlung, die Spezifika der Hausarztpraxis und die Interdependenz von Veränderungsmassnahmen zu berücksichtigen (26, 27). Die Wissensentwicklung kann in vier Phasen aufgeteilt werden, die sich zyklisch wiederholen: 1. Sozialisation: Ärzte tauschen untereinander und mit Patienten implizites Wissen und Erfahrungen aus. 2. Externalisation: Implizites Wissen wird im Ärztekollektiv (z.B. im Qualitätszirkel) reflektiert und dadurch in explizites Wissen überführt. 3. Kombination: Explizites Wissen wird mit wissenschaftlicher Evidenz kombiniert und in die systematisierte Form der Guidelines übertragen. 4. Internalisation: Durch die Anwendung der Guidelines entstehen neue Erfahrungen und implizites Wissen. Aus den Ergebnissen unserer Fragebogenerhebung (20) schliessen wir, dass der Nutzen aus der Anwendung von Guidelines umso grösser ist, je stärker der Zyklus der Wissensentwicklung ist, mit dem die Guidelines in Beziehung stehen. Durch diese zyklische Bewegung durch die vier Phasen wird kontinuierlich implizites in explizites Wissen (und zurück) überführt und ein kreativer Prozess der Generierung neuen Wissens unterhalten (26). Solche kreativen Prozesse – Knowledge Flows – werden, wenn sie ins Fliessen kommen, von Professionellen (den Ärzten) und professionellen Organisationen (den Ärztenetzen) als Nutzen wahrgenommen (12).
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Peter Berchtold, college M Freiburgstrasse 41, 3010 Bern E-Mail: peter.berchtold@college-m.ch
Bei diesem Artikel handelt es sich um Teile des Berichts des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) Nr. 51: «Guidelines in Schweizer Ärztenetzwerken», welcher am 28. Februar 2012 erschienen ist. Der komplette Bericht steht als Download zur Verfügung unter: www.obsan.ch
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