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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Palliativmedizin
Sterbefasten in der Schweiz nicht so selten
Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften haben 43 Prozent der Hausärzte in der Schweiz bereits einmal einen oder mehrere Patienten beim Sterbefasten begleitet. Für die Studie wurde mit Unterstützung der FMH eine repräsentative Auswahl von 751 Hausärzten im Rahmen des Forschungsprojekts VARIED (Vorkommen des freiwilligen Verzichts auf Nah-
starke Ablehnung geringe Ablehnung
neutrale Sichtweise
geringe Zustimmung starke Zustimmung
So sehen Schweizer Hausärzte das Sterbefasten (Grafik: ZHAW).
rung und Flüssigkeiten) kontaktiert. Drei Viertel von ihnen (74%) antworteten auf die Fragen. Die beteiligten Ärzte waren im Durchschnitt 58 Jahre alt. Sie waren in ihrer beruflichen Laufbahn mit durchschnittlich 11 Fällen von Sterbefasten konfrontiert. Wie viele Fälle von Sterbefasten es in der Schweiz gibt, ist nicht bekannt. 2017 war für 458 Todesfälle die Ursache «angekündigtes Sterbefasten» bekannt; dies entspricht einem Anteil von 1,1 Prozent. Man vermute jedoch, dass die Dunkelziffer um einiges höher liege, so die VARIED-Forscher. Sie schätzen, dass auf jeden Fall eines angekündigten Sterbefastens mindestens zwei Fälle kommen, bei denen die Betroffenen ihren Entscheid nicht kommunizieren. Für die Mehrheit der beteiligten Ärzte, rund 60 Prozent, ist das Sterbefasten ein natürlicher Sterbeprozess, der von Pflegefachleuten und/oder Ärzten begleitet wird. 32 Prozent definieren das Sterbefasten mit pflegerischer oder ärztlicher Begleitung als eine Form der passiven Sterbehilfe, rund 6 Prozent sehen darin einen assistierten Suizid.
Für 73 Prozent der an der Umfrage be-
teiligten Hausärzte ist das Sterbefasten
mit ihrem Weltbild beziehungsweise
ihrer Religion vereinbar, für 58 Prozent
zudem mit ihrer Berufsethik. Ärzte, die
bereits Erfahrung mit der Begleitung
beim Sterbefasten gemacht haben, sind
diesem gegenüber grundsätzlich positi-
ver eingestellt.
Personen, die ihr Leben mit Sterbefas-
ten beenden wollten, wüssten häufig
nicht, auf was sie sich einliessen, so Dr.
med. Daniel Büche, leitender Arzt des
Palliativzentrums am Kantonsspital St.
Gallen und Co-Autor der Studie. Bei den
Hausärzten fehle es teilweise an Wissen,
wie sie mit dem Wunsch eines Patienten,
das Leben durch Sterbefasten zu been-
den, umgehen sollen. «Da ist mehr Auf-
klärungsarbeit nötig – auch, um das
Thema aus der Tabuecke zu holen und
ethische Fragen zu klären», fordert der
Palliativmediziner.
RBO s
Medienmitteilung des ZHAW vom 8. Oktober 2020 und Stängle S et al.: Family physicians’ perspective on voluntary stopping of eating and drinking: a cross-sectional study. J Int Med Res 2020; 48(8): 1–15.
E-Health
Erste Apps auf Rezept
In Deutschland hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erstmals zwei Apps zum therapeutischen Gebrauch auf Rezept zugelassen. Somit können die Apps Kalmeda und Velibra nun in Deutschland mit Kostenübernahmepflicht der Krankenkassen verordnet werden. Kalmeda ist eine App zur Verhaltensund Entspannungstherapie für Tinnituspatienten. Sie darf maximal viermal für 90 Tage verordnet werden und kostet pro Verordnungszeitraum zirka 125 Franken. Die Zulassung ist vorerst provisorisch, weil ein positiver Effekt für die Patienten zwar wahrscheinlich,
aber noch nicht ausreichend belegt sei, heisst es in einem Bericht der deutschen «ÄrzteZeitung». Eine entsprechende klinische Studie läuft noch. Velibra enthält Übungen im Sinne einer kognitiven Verhaltenstherapie. Sie ist für Patienten mit generalisierter Angststörung, mit Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie sowie für Patienten mit sozialen Phobien gedacht. Sie ist von den Krankenkassen mit rund 510 Franken für 90 Tage zu vergüten. Diese App hat bereits eine dauerhafte Zulassung, weil Studiendaten ihre Wirksamkeit belegen. Das Programm sei speziell als Zusatz einer hausärztlichen Behand-
lung konzipiert und würde von den Ärzten durchweg positiv beurteilt, heisst es in dem Pressebericht. Zurzeit befinden sich 21 weitere Apps im Zulassungsprozess, und für 75 weitere wurden bereits Gespräche zwischen BfArM und den Herstellern geführt, sodass in Kürze mit weiteren Zulassungen in Deutschland zu rechnen ist. Detaillierte Informationen zu den beiden Apps unter: https://diga.bfarm.de/deRBO s
DiGA auf Rezept: App-Therapien gegen Angst und Tinnitus. ÄrzteZeitung, 9. Oktober 2020.
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ARS MEDICI 21 | 2020
Coronapandemie
Ansteckung via Tränenflüssigkeit eher unwahrscheinlich
Aufgrund klinischer Beobachtungen keimte der Verdacht, dass eine Ansteckung mit SARSCoV-2 auch über die Schleimhäute, einschliesslich der Bindehaut, relevant sein könnte. In einer kleinen Studie aus China wurde kürzlich auf einer äusserst wackeligen Datenbasis sogar ein niedrigeres SARS-CoV-2-Infektionsrisiko für Brillenträger postuliert (1). Angesichts der gesamten derzeitigen Studienlage sei der Infektionsweg über das Auge jedoch sehr unwahrscheinlich, und nichts weise darauf hin, dass man die Augen als bedeutsame Eintritts- oder Austrittspforte des Virus betrachten müsse, so Professor Dr. Dr. med. Clemens Lange, Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau (2). Ein Zusammenhang zwischen der in Studien beobachteten Bindehautentzündung bei etwa 1 Prozent der COVID-19-Patienten sowie subjektiven Augenbeschwerden bei 7 Prozent der COVID-19-Patienten konnte bislang nicht eindeutig ermittelt werden. «Es könnte sich auch um ein SARS-CoV-2-unabhängiges Phänomen handeln, das zum Beispiel im Zuge einer intensivmedizinischen Behandlung oder der generalisierten Entzündungsreaktion im Körper von COVID-19-Patienten auftritt», so Lange. Darüber hinaus sei noch nicht eindeutig geklärt, ob die Zellen der Augenoberfläche, wie zum Beispiel die der Bindehaut, den SARSCoV-2-Rezeptor ACE-2 in klinisch relevantem Masse exprimieren und damit für eine Infektion anfällig sind. Eine aktuelle Untersuchung an der Universitätsaugenklinik Freiburg im Breisgau sowie histologische Unter-
suchungen anderer Kliniken haben weder eine wesentliche Expression von ACE-2 in der Bindehaut noch einen Zusammenhang zwischen COVID-19-Infektion und Bindehautentzündung nachweisen können. Das Auge als relevante Ein- und Austrittspforte für das Virus sei auch aus anderen Gründen eher unwahrscheinlich, so Lange. Zum einen dürften der regelmässige Lidschlag des Auges sowie die geringe Augenoberfläche verhindern, dass ausreichend Viren ins Auge gelangen können. Zum anderen enthalte der Tränenfilm von COVID-19-Patienten nur sehr selten Virus-RNA. Bei der augenärztlichen Untersuchung dürfte von den Aerosolen aus den Atemwegen ein deutlich höheres Infektionsrisiko ausgehen als vom Tränenfilm oder von der Augenoberfläche des Patienten. «Obwohl wir derzeit eher keine Infektion über das Auge befürchten müssen, sind weitere Untersuchungen notwendig, um Aufschluss über die tatsächliche Infektiosität und mögliche Orte der Virusvermehrung zu erhalten», betonte Professor Dr. med. Hans Hoerauf, Augenklinik der Universitätsmedizin Göttingen. Dem Klinikpersonal auf der Intensivstation empfiehlt er, bei der In- oder Extubation von COVID-19Patienten trotz des offenbar geringen Risikos eine Schutzbrille zu tragen (2).RBO s
1. Zheng W et al.: Association of daily wear of eyeglasses with susceptibility to coronavirus disease 2019 infection. JAMA Ophthalmol 2020; published online September 16, 2020.
2. Medienmitteilung der Deutschen Gesellschaft für Ophthalmologie vom 9. Oktober 2020.
Rückspiegel
Vor 10 Jahren
Preisgekrönte Fertilisation
Der Genetiker und Physiologe Robert G. Edwards erhält den Nobelpreis für die Entwicklung der In-vitro-Fertilisation. Gemeinsam mit dem (nicht preisgekrönten) Gynäkologen Patrick Steptoe hatte er ein Verfahren zur Gewinnung menschlicher Eizellen aus dem Ovar und deren Befruchtung in der Petrischale etabliert. 1978 kam das erste Kind zur Welt, das seine Existenz einer In-vitro-Fertilisation verdankte. In Cambridge, England, gründeten Edwards und Steptoe ihre eigene Kinderwunschklinik mit Steptoe als Direktor.
Vor 50 Jahren
Neurotransmitter
Der Nobelpreis für Medizin geht zu gleichen Teilen an drei Wissenschaftler, die sich um die Entdeckung und Aufklärung der Funktion von Neurotransmittern verdient gemacht haben: Bernard Katz, Ulf von Euler und Julius Axelrod. Während sich Katz mit der Funktionsweise von Motoneuronen befasste, erforschten Axelrod und von Euler den Transmitter Noradrenalin. Von Euler entdeckte 1947 das Noradrenalin, und Axelrod klärte auf, wie das Wechselspiel zwischen Sekretion und Wiederaufnahme des Transmitters in den Synapsen funktioniert.
Coronapandemie
Infektionsschutz nach Laryngektomie
Auch für Patienten, denen wegen eines Larynxkarzinoms der Kehlkopf entfernt wurde, gelten die üblichen Hygieneregeln, und ein Mund-Nasen-Schutz wird empfohlen. Zum weiteren Schutz rät Prof. Andreas Dietz, Universitätsklinikum Leipzig, ein abdeckendes Textilläppchen, HME-Filter sowie einen Stomabutton (kurze Silikonkanüle, die das Tracheostoma offenhält). Die Tracheostomaabde-
ckung sollte täglich gewechselt und gewaschen werden. «Durch diese Massnahmen ist der obere Atemweg fast geschützter als beim normalen Mund- und Nasenatmer», so Dietz. DGHNO-KHC/RBO s
Medienmitteilung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (DGHNO-KHC) vom 10. September 2020.
Vor 100 Jahren
Kapillarmotorik
Der dänische Zoologe August Krogh erhält den Nobelpreis für Medizin. Er fand heraus, dass der kapilläre Blutfluss in der Muskulatur vom Sauerstoffbedarf des Gewebes reguliert wird. Bei erhöhtem Bedarf werden mehr Kapillaren geöffnet. In Ruhe werden hingegen relativ wenige Kapillaren vom Blut durchströmt.
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