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Patienten mit multipler Sklerose leiden gehäuft an Depressionen und anderen neuropsychiatrischen Problemen – teils als psychische Reaktion auf die chronische Erkrankung, teils wohl auch hirnorganisch bedingt. Inwieweit die Bekämpfung der Entzündung auch dazu beiträgt, diese Symptomatik zu bessern, bleibt zu klären.
Multiple Sklerose
Depression und Co. unterdiagnostiziert und untertherapiert
Z wei von drei MS-Patienten würden Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit und Angstgefühle schildern, berichtete Prof. Dr. Georg Juckel, Göttingen, am DGPPN-Kongress in Berlin. Auch kognitive Leistungseinbussen und Fatigue kommen häufiger vor als in der Durchschnittsbevölkerung.
Gezielt nachfragen
In etwa der Hälfte der Fälle wird tatsächlich eine psychiatrische Diagnose gestellt, meist die einer Depression oder bipolaren Störung – es handelt sich also keineswegs um rein subjektive Phänomene. Depressive Symptome treten dabei oft schon früh im Verlauf der MS auf, manchmal sogar als Erstsymptom, und steigern die – bei MS-Kranken ohnehin erhöhte – Suizidneigung. Das Auftreten von Suizidgedanken korreliert dabei weder mit der Schwere noch mit der Dauer der Erkrankung. Um sicherzugehen, sollte man als Arzt Patienten immer wieder gezielt nach depressiven Verstimmungen und suizidalen Gedanken fragen. Vorsicht, warnte Juckel: Eine hoch dosierte Steroidtherapie im MS-Schub kann
Konsequente Behandlung der MS
Therapeutisch empfiehlt es sich, die MS als Grundkrankheit konsequent zu behandeln, also mit Steroiden zur Schubunterbrechung sowie der ganzen Palette der immunmodulatorisch wirksamen Substanzen zur Prävention neuer Schübe und zur Verlangsamung der Progression – auch wenn es derzeit keine verlässlichen Daten gibt, wie sich dies auf die diversen neuropsychiatrischen Begleitstörungen auswirkt.
eine manische Phase triggern. Bei jedem zehnten Patienten finden sich auch pathologisches Weinen oder Lachen als Ausdruck einer Schädigung pontiner Bahnen. Bei genauer Prüfung lassen sich bei bis zu 65 Prozent der MS-Patienten auch kognitive Einbussen nachweisen, allerdings führen sie nur bei jedem zehnten Patienten zu deutlichen Beeinträchtigungen im Alltag. Die Abgrenzung gegen Depression oder Fatigue kann Probleme bereiten, sollte aber schon aus Gründen der Therapieplanung unbedingt angestrebt werden. Schizophrene Psychosen kommen nicht häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung, es gibt aber Berichte über kurze psychotische Episoden, die mit Wahn, paranoidem Erleben und Halluzinationen einhergehen können. Insgesamt sei die Datenlage betreffend therapeutischer Strategien gegen diese Symptome eher schlecht, kritisierte Juckel. Deshalb bleibt derzeit kaum etwas anderes, als sie symptomatisch so anzugehen, wie man auch Patienten ohne MS behandeln würde. Dabei sollte besonders auf Nebenwirkungen geachtet werden.
Was tun bei Depression?
Im Falle der Depression bedeutet dies, dass SSRI erste Wahl sind, auch wenn speziell jüngere männliche Patienten diese wegen möglicher sexueller Funktionsstörungen oft eher schlecht tolerieren. Auch reversible MAO-Hemmer können eingesetzt werden, können aber aufgrund von Interaktionen Probleme bereiten, insbesondere, wenn sie mit anderen Antidepressiva kombiniert werden. Trizyklika sollten wegen potenzieller anticholinerger Effekte zurückhaltend eingesetzt werden; in Kombination mit Steroiden können sie psychotische Symptome aus-
lösen. Bei bipolarer Symptomatik kann Lithium zur Stimmungsstabilisation verordnet werden, zu anderen Mood-Stabilizern gibt es keine Daten. Noch deutlich schlechter als bei den Antidepressiva ist die Studienlage betreffend Fatigue und kognitiver Probleme. Bei beiden scheint eine kognitive Verhaltenstherapie zu nützen. Ob Modafinil oder Methylphenidat die Fatigue bessern kann, ist ebenso unbewiesen und umstritten wie die Wirksamkeit von Acetylcholinesterasehemmern gegen die MS-assoziierten Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Derzeit lässt sich noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die immunmodulatorische Therapie an diesen Problemen etwas ändert. Insgesamt erscheint die Situation bei den meisten neuropsychiatrischen Begleiterscheinungen unbefriedigend, zumal angesichts der Häufigkeit, mit der diese auftreten, wie Juckel resümierte. Er forderte mehr kontrollierte Studien, um die Strategien zu optimieren.
Manuela Arand
Quelle: «Depressive Störungen bei somatischen Erkrankungen: Multiple Sklerose und Depression», Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Berlin, 22. November 2012.
4 Neurologie/Psychiatrie DGPPN/ECNP 2012