Transkript
3 • 2020
Editorial
Wenn JIT versagt droht NIT
Liebe Frau Kollegin, lieber Herr Kollege
Was haben Kampfflugzeuge und Coronakrise miteinander zu tun? Es mag etwas an den Haaren herbeigezogen scheinen, aber so ganz abwegig ist der Zusammenhang nicht. Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und … kein Schweizer Kampfflugzeug steigt auf. Weil es keines gibt. Oder jedenfalls nur wenige und von denen die Hälfte grad in Revision ist. Erinnert Sie dieses peinliche Szenario jetzt nicht doch ein wenig an Corona?
Vorsorgen heisst oft investieren in eine Zukunft, die so wie befürchtet hoffentlich nie eintritt. Es bedeutet – wie bei einer Risikoversicherung – Geld ausgeben für … nichts und wieder nichts – hoffentlich – im besten Fall, weil der Notfall nicht eintrifft. Oder weil man mit dem vorsorglich ausgegebenen Geld dazu beiträgt, das Risiko zu minimieren, dass eine Notlage überhaupt entsteht. Wir alle zahlen monatlich ansehnliche Beiträge an die Krankenversicherer, in der Hoffnung, nie eine Gegenleistung dafür zu benötigen. Die Chance, dass wir dann doch einmal auf das Geld der Krankenkasse zurückgreifen müssen, ist allerdings recht gross, schliesslich sterben wir alle. Und da kaum eine(r) von uns aus voller Gesundheit heraus die Welt verlässt, machen die meisten von uns eine mehr oder weniger lange, mehr oder weniger teure, Zeit durch, in der wir Ärzte, Spitäler, Medikamente, Therapien und Therapeuten brauchen und froh sind, dass die Versicherung dafür bezahlt.
Bei Corona war’s ähnlich. Die Epidemiologen warnten lange vor dem Auftreten von Sars-CoV2, die Frage sei nicht, ob, sondern nur, wann «die Pandemie» uns heimsuchen werde. Recht hatten sie. Nur, keiner von uns hörte hin und wenn, dann hofften wir, dieses «wann» bedeute eine Zukunft jenseits unserer Lebenszeit. Doch wir lagen falsch. Die Prophezeihungen der Epidemiologen bestätigten sich unerfreulich rasch – und wir als Staat hatten quasi unsere Krankenversicherungsprämien nicht bezahlt. Böse gesagt:
die «Zahlungs»moral der Behörden war miserabel. Das Coronavirus traf auf eine Welt – nicht nur in der Schweiz –, die eigentlich hätte Bescheid wissen können, aber nicht daran dachte, weil sie zu sehr mit anderem beschäftigt war: Mit Märkten, Wirtschaften, mit Investieren, Optimieren, Sparen. JIT hatte sich über Jahrzehnte hinweg in den Köpfen der Wirtschaftsführer etabliert. «Just in Time» bedeutete Verzicht auf Lager(haltungskosten), weniger Personal und damit Einsparungen, günstigere Preise, bessere Wettbewerbsbedingungen und Renditen. Auch in den Spitälern dominierte Renditedenken. Die eigentlich nötigen präventiven Massnahmen wurden nicht oder nur ungenügend umgesetzt. Man war nicht bereit, in – so schien es – unnötige Vorsorgemassnahmen zu investieren.
Aber JIT funktioniert eben nur in Zeiten und unter Umständen, in denen jeder jederzeit in quasi no time mit der benötigen Menge jedes beliebigen Gutes beliefert werden kann – und gegen gutes Geld auch beliefert wird. JIT funktioniert nicht, wenn Produktionsstätten geschlossen und Lieferketten unterbrochen sind und ein weltweiter Run auf die gleichen Güter entbrennt. Masken, Schutzmäntel und Desinfektionsmittel lassen sich, so mussten wir lernen, auch von einer reichen Gesellschaft nicht innert weniger Tage beschaffen. Was lehrt uns die Mangelwirtschaft zu Beginn der Coronakrise? Dass vorbereitet sein (zumindest im Hinblick auf strategisch kritische Güter und Wege) in heiklen Situationen das Ein und Alles ist. Dass ungenügende Vorsorge Gefahren birgt und am Ende mehr kostet als der Verzicht auf Gedanken an den worst case. Wie also ist das mit diesen Kampfflugzeugen? JIT werden sie jedenfalls nicht zu beschaffen sein. Wenn uns die Coronakrise etwas erfolgreich lehrt, dann dies: Vorbeugen muss in lebens- und sicherheitsnotwendigen Bereichen vor Sparen gehen, denn JIT bedeutet im Notfall NIT (Nothing in time).
Richard Altorfer und Peter H. Müller
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