Transkript
Fortbildung
Der Teufel heisst Noma
Eine Herausforderung für die plastische Chirurgie
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Einst wütete sie auch in Europa, heute nur noch in den ärmsten Ländern der Welt wie dem Niger. Noma befällt Klein-
Von Christina Fleischmann und Martin Zinggl
Dennoch haben sie sich in ihre schönsten Kleider gehüllt, als stiegen so die Chancen, zu den Auserwählten zu gehören. Stoffe, gelb
kinder, entstellt ihre Gesichter. Die weni-
wie die gleissende Sonne über dem Niger,
gen Überlebenden gelten als Ausgestossene. Für sie
einem der ärmsten Länder der Welt, blau wie sein Himmel
ist Doktor Issa die einzige Hoffnung auf ein halb-
während der Trockenzeit, grün wie seine saftigen Felder in
wegs normales Leben.
der Regensaison. Auf vielen Kleidern sind Flecken, weil Spei-
chel aus den Wunden rinnt, Spuren der Krankheit, die alle
Die Patienten
eint. In ihren Heimatdörfern erzählt man, Satan habe ihnen
Daumengross klafft das Loch in der Wange des Sechsjähri-
das Gesicht zerfressen. Mediziner haben dem Teufel einen
gen. Er weint und windet sich, während der Chirurg die
Namen gegeben: Noma.
Wunde inspiziert. «Zwei Stunden», befindet Issa Hamady,
In der Kinderklinik hängt ein Geruch aus Schweiss und fauli-
den alle nur Doktor Issa nennen. Die Krankenschwester am
gem Fleisch. Die nächsten Patienten klettern auf den Unter-
Nebentisch notiert die Zeit. So lange wird es dauern, um Aziz
suchungsstuhl: ein kleiner Junge, unter dessen rechtem Auge
Salah ein vollständiges Gesicht zurückzugeben. Zwei Opera-
eine tiefe Wunde nässt, eine Dreijährige, deren schiefe Zähne
tionen hat er hinter sich, diese soll die letzte sein. Der Junge
den Blick auf sich ziehen, weil die linke Mundhälfte fehlt. Bei
rutscht vom Stuhl, eilt in die Arme seiner Mutter und mischt
einem Dreijährigen furcht sich ein Spalt entlang der Nase über
sich gleich darauf unter die Kinder, die aufgeregt durchei-
das halbe Gesicht. Manchen Kindern hat die Krankheit den
nanderlaufen. Drei- bis Elfjährige, die kichern, tuscheln, den
Mund geraubt, manchen die Nase, allen etwas von ihrer
Erwachsenen bei der Arbeit zusehen. Die meisten sind allein
Würde. Dabei lässt sich Noma mit ausgewogener Nahrung
in der Klinik von Niamey, der Hauptstadt des westafrikani-
und Antibiotika heilen. Dennoch: Schäden im Gesicht bleiben.
schen Landes Niger. Keine Mutter, kein Vater an ihrer Seite,
Es sei denn, ein Überlebender schafft es bis Niamey zu Doktor
weil sie zu Hause auf den Feldern arbeiten, die Grossfamilie
Issa, dem einzigen Chirurgen im Niger, der sich auf plastische
ernähren müssen. Die meisten Patienten sind zu jung, um zu
Rekonstruktion entstellter Gesichter spezialisiert hat.
verstehen, was hier vor sich geht.
21 Patienten untersucht er an diesem Nachmittag, 17 wählt
er für Operationen in den kommenden Tagen aus. Die ande-
ren Kinder müssen sich gedulden, Wochen, Monate, viel-
leicht sogar Jahre, bis ihre Körper für einen Eingriff bereit
sind. Bei den Kleinsten ist der Mundraum zu eng für den Be-
atmungsschlauch, eine Narkose lebensgefährlich. Andere
sind zu geschwächt von Parasiten, Malaria und Hunger, um
die Operation durchzustehen.
Einfahrt Noma-Klinik
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Die Krankheit Noma befällt vor allem Säuglinge und Kleinkinder, die unter schlechter Mundhygiene und Mangelernährung leiden, deren Immunsystem durch Krankheiten wie Typhus, Masern oder eine HIV-Infektion geschwächt ist. Unter diesen Voraussetzungen kann sich jede Verletzung im Mund, etwa wenn die ersten Zähne durchbrechen, in wenigen Tagen zu Noma entwickeln. Der als Auslöser für die Erkrankung identifizierte
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Aziz Salah, 6, während der Untersuchung vor der OP
Bakterienmix, vor allem aus den Gruppen der Fusobacteria und Prevotella, für gesunde Menschen harmlos, breitet sich im Mund aus, greift die Schleimhaut an, frisst sich weiter durch Fleisch, Muskeln, Knochen. Und hinterlässt innerhalb von zwei Wochen Gesichter, die an Gruselfilme erinnern. Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kannte man die Krankheit auch in Europa und Nordamerika. Weil Familien durch den wirtschaftlichen Aufschwung genug zu essen hatten, konnte die Krankheit nicht mehr gedeihen. Zuletzt tauchten Fälle während des Zweiten Weltkriegs auf, in Konzentrationslagern wie Auschwitz und Bergen-Belsen. Mittlerweile ist Noma bei uns längst verschwunden. Auch aus den Köpfen. Weil sie im Stillen wütet, zählt sie heute zu den vergessenen Krankheiten. Vereinzelt treten Fälle in Asien und Lateinamerika auf. Doch nirgendwo breitet sie sich besser aus als südlich der Sahara: Der «Noma-Gürtel» zieht sich durch West- und Zentralafrika von Senegal bis Äthiopien. Abgesehen von Hilfsorganisationen kümmert sich kaum jemand um die Kranken in Ländern wie Guinea-Bissau, Nigeria oder dem Niger. Hier haben die wenigsten Familien Strom und fliessendes Wasser. Die Wege zu Feuerholz und Brunnen sind weit und beschwerlich. Der Hälfte der Bevölkerung fehlt zudem jeder Zugang zu sauberem Trinkwasser. Hinzu kommt einseitige Ernährung: Hirsebrei und Bohnen – eben das, was auf Feldern wächst. Obst, Gemüse und Fleisch sind unerschwinglich. Ist die Ernte bescheiden oder fällt sie gar aus, weil Dürre oder Überschwemmungen die Äcker zerstören, hungern die Menschen. Wie die Familie des sechsjährigen Aziz.
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Wie Aziz wieder lachen lernte Der Junge bestand nur aus Haut und Knochen, als Noma in ihm ausbrach. Damals war er fünf Jahre alt. Keine Hose hielt mehr an seiner Hüfte. So berichtet es seine Mutter, die ihre acht Kinder oft mit leeren Mägen ins Bett legen musste. «Sie haben geweint vor Hunger», erzählt Jimma. Zu jener Zeit ging ausserdem die Malaria um. Möglich, dass Aziz’ Körper zusätzlich davon geschwächt war. Als er über Zahnschmerzen klagte, entdeckte Jimma einen schwarzen Punkt in seinem Mund. Bald schwoll die Wange an, dann das ganze Gesicht, Fieber kam hinzu. Sie brachte ihren Sohn zu einem traditionellen Heiler. Rinde, Kräuter und getrocknete Tierhäute verschlimmerten die Entzündung. Die Durchblutung stoppte. Die Haut starb ab und roch nach verwestem Fleisch. Jimma versprühte Düfte um den Sohn. Der Gestank hielt sich penetrant. Sie wollte ihn der Familie, die auf engstem Raum wohnte, nicht länger zumuten. Der Junge ass und schlief fortan allein. Noma machte Aziz, wie die meisten Betroffenen, zum Ausgestossenen. Er hielt den Geruch bald selbst nicht mehr aus, zupfte die abgestorbene Haut von seiner Wange. Das tote Gewebe vergrub er vor der Familienhütte im Sand wie eine Katze ihre Exkremente. Er durfte das Zuhause nicht mehr verlassen, sich nicht mehr mit Freunden treffen. Aziz konnte seinen Mund kaum noch öffnen, kaum essen oder sprechen. Lächeln: unmöglich. Noma hatte sich zu den Muskeln gefressen, seinen Kiefer versteift – eine Folge, die Mediziner Trismus nennen. Die Mutter, die um sein Leben bangte, brachte ihn endlich zur nächsten Krankenstation. Dort wusste man von einem Noma-Kinderhaus in Tahoua, 300 Kilometer vom Dorf entfernt, eine Zweigstelle der Hauptstadtklinik. Um sich die Fahrt leisten zu können, liehen Jimma und ihr Mann Geld von ihren Brüdern, umgerechnet 60 Euro. Acht Monate blieb Aziz mit der Mutter in der Klinik. Nun zählt er zu den Wenigen, die Noma überlebten. Neun von zehn sterben an den Folgen, an Blutvergiftung, Flüssigkeitsverlust, Organversagen, der Grossteil bereits in den ersten beiden Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jährlich 140 000 Kinder neu erkranken. Die Klinik päppelte Aziz mit Vitamintabletten und regelmässigen Mahlzeiten auf, bis er für die erste Operation fit war. Er bekam Fixatoren an beide Wangen, Metallstäbe, die an den Kieferknochen befestigt wurden, um den Mund wieder zu öffnen. Alle paar Tage wurden sie um wenige Millimeter verstellt – eine schmerzvolle Prozedur. Danach folgte der zweite Eingriff: das Schliessen der Wunde. Weil sie sich erneut öffnete, war nun eine dritte Operation nötig. Jimma erzählt die Geschichte so heiter, als gehöre sie zu je-
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v.l.n.r.: Inoussa Salamou, 5, Aziz Salah, 6, Oumarou Hamza, 5, Moussa Sani, 6
mand anderem. Im Niger muss man sich mit dem Elend arrangieren, es gibt zu viel davon. In der Klinik gehe es ihnen gut, sagt sie, keine Haus- und Feldarbeit, genug zu essen. Sie sieht freudig an sich hinunter, auf ihr Shirt, das am Bauch spannt. Ein paar Fettpölsterchen habe sie sich zugelegt für später, wenn sie zurückkehrt in ihr hageres Leben. In einigen Tagen wird es so weit sein. Denn Aziz’ dritter Eingriff ist gut verlaufen. Doktor Issa hat das befallene Gewebe entfernt und die Haut vernäht. Eine lange Naht zieht sich über Aziz’ geschwollene Wange.
Der Arzt Im Operationssaal rattert eine Klimaanlage, Tropfen prasseln gegen die Fenster. Doktor Issa, grüner Kittel, weinrote Haube, beugt sich über das Gesicht eines Vierjährigen. Durch das rechte Nasenloch pumpt ein Schlauch Sauerstoff in die Lungen des Jungen, mit einer Zange zieht Hamady an der linken Wange Haut zur Seite. Die Gesichtshälfte ist nur Wunde, als hätte ein Raubtier ein Stück herausgerissen. Zwei Finger breit unter dem Auge beginnt sie, kurvt über die Hälfte der Wange bis zum Kiefer. Legt die Zunge frei, die verformte Kauleiste, aus der ein paar einzelne Zähne herausschauen. Rot quillt das Blut aus dem zartrosa Fleisch, glänzt im Kegel der OP-Lampe. Mit einem Elektroskalpell entfernt Hamady Gewebe und verödet Gefässe, um die Blutung zu stillen. Die Maschine surrt, der blaugekachelte Raum füllt sich mit Geruch von verbranntem Fleisch. Unter dem Kinn des Jungen hängt ein loser Hautfetzen, den Hamady zuvor herausgelöst hat. Ihn wird der Chirurg nach oben klappen und damit den Krater in der Wange verschliessen. In der Medizin heisst diese Art der plastischen Rekonstruktion Estlander Flap. Mit blutigen Handschuhen
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vernäht der Chirurg den Lappen an der Wange, zurrt die Haut am Kinn zusammen, um die Lücke zu schliessen, die der entnommene Streifen hinterlassen hat. Nach etwa fünf Stunden streift er sich die Handschuhe ab, wäscht sich die Hände. Niemals sehe er nur die Wunde, die zu schliessen sei, sagt Hamady. Immer sehe er den Patienten vor sich, der mit dem Gesicht leben wird, das er ihm gibt. In diesem Fall heisst der Junge Moubarak. Vor dem nächsten Eingriff gönnt sich Hamady eine Pause. In seinem Büro lässt sich der 48-Jährige im Schreibtischstuhl nieder und durchforstet seinen Computer nach Patientenakten. Er öffnet auch Fotos von Aziz, kein Jahr sind sie alt und zeigen einen anderen Jungen: schmales Gesicht, ein Kopf, der zu gross wirkt auf dem dünnen Hals. Der Arzt klickt sich durch weitere Bilder. Jedes Stadium der Krankheit dokumentiert er mit einer Kamera: der Patient bei der Ankunft, vor und nach der Operation. Kinder ohne Lippen, mit zerfressener Nase, mit einem Loch in der Wange. Mehr als einhundert Operationen hat Hamady hinter sich, Tausende Dateien in seinem Speicher. Wenn Issa Hamady in die Gesichter seiner eigenen fünf Kinder blickt, Gesichter ohne Narben, ohne Löcher, seien die Patienten noch immer in seinem Kopf, sagt er. Jedes Kind kennt er mit Namen, kann von ihm erzählen, weiss, wie es aussah, als es ankam, wie die Operation verlief. «Es ist schön zu sehen, wie sich Kinder verändern, nicht nur ihr Gesicht, auch das Verhalten, eigentlich der ganze Mensch.» Sie seien offener nach der Operation, selbstsicherer, trauten sich, den Blick Fremder zu erwidern, versteckten ihr Gesicht nicht mehr unter Tüchern oder in ihren Händen, schämten sich nicht mehr für ein Lachen. Ein paar Zimmer vom Büro entfernt betritt Moubaraks Mutter den Aufwachraum. Zum ersten Mal seit Jahren sieht sie ihren Sohn ohne Wunde im Gesicht. Sie nähert sich langsam, setzt sich zu ihm auf die Bettkante. Der Junge blinzelt im Halbschlaf. Die Frau wirkt wie im Schock. «Er ist wunderschön», flüstert sie, lässt ihren Blick nicht von seinem Gesicht weichen. Für schwierige Fälle erhält Hamady Unterstützung. Dreizehn Stunden dauerte seine längste Operation. Hautlappen und Knochen wurden vom Schulterblatt ins Gesicht transplantiert, eine Mammutaufgabe, allein nicht zu schaffen. Deshalb schickt der Verein «Hilfsaktion Noma» (Kasten) bis zu fünfmal im Jahr für einige Tage Ärzteteams aus Europa, die Hamady ehrenamtlich helfen. So auch bei der Operation an dem Vierjährigen. Neben Issa Hamady stand Harald Kubiena, ein österreichischer Chirurg, mit dem der nigrische Arzt mittlerweile regelmässig operiert. Beide sind gleich alt, witzeln, nennen einander Brüder. Sie eint der Kampf gegen densel-
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Versammlung des Krankenhauspersonals, bevor die Operationen beginnen (Dr. Issa Hamady mit der roten Haube, Dr. Harald Kubiena mit der gelben Haube)
ben Gegner. Doch während Kubiena nach ein paar Tagen wieder nach Europa fliegt, hält Issa Hamady allein die Stellung in Afrika. Es ist ein ungleicher Kampf, den er gegen die Krankheit führt. Denn er kann ihn nicht gewinnen, weil er die Ursache nicht besiegen kann: den Hunger in seinem Land. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen leiden im Niger 42 Prozent der unter Fünfjährigen an Mangelernährung, fast drei Viertel unter Blutarmut. Hamady könnte ohne die Hilfe von Organisationen wie der «Hilfsaktion Noma» nichts gegen die Krankheit ausrichten. Keine Aufklärungsarbeit wäre möglich, keine Behandlung, keine Operation. Der deutsche Verein finanziert seinen Arbeitsplatz, die Klinik, die Ausstattung, das Personal und dessen Ausbildung. Doktor Issa lenkt seinen Geländewagen in Richtung Universität, wo er vor rund zwei Jahrzehnten studiert hat. Er biegt in einen Lehmpfad, an dem Menschen ihre Waren anbieten: Bananen, Getreide, Stoffe. Mit seiner Frau, einer Pharmazeutin, und den Kindern lebt er in der Hauptstadt. Angestellte kümmern sich um die Hausarbeit und um seine Hirse- und Bohnenfelder. Heute könne er es sich leisten, diese Arbeiten
Die Stiftung «Winds of Hope» wurde im September 1999 von Bertrand Piccard
und Brian Jones nach ihrer erfolgreichen Non-Stop-Weltumrundung mit dem
Breitling Orbiter 3-Ballon ins Leben gerufen. Die Pioniere widmeten ihren
Triumph den Kindern dieser Welt und finanzieren mit ihrer Stiftung die Be-
kämpfung vergessener Leiden und vernachlässigter Krankheiten, unter denen
viele Kinder leiden. Die Stiftung wurde mit einem Startkapital von einer Million
Schweizer Franken ausgestattet. So unterstützte «Winds of Hope» drei
NGO’s – Sentinelles (CH), Hilfsaktion Noma (D), Campaner (E) – die sich im
Niger im Kampf gegen Noma engagieren.
Red.
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verrichten zu lassen. Issa Hamady, Sohn eines Vaters, der
achtzehn Kinder zeugte, wuchs bei einem älteren Bruder auf.
In der Wohnung hatten sie Wasser, aber keinen Strom, für
sein Medizinstudium lernte er nachts im Schein einer Petro-
leumlampe.
Schon damals assistierte er als Student regelmässig bei
Noma-Eingriffen, zum ersten Mal vor 22 Jahren. In Paris stu-
dierte er plastische Chirurgie, verkleinerte Nasen, vergrös-
serte Brüste. Vier Jahre lebte er in Frankreich, hätte bleiben
und reich werden können. Ein Leben in Wohlstand und Si-
cherheit. Für ihn keine Option. Manchmal frage er sich: Sind
die eigentlich verrückt in Europa? «Wenn man sieht, was es
hier zu tun gibt, macht der Gedanke an eine Brustoperation
keinen Sinn. Ich bin ein Sahelmann. Das Leben in Europa ist
nichts für mich.»
Unterm Hemd trägt Hamady eine Waffe. Wie immer, wenn er
sein Haus oder die Klinik verlässt. Das Büro im Krankenhaus
ist stets verschlossen, klopft jemand, drückt er unter seinem
Schreibtisch den Türöffner. Ein Monitor zeigt die Bilder der
Überwachungskameras: von der Einfahrt, vom Gang vor den
Patientenzimmern, vom Innenhof, wo Stacheldraht auf über-
mannshohen Mauern abschreckt. Helfer aus Europa reisen
mit Polizeischutz, vor ihrer Unterkunft wacht bewaffnetes
Personal. Der Niger gehört zu den gefährlichsten Ländern der
Welt und wird regelmässig von Entführungen, Angriffen und
Anschlägen erschüttert. Verantwortlich ist häufig die radikal-
islamistische Terrorgruppe Boko Haram, 2018 entführte sie
fünfzehn Mädchen im Südosten des Landes.
Hamady parkt sein Auto auf dem Medizincampus der Univer-
sität. Man kennt den Chirurgen, grüsst, führt Small Talk.
Heute wird er als Kommissionsmitglied einen Doktoranden
prüfen. Das Thema der Dissertation: Noma. «Es gibt nicht
viele Ärzte, die sich für diese Art von Krankheit interessie-
ren», sagt Hamady. Als einer von wenigen Experten weltweit
wirbt er um Aufklärung, besucht internationale Kongresse,
operiert in Kooperation mit internationalen NGOs auch in
Guinea-Bissau und Burkina Faso. Im Niger, wo kaum ein Arzt
mit der Krankheit vertraut ist, will Hamady medizinischen
Nachwuchs heranziehen. Am Ende der Prüfung sagt der Dok-
torand, Noma sei nicht nur ein medizinisches, sondern auch
ein gesellschaftliches Problem. Weil die Krankheit diejenigen
befällt, die ohnehin kein Gehör finden. In Ländern, die in der
Regel zu wenig beachtet werden.
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Korrespondenzadressen: Text: Christina Fleischmann, Journalistin E-Mail: christinafleischmann@gmx.net Bilder: Martin Zinggl, freier Fotograf, E-Mail: martin.zinggl@gmail.com
Ein Stipedium der Sir-Greene-Stiftung ermöglichte die Recherche für diese Reportage.