Transkript
E D I T O R I A L Das Delir – ein Problem
zum Verzweifeln?
I n den letzten rund 25 Jahren hat sich das Delir von einem nebensächlichen Ärgernis zu einem der häufigsten Probleme bei der Betreuung von polymorbiden, vorwiegend älteren Patienten entwickelt. Neben der durch ein Delir verursachten äusserst hohen Belastung für die betroffenen Patienten, ihre Angehörigen und die betreuenden Pflegepersonen sind die Assoziationen zwischen Delir und späterem Verlust der Selbstständigkeit, Demenz und Mortalität äusserst beunruhigend (1). Das Problem trifft heute alle Disziplinen: von der Geriatrie über die Psychiatrie und Neurologie bis zur Intensivmedizin und Anästhesie. Es kann schlicht nicht mehr ignoriert werden. Während in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends beinahe schon von einem Hype, der sich in einer Vielzahl von klinischen Studien äusserte, gesprochen werden kann, ist unterdessen ein beträchtliches Mass an Ernüchterung eingetreten. Neben einer Welle von neuen Instrumenten zur Diagnose – eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2010 zitierte 24 verschiedene Methoden (2) – wurde eine Vielzahl von medikamentösen und nicht pharmakologischen präventiven und therapeutischen Interventionen getestet. Während die aufwendigen nicht pharmakologischen, vorwiegend pflegerischen Präventionsmassnahmen zumindest teilweise Erfolg hatten, war die Situation bei der pharmakologischen Prävention eher ernüchternd: Kleinere Studien mit Substanzen wie Haloperidol oder anderen Neuroleptika zeigten teilweise einen Benefit. Im Verlauf musste man aber erkennen, dass keine pharmakologische Intervention einen zuverlässigen Effekt hat. Häufig war auch das Phänomen zu beobachten, dass initiale, kleinere positive Studien in einem grösseren Patientenkollektiv nicht reproduziert werden konnten. Im Lauf der Jahre verbesserte sich unser Verständnis der Pathophysiologie, und wir entfernten uns von der initial postulierten, monokausalen Ätiolo-
gie wie z. B. der «anticholinergen Hypothese» zu einem komplexen, vielfältigen Modell (3), das auch erklärt, warum der «magic bullet approach» mit grösster Wahrscheinlichkeit nur bei einer kleinen Minderheit der Patienten Erfolg versprechend ist. Etwas salopp ausgedrückt sind möglicherweise persönliche Schwachstellen die Basis einer individuellen Delir-Ätiologie. Die weitere Forschung sollte meines Erachtens versuchen, das individuelle Risiko besser zu charakterisieren, sowie massgeschneiderte Lösungen – wie z. B. präoperative Physiotherapie bei gebrechlichen Patienten – unter die Lupe nehmen. Insbesondere sollte auch die Frage geklärt werden, ob eine erfolgreiche Delir-Therapie oder -prävention einen Effekt auf den Langzeitverlauf wie zum Beispiel das Demenzrisiko hat oder ob wir lediglich als Zuschauer einen unvermeidlichen Ablauf beobachten können. Die Möglichkeiten für innovative klinische Forschung sind fast unbegrenzt. Die vorliegende Ausgabe soll Ihnen einen Überblick über den aktuellen Stand des Irrtums geben und Sie motivieren, das Thema weiterhin hoch auf Ihrer Fortbildungsagenda anzusiedeln. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre . l
Prof. Dr. med. Luzius Steiner, PhD Chefarzt Anästhesiologie Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 4031 Basel
E-mail: luzius.steiner@usb.ch
Referenzen: 1. Witlox J et al.: Delirium in elderly patients and the risk of post-
discharge mortality, institutionalization, and dementia: a metaanalysis. JAMA 2010; 304: 443–451. 2. Adamis D et al.: Delirium scales: A review of current evidence. Aging Ment Health 2010; 14: 543–555. 3. Maldonado JR: Delirium pathophysiology: An updated hypothesis of the etiology of acute brain failure. Int J Geriatr Psychiatry 2018; 33: 1428–1457.
Foto: zVg
Luzius Steiner
4/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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