Transkript
EDITORIAL
Reisefreie Pantoffelkongresse
Zurzeit fehlen mir all die Tagungen und Kongresse fast genauso sehr wie Konzerte, Partys und grosse Familienfeiern. Ich vermisse den Trubel internationaler Kongresse, und wie schade ist es um all die kleinen, aber feinen Tagungen und die zahllosen Fortbildungen am Donnerstagnachmittag. Alles abgesagt, verschoben oder in den Cyberspace verlegt. Dort ist es keimfrei und kommod. Gleichzeitig entfällt das Infektionsrisiko auf der Anreise. Wie hoch dieses Risiko genau ist, weiss niemand. Kürzlich sind zwei Studien erschienen, die zumindest Anhaltspunkte zur Grössenordnung des Ansteckungsrisikos für SARS-CoV-2 beim Fliegen oder Bahnfahren liefern. Anfang März 2020 flogen 102 Personen von Tel Aviv nach Frankfurt am Main. Der Flug dauerte 4 Stunden und 40 Minuten. 7 Passagiere einer Reisegruppe erwiesen sich bei Ankunft am Frankfurter Flughafen als SARS-CoV-2-positiv, nur 4 von ihnen hatten Symptome. In der Folge wurden 2 weitere Passagiere SARS-CoV-2-positiv, die nicht der Reisegruppe angehörten. Sie hatten in der Nähe der Infizierten gesessen, in den Sitzreihen jenseits des Gangs. 20 weitere Personen, die ebenfalls in der Nähe der Infizierten sassen, steckten sich hingegen nicht an. Ebensowenig traf es Passagiere, die weiter weg gesessen hatten. Keiner der Passagiere hatte eine Maske getragen (1). In einer anderen Studie wurden die Daten von 2334 symptomatischen und laborbestätigt mit SARSCoV-2-Infizierten und ihren Mitreisenden ausgewertet, die vom 19. Dezember 2019 bis 6. März 2020 in
Hochgeschwindigkeitszügen in China unterwegs wa-
ren (2). Als Mitreisende mit engerem Kontakt (insge-
samt gut 72 000) galten alle Personen, die irgendwann
während der Bahnfahrt in der gleichen Reihe oder
in den 3 Reihen vor und hinter den Infizierten sassen.
In diesen Zügen sind jeweils 5 Sitze in einer Reihe,
2 rechts und 3 links des Gangs. Es gibt keine gegen-
überliegenden Sitze, alle weisen in dieselbe Richtung.
Ob und wie viele Reisende Masken trugen, ist nicht
bekannt. Das Ansteckungsrisiko in derselben Reihe
betrug 1,5 Prozent (142 von 9299 Mitreisenden), direkt
neben dem Infizierten steckten sich 3,5 Prozent der
Mitreisenden an; in den Reihen davor und dahinter
0,14 Prozent. Für das Infektionsrisiko spielte auch die
gemeinsame Reisedauer eine Rolle. Pro Stunde stieg
die Ansteckungsrate im Durchschnitt um 0,15 Pro-
zent, auf dem Sitz direkt neben dem Infizierten waren
es plus 1,3 Prozent pro Stunde. Insgesamt schwankte
die Infektionsrate je nach Sitzplatz und Reisedauer
zwischen 0 und 10,3 Prozent. Wenn der Infizierte aus-
stieg und jemand seinen Sitzplatz unmittelbar danach
einnahm, war dessen Ansteckungsrisiko nicht höher
als im gesamten Zug (0,075%).
Einstweilen gehen wir weiterhin virtuell an den Kon-
gress, irgendwie. Jeder hockt für sich vor seinem Bild-
schirm und schaut Referenten zu, die wiederum jeder
für sich allein vor ihren Bildschirmen hocken. Manche
Referenten sind echte Naturtalente, die auch in die-
sem Format begeistern können. Bei anderen sind die
Möbel im Hintergrund interessanter als ihr Vortrag –
wobei man dann glücklicherweise nicht wie früher am
Kongress tapfer ausharren muss, wenn man dummer-
weise in der Mitte einer langen Sitzreihe gefangen war.
Ein einfacher Klick genügt, und weder der Referent
noch die anderen Zuhörer bemerken, dass man sich
davonschleicht. In Pantoffeln versteht sich, denn für
den Kongress am heimischen Bildschirm muss man
sich wahrlich nicht in Schale werfen.
Das ist alles sehr, sehr bequem, aber auch sehr, sehr
langweilig. Ich freue mich jedenfalls schon auf meinen
nächsten «richtigen» Kongress, wann auch immer der
stattfinden mag.
s
Renate Bonifer
1. Hoehl S et al.: Assessment of SARS-CoV-2 transmission on an international flight and among a tourist group. JAMA Network Open 2020; 3(8): e2018044, August 18.
2. Hu M et al.: The risk of COVID-19 transmission in train passengers: an epidemiological and modelling study. Clin Infect Dis 2020; ciaa 1057, online ahead of print July 29.
ARS MEDICI 17 | 2020
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