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BERICHT
Schmerzmanagement im Alter
Gemeinsam mit dem Patienten realistische Ziele definieren
Beim Management von Schmerzen im Alter gilt es, den Schmerz zu identifizieren, zu erfassen und zu analysieren – und daraus die geeigneten Massnahmen abzuleiten. Welche Fragen dabei wichtig sind und wann im Rahmen der Therapie welche medikamentösen Optionen zum Einsatz kommen, fasste Dr. med. Roland Kunz, Stadtspital Waid, Zürich, am FOMF Allgemeine Innere Medizin in Basel zusammen.
Vor der Gabe von Schmerzmedikamenten sollte man bei alten Menschen erst einmal gut hinschauen. «Denn oft wissen wir gar nicht, warum es einem alten Menschen nicht gut geht», sagte Dr. med. Roland Kunz, Chefarzt Akutgeriatrie und Zentrum für Palliative Care, Stadtspital Waid, Zürich. Bei den häufig multimorbiden Patienten existieren viele Probleme gleichzeitig. Ist es eine Depression, oder sind es Schmerzen? Verstärkt die Depression die Schmerzen, oder verstärken die Schmerzen die Depression? Zunächst gelte es, zwischen akuten und chronischen Schmerzen zu unterscheiden – nicht nur wegen der Behandlung, sondern auch für den Patienten. Mit einer definierten, akuten Ursache wie zum Beispiel einer aktivierten Arthrose, die eine gezielte Therapie erlaubt, lässt es sich einfacher umgehen, so die Erfahrung des Experten. Halten die Schmerzen an, verlieren sie ihre Alarmfunktion. Der sinnlose, quälende, eigenständige, chronische Schmerz existiert losgelöst von den eigentlichen Ursachen weiter und stösst auch bei den Mitmenschen auf eine geringe Akzeptanz.
Kausale Behandlung möglich?
Schon bei der Erfassung des Schmerzes sollten kausale Therapieoptionen in Betracht gezogen werden. Chronische Schmerzen resultieren meist aus Schmerzen des Bewegungsapparats, mehrheitlich aufgrund degenerativer Veränderungen. Vor der Gabe von Analgetika lohnt ein Blick auf die Zusammenhänge. Handelt es sich um osteoporosebedingte Schmerzen, bedarf es vielleicht ergänzend einer Osteoporosetherapie, bei Arthrose ist abzuwägen, ob eventuell langfristig ein Gelenkersatz die bessere Lösung wäre, bei einer aktivierten Arthrose könnte eine entlastende Gelenkpunktion oder die Instillation von Steroiden eine schnell wirksame Massnahme sein. Vielleicht gibt es auch Hilfsmittel, von denen der Patient profitieren könnte.
Welchen Einfluss haben die Schmerzen auf den Alltag?
Ein nützliches Instrument zur Einschätzung des Schmerzes ist die Philadelphia Geriatric Center Pain Intensity Scale (siehe Kasten 1). Darin wird auch die Bedeutung des Schmerzes für den Alltag abgefragt. Einschränkungen im Alltag und bei der Selbstständigkeit hätten für den Patienten meist eine grössere
Bedeutung, als zu wissen, dass es sich bei seiner Schmerzstärke morgens um eine 7 und mittags um eine 5 auf der visuellen Analogskala handle. Das gelte auch für die Therapie: «Nicht die absolute Schmerzstärke ist entscheidend für die Intensität der Schmerztherapie, sondern das Ausmass der Beeinträchtigung im Alltag und bei der Lebensqualität», so Kunz.
Nicht immer ist absolute Schmerzfreiheit machbar
«Versuchen Sie, zusammen mit Ihrem Patienten ein realistisches Ziel zu formulieren», empfahl Kunz. Was ist dem Patienten am wichtigsten, was beeinträchtigt ihn am meisten? Je nach Ursache ist eine absolute Schmerzfreiheit bei multimorbiden älteren Patienten entweder nicht mehr zu erreichen oder vielleicht ja auch gar nicht deren erklärtes Ziel: Viele Patienten haben sich zum Beispiel an ihre Anlaufschmerzen gewöhnt und wären möglicherweise auch mit einer Schmerzfreiheit in Ruhe, beim Schlafen, zufrieden, so die Erfahrung des Experten. «Eruieren Sie auch, was starke Schmerzen auslöst», so der Geriater weiter. Ist das beim 80-Jährigen etwa das Tennisspiel, könnte vielleicht ein Wechsel der Sportart das Problem beheben.
Sinnvolle medikamentöse Schmerztherapie
Bei leichten bis mittelstarken chronischen Schmerzen im Alter bleibt Paracetamol (4 × 500 mg/ Tag) die Medikation der ersten Wahl. Bei den alten Patienten sollte man jedoch nicht über 2 g hinaus dosieren, da sich die Wirksamkeit (anders als die Nebenwirkungen) nur mehr minim erhöhe, so Kunz. Auch bei milder bis moderater hepatozellulärer Insuffizienz sowie bei kachektischen Patienten sollte eine Dosis von maximal 2 g/Tag nicht überschritten werden. Bei Leberinsuffizienz ist Paracetamol kontraindiziert. Wenn Paracetamol nicht genügt, gilt es abzuwägen, welches Problem im Vordergrund steht. Bei einer entzündlichen Komponente sind nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) eine gute Wahl, da sie auch den Entzündungsprozess beeinflussen. Bei chronischen Schmerzen, die längerfristig eine Therapie benötigen, sei Metamizol (4 × 500 mg/Tag) die risikoärmere Option, so Kunz, es sollte jedoch nicht zusammen mit Methotrexat gegeben werden. Bei Infektzeichen sollte das Blutbild kontrolliert werden, insbe-
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sondere in den ersten Behandlungswochen besteht das Risiko einer Agranulozytose. Und: Obwohl auch hochaltrige Patienten postoperativ häufig mit einer Kombination aus Paracetamol (4 × 500 g/Tag) und Metamizol (4 × 500 g/Tag) aus dem Spital entlassen würden, gebe es keine Evidenz dafür, dass diese Kombination synergistisch wirke. Auf NSAR würde Kunz im Alter bei einer eingeschränkten Nierenfunktion eher verzichten, es besteht ein hohes Risiko für eine Verschlechterung der Nierenfunktion.
Topische Massnahmen nicht vergessen
Bei lokalisiertem peripherem Schmerz können auch topische Massnahmen viel bringen, zum Beispiel NSAR als Creme oder Patch, Wärmepflaster bei nicht entzündlicher Problematik und Kälte bei entzündlichen Komponenten. Bei neuropathischen Schmerzen, die oft schwer in den Griff zu bekommen sind, kommen als Adjuvanzien Antikonvulsiva, Antirheumatika oder dual wirksame Antidepressiva zum Einsatz, auf trizyklische Antidepressiva ist wegen der Nebenwirkungen im Alter zu verzichten. Reicht das alles nicht aus, stehen in einem nächsten Schritt Opiate zur Verfügung.
Kasten 1:
Philadelphia Geriatric Center Pain Intensity Scale
1. Wie stark wurden Sie in den letzten Wochen ganz allgemein durch Schmerzen beeinträchtigt?
2. Wie stark sind Sie im Moment durch Schmerzen beeinträchtigt?
3. Wie stark sind Sie von den Schmerzen beeinträchtigt, wenn sie am stärksten sind?
4. Wie viele Tage in der Woche werden die Schmerzen richtig schlimm?
5. Wie stark sind Sie von den Schmerzen beeinträchtigt, wenn sie am schwächsten sind?
6. Wie stark beeinträchtigen die Schmerzen ihre Alltagsaktivität?
Mit Ausnahme von Punkt 4, für den die Anzahl Tage verzeichnet wird, gilt folgende Skala: 1 = überhaupt nicht, 2 = ein wenig, 3 = mässig, 4 = ziemlich stark, 5 = sehr stark
Adaptiertes WHO-Konzept im Alter
Beim WHO-Konzept ist im Alter eine gewisse Anpassung erforderlich (siehe auch Abbildung). «By the mouth» bedeutet hier, vor allem an die geeignete Galenik zu denken. Kann der alte Patient grosse Tabletten schlucken? Wären Tropfen besser? Welche Tabletten darf man mörsern beziehungsweise welche Kapseln öffnen? «By the clock» erinnert an fixe Dosierungsintervalle, am besten mit retardierten Präparaten, um eine gleichmässige Wirkung zu erzielen. «By the ladder» bedeute im Alter, dass man nach den bereits vorgestellten Medikamenten der Stufe 1 (Nichtopioide, Paracetamol, Metamizol, NSAR + evtl. Adjuvanzien) direkt auf Präparate der Stufe 3 wechseln sollte, da die der Stufe 2 (Tramadol und Codein) bei
geriatrischen Patienten mit mehr Nebenwirkungen einhergingen, so Kunz. Beim Einsatz von Opiaten ist auf Begleitprobleme zu achten. So sollte etwa bei Patienten mit vorbestehender Niereninsuffizienz kein Morphin eingesetzt werden. Es besteht die Gefahr der Kumulation seiner aktiven Metaboliten, was zu zentralnervösen Nebenwirkungen führen kann. Erfahrungsgemäss seien Buprenorphin und Hydromorphon (die Hydromorphonkapseln dürfen bei Schluckbeschwerden geöffnet werden) für geriatrische Patienten am besten geeignet, so Kunz, alle anderen Opiate könnten unter Berücksichtigung der entsprechenden Vorsichtsmassnahmen jedoch ebenfalls verwendet werden.
Schmerzerfassung und Schmerzanalyse
Kausale Therapie
Symptomatische Therapie
Altersadaptiertes WHO-Konzept: • by the mouth: Galenik, Applikationsform • by the clock: fixes Dosierungsintervall • by the ladder: Stufe 1 → Stufe 3
Stufe 1: Nichtopioide/Paracetamol, Metamizol, NSAR + evtl. Adjuvanzien
Stufe 2: Mehr Nebenwirkungen als Stufe 3 bei geriatrischen Patienten. Deshalb überspringen.
Stufe 3: Opioide: Morphin, Hydromorphon, Oxycodon, Buprenorphin, Fentanyl + evtl. Adjuvanzien
Abbildung: Adaptiertes WHO-Konzept der Schmerztherapie im Alter
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Komplexität der Schmerztherapie im Alter
Multimorbidität:
Komplexität, Polypharmazie,
Interaktionen
Veränderter Metabolismus:
Nebenwirkungen, Toxizität
Kognitive Beeinträchtigung:
erschwerte Erfassung und
Kooperation
Schwierige Lebenssituation:
Total Pain
Erschwerte Compliance:
geeignete Galenik
Die Lebenssituation nicht aus den Augen verlieren
Abschliessend erinnerte Kunz noch daran, beim alten Patienten die ganze Situation im Auge zu behalten. Häufig liegen schwierige Lebenssituationen vor, die mit weitaus mehr als nur körperlichen Schmerzen einhergehen. Die Schmerzmedikamente wirken auf den nozizeptiven Schmerz, um neben den körperlichen auch seelische, soziale oder spirituelle Schmerzkomponenten (Total Pain) zu lindern, bedarf es eines breiteren Ansatzes, um die Lebensumstände der Patienten zu verbessern und so einen Beitrag zur Schmerzlinderung zu leisten. s
Christine Mücke
Quelle: «Chronische Schmerztherapie beim geriatrischen Patienten» (Sanofi) Vortrag von Dr. med. Roland Kunz im Rahmen des FOMF Allgemeine Innere Medizin Update Refresher, 1. Februar 2020, Basel
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