Transkript
Schwerpunkt
Erster Fieberkrampf – was tun?
Beruhigen, beraten und abklären
Fieberkrämpfe sind die häufigste neurologische Erkrankung im Kindesalter, und sie treten bei 2 bis 5 Prozent der Kinder im Alter von 3 Monaten bis 5 Jahren auf. Viele Eltern berichten von grosser Angst und Hilflosigkeit in dieser Situation. Eine umfassende Information und Beratung durch den Kinderarzt gibt den Eltern Sicherheit und befähigt sie, kompetent auf weitere Fieberkrämpfe ihrer Kinder zu reagieren.
Von Anina Enderli und Anja Leiber
Fieberkrämpfe sind meist generalisierte tonisch-klonische Gelegenheitsanfälle bei Fieber über 38 °C ohne Hinweise auf eine zerebrale Infektion oder eine metabolische Ursache. Sind zuvor afebrile Anfälle aufgetreten, spricht man nicht mehr von Fieberkrämpfen, sondern von fiebergebundenen zerebralen Anfällen. Ein erster Fieberkrampf nach dem Alter von 3 Jahren ist selten, die meisten Fieberkrämpfe treten im Alter von 12 bis 18 Monaten auf. Fieberkrämpfe kommen typischerweise im Rahmen von viralen Infekten oder bei febrilen Reaktionen nach Impfungen vor. Hier sind insbesondere Impfstoffe gegen Masern hervorzuheben, wobei die Fieberkrämpfe 5 bis 12 Tage nach der Impfung auftreten, und zwar fast ausschliesslich nach der ersten verabreichten Impfung. Das Risiko für einen Fieberkrampf ist bei der kombinierten MMRV-Impfung im Vergleich zur MMR-Impfung doppelt so hoch, bei einem allerdings niedrigen absoluten Risiko von 2 bis 4 Fieberkrämpfen auf 10 000 Impfdosen (1). Jedoch ist zu beachten, dass Impfungen Krankheiten vorbeugen und dadurch auch Fieberkrämpfe verhindern. Vorausgegangene Fieberkrämpfe sollten nicht von der Durchführung weiterer Impfungen abhalten. Rasch ansteigendes, hohes Fieber und eine positive Familienanamnese sind Risikofaktoren. Unkomplizierte Fieberkrämpfe dauern meist 1 bis 3 Minuten. Sie gehen mit Bewusstseinsverlust einher und sind generalisiert tonisch, tonisch-klonisch oder atonisch. In rund 20 Prozent der Fälle handelt es sich um sogenannte komplizierte Fieberkrämpfe (Tabelle 1) (2). Ein Drittel der Kinder erleidet wiederholte Fieberkrämpfe. Risikofaktoren hierfür sind ein erster Anfall im Alter von weniger als 15 Monaten, eine relativ niedrige Körpertemperatur (< 38 °C) beim ersten Anfall, eine kurze Fieberdauer (weniger als eine Stunde) zum Zeitpunkt des Anfalls, komplizierte Fieberkrämpfe, Entwicklungsverzögerung oder eine positive Familienanamnese (2, 3). 90 Prozent der Rezidive treten innerhalb von 2 Jahren nach dem ersten Fieberkrampf auf.
Welche Folgen können Fieberkrämpfe haben?
Das Risiko für eine Epilepsie liegt in der Durchschnitts-
bevölkerung bei 0,5 Prozent. Kinder mit unkomplizierten
Fieberkrämpfen haben mit 1 bis 2 Prozent ein diskret
höheres Risiko, im weiteren Verlauf eine Epilepsie zu ent-
wickeln. Bei komplizierten Fieberkrämpfen steigt dieses
Risiko auf 5 bis 15 Prozent (3, 4). Entwickeln Kinder nach
Fieberkrämpfen eine Epilepsie, geschieht das meist im
Kindesalter, selten im Erwachsenenalter.
Entgegen der bisherigen Annahme, dass Fieberkrämpfe
sich nicht auf die weitere Entwicklung und die langfris-
tige Morbidität der Kinder auswirken, zeigen neuere Stu-
dien bei einem Teil der Kinder Entwicklungsauffälligkei-
ten und eine erhöhte Rate
an psychiatrischen Komorbiditäten. Weiterhin gilt, dass nach einmali-
Ein Drittel der Kinder erleidet wiederholte Fieberkrämpfe.
gem unkompliziertem Fie-
berkrampf kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung
neurologischer Defizite oder eine Beeinträchtigung kog-
nitiver Funktionen besteht.
Rezidivierende Fieberkrämpfe gehen möglicherweise mit
einem erhöhten Risiko für eine verzögerte Sprachent-
Tabelle 1:
Kriterien für komplizierten Fieberkrampf
● Dauer > 15 Minuten ● fokale Merkmale ● mehrere Anfälle innerhalb von 24 Stunden ● postiktale Parese (Todd’sche Parese) ● familiäre Epilepsiebelastung ● vorbestehende neurologische Auffälligkeit
oder auffällige Entwicklung
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Tabelle 2:
Mögliche Indikationen für eine EEG-Untersuchung nach einem Fieberkrampf
● mehr als 3 Anfälle/Jahr ● rezidivierende Fieberkrämpfe bei Kindern
mit Entwicklungsverzögerung ● familiäre Epilepsiebelastung ● sehr besorgte Eltern
wicklung einher (3). Nach prolongierten Fieberkrämpfen
fanden sich Hinweise für Gedächtnisschwierigkeiten.
Eine Studie aus Dänemark lieferte Hinweise auf ein er-
höhtes Risiko für das Auftreten psychiatrischer Erkran-
kungen bei Kindern mit rezidivierenden Fieberkrämpfen
(5). Zur Häufigkeit von
Nach einem ersten Fieberkrampf erhält jeder Patient eine Notfallmedikation.
ADHS bei Kindern mit Fieberkrämpfen liegen Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen vor.
Eine 2019 publizierte Stu-
die mit dänischen Kindern ergab ein deutlich erhöhtes
Risiko für das Auftreten eines ADHS nach Fieberkrämpfen
(6). Für eine fundierte Beurteilung dieser Fragen sind wei-
tere Studien nötig.
Notwendige Diagnostik
Diagnostisch erfolgt bei Fieberkrämpfen eine ausführliche Anamneseerhebung mit Fragen nach der Fieberursache (viraler Infekt, Impfung), der Höhe des Fiebers, dem Verlauf des Fieberkrampfes, relevanten Vorerkrankungen und der bisherigen Entwicklung des Kindes sowie dem familiären Auftreten von Fieberkrämpfen oder Epilepsie. Ergänzt wird die Anamnese durch eine pädiatrisch-internistische und neurologische Untersuchung. Fokale neurologische Auffälligkeiten sollten weiter evaluiert werden. Eine Laboruntersuchung ist bei klarer Diagnose eines Fieberkrampfes nicht routinemässig erforderlich. Sie richtet sich nach dem klinischen Zustand des Kindes. Bei komplizierten Fieberkrämpfen kann sie zum Ausschluss einer Elektrolytentgleisung oder Hypoglykämie hilfreich sein. Besteht der Verdacht auf eine Meningitis oder Enzephalitis müssen eine Laboruntersuchung und eine Liquorpunktion erfolgen. An eine Meningitis oder Enzephalitis muss insbesondere bei protrahierter Somnolenz, postiktalen neurologischen Auffälligkeiten und febrilem Status
Tabelle 3:
Notfallmedikation bei Fieberkrampf
1. Wahl 2. Wahl
< 15 kg Körpergewicht > 15 kg Körpergewicht 6 Monate bis < 1 Jahr 1 – 5 Jahre 5 – 10 Jahre > 10 Jahre
5 mg Diazepam rektal 10 mg Diazepam rektal Midazolam bukkal (Buccolam) 2,5 mg (gelb) Midazolam bukkal 5 mg (blau) Midazolam bukkal 7,5 mg (violett) Midazolam bukkal 10 mg (orange)
epilepticus gedacht werden (2, 3). Bei Kindern im Alter unter 12 Monaten soll die Indikation für eine Liquorpunktion grosszügig gestellt werden. Bei unklarer neurologischer Situation, anhaltender Somnolenz und fokalen Anfällen ist eine Bildgebung (CT/MRI) zu erwägen. Eine Indikation für eine EEG-Ableitung besteht auch bei komplizierten Fieberkrämpfen nur in den wenigsten Fällen (Tabelle 2). Eine Aussage zum Rezidivrisiko lässt sich anhand des EEG nicht sicher treffen. Die EEG-Untersuchung soll nach Möglichkeit im fieberfreien Intervall im Rahmen einer neuropädiatrischen Konsultation erfolgen. Eine Ausnahme stellen fokale Fieberkrämpfe dar. Bei diesen besteht die Indikation für eine notfallmässige EEG-Ableitung zum Ausschluss einer Herpes-Enzephalitis. Bei einem Anfall ohne Fieber sind immer eine EEG-Ableitung und eine Vorstellung in der Neuropädiatrie zeitnah anzustreben.
Management und Therapie
Während und nach dem Fieberkrampf ist die Überwachung der Vitalparameter obligat. Dauert ein Fieberkrampf länger als 3 bis 5 Minuten, soll dieser durch Gabe einer Notfallmedikation unterbrochen werden. Je länger ein Fieberkrampf dauert, desto schwieriger ist es, diesen zu unterbrechen. Medikament der ersten Wahl ist bei Kleinkindern rektal verabreichtes Diazepam. Wenn bei älteren Kindern eine rektale Applikation aus sozialer Sicht nicht mehr möglich ist, kann alternativ Midazolam bukkal verabreicht werden. Die Dosierungen der Notfallmedikamente sind in Tabelle 3 dargestellt. Eine antikonvulsive Dauermedikation oder eine medikamentöse Prophylaxe bei fieberhaften Infekten ist nur in Einzelfällen gerechtfertigt und sollte nur in Rücksprache mit einem Neuropädiater verordnet werden (2, 3). Eine medikamentöse Prophylaxe senkt das Epilepsierisiko nicht. Eine prophylaktische Antipyrese wird nicht mehr empfohlen. Studien konnten zeigen, dass diese weder das Rezidivrisiko für Fieberkrämpfe noch das spätere Epilepsierisiko senkt. Die Antipyrese orientiert sich auch bei Kindern mit Fieberkrämpfen am klinischen Allgemeinzustand des Kindes (2). Nach dem ersten Fieberkrampf wird eine Hospitalisation für eine Nacht empfohlen. Bei unkomplizierten Fieberkrämpfen dient diese in erster Linie der Aufklärung und der Beratung der Eltern. Stets hospitalisiert werden Kinder mit postiktaler Somnolenz für länger als 30 Minuten, postiktal neurologischen Auffälligkeiten, unklarem Infektfokus sowie Kinder, die jünger als 12 Monate sind. In diesen Fällen ist meist auch der Beizug eines Neuropädiaters empfehlenswert, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Elternberatung ist wichtig!
Eine ausführliche Beratung und Aufklärung der Eltern ist essenziell (2). Diese erfolgt bei Hospitalisation des Kindes möglichst am Tag nach dem Fieberkrampf, um die notwendige Ruhe und Konzentration zu gewährleisten. Ängste und Sorgen der Eltern können so ernst genommen und berücksichtigt werden. Wichtig ist es, den Eltern den meist gutartigen Verlauf der Fieberkrämpfe aufzuzeigen. Ein unkomplizierter Fieberkrampf hat keine
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Auswirkung auf die kognitive Entwicklung des Kindes. In aller Regel treten Fieberkrämpfe jenseits des 6. Lebensjahres nicht mehr auf. Die Eltern müssen wissen, dass eine frühzeitige Antipyrese einen Fieberkrampf NICHT verhindern kann. So können Eltern auch von nicht selten vorhandenen Schuldgefühlen entlastet werden. Das Vorgehen bei einem eventuell auftretenden Rezidiv des Fieberkrampfs soll detailliert besprochen werden. Erste Massnahme bei einem Anfall ist der Schutz des Kindes vor Verletzungen. Im Anfall soll das Kind nicht festgehalten werden. Es sollen keine Gegenstände in den Mund gegeben werden. In den meisten Fällen stoppt der Anfall ohne Intervention innerhalb von 3 Minuten. Nach dem Anfall wird die Atmung des Kindes überprüft und das Kind in die Seitenlage gelegt. Die Eltern müssen wissen, dass das Kind nach dem Anfall müde ist und schläft. Nach einem ersten Fieberkrampf erhält jeder Patient eine Notfallmedikation. In der Regel wird Diazepam rektal verordnet, ansonsten Midazolam bukkal. Die Aufklärung der Eltern beinhaltet die Erklärung und idealerweise die modellhafte Demonstration der Verabreichung der Notfallmedikation. Die Notfallmedikation soll von den Eltern stets mitgeführt werden. Dauert ein Anfall länger als 3 bis 5 Minuten, soll die Notfallmedikation von den Eltern verabreicht und medizinische Hilfe gesucht werden. Auch die Information von Betreuungseinrichtungen (Kindertagesstätte, Kindergarten, evtl. Schule) und Grosseltern oder anderen Bezugspersonen hilft, bei einem möglichen Rezidiv rasch und korrekt zu handeln und Ängste abzubauen.
Fazit
Fieberkrämpfe sind ein häufiges und für die Eltern oft dramatisches Krankheitsbild im Kindesalter. Meist ist neben Anamnese und Untersuchung keine weitere Diagnostik erforderlich. Eine umfassende Aufklärung und Beratung der Bezugspersonen kann Ängste abbauen und eine rasche kompetente Behandlung fördern.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Anja Leiber Oberärztin Neuropädiatrie Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: anja.leiber@kispisg.ch
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Literatur: 1. Klein P et al.: Measles-mumps-rubella-varicella combination vaccine and the risk of febrile seizures. Pediatrics 2010; 126()1): e1-8. 2. Patel N et al.: Febrile seizures. BMJ 2015; 351: h4240. 3. Leung AKC, Hon KL, Leung TNH: Febrile seizures: an overview. Drugs in context 2018; 7: 212536. 4. Camfield P, Camfield C: Febrile seizures and genetic epilepsy with febrile seizures plus (GEFS+). Epileptic Disord 2015; 17(2): 124–133. 5. Dreier J et al.: Evaluation of long-term risk of epilepsy, psychiatric disorders, and mortality among children with recurrent febrile seizures. A national cohort study in Denmark. JAMA Pediatr 2019; 173(12): 1164–1170. 6. Bertelsen E et al.: Childhood epilepsy, febrile seizures, and subsequent risk of ADHD. Pediatrics 2016; 138(2): e20154654.
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