Transkript
SUMMER SCHOOL
Orthopädie
Bei Knieschmerzen auch an die Hüfte denken!
Der folgende Fall ist ein typisches Beispiel dafür, wie mangelnde Sorgfalt bei der Anamnese und die Fehlinterpretation klinischer Befunde auf therapeutische Irrwege führen können. Bei Knieschmerzen muss immer die gesamte untere Extremität beidseits untersucht werden.
Luzi Dubs
Der 64-jährige Bankangestellte meldet sich beim Hausarzt wegen Knieschmerzen rechts, die nicht klar zu lokalisieren sind. Beim Tennisspiel sind sie verstärkt. Die klinische Untersuchung auf der Praxisliege zeigt eine freie Beugung von 140 Grad bei voller Streckung. Das Knie ist nicht überwärmt und stabil. Druckschmerzen sind mehr vorne und auf der Innenseite, speziell auch im Gelenkspalt. Da nach sechswöchiger Schonung keine Besserung eingetreten ist, überweist der Hausarzt seinen Patienten wegen Verdacht auf Meniskusläsion, eventuell Knorpelläsion, zum Radiologen zwecks MRI. Die MRI-Bilder werden folgendermassen beurteilt: horizontaler Meniskusriss im Hinterhorn medial und zweitgradige Knorpelschädigungen medial und retropatellär. Kein Bone-Bruise, Bänder intakt, kein Erguss. Im Bericht des zugezogenen Orthopäden, dem die MRI-Bilder vorgängig zugestellt worden sind, heisst es: «Die Anamnese kann ich freundlicherweise als bekannt voraussetzen. Tatsächlich findet man einen Druckschmerz im medialen Gelenkspalt. Die Knorpelschäden sind zum Glück noch nicht fortgeschritten. Der Patient braucht nun eine arthroskopische Sanierung, und er wünscht den Eingriff bald. Er wird morgen für einen kurzstationären Aufenthalt auf der Privatabteilung vorgesehen, ich werde Ihnen wieder berichten.» Nach erfolgter medialer Teilmeniskusentfernung bleiben die gleichen Schmerzen fortbestehend, trotz Physiotherapie und trotz dreier intraartikulärer Kortisoninjektionen.
Erneute Abklärung ist notwendig
Nach sechs Monaten entscheidet sich der Patient für eine Zweitmeinung. Diese Beurteilung erfolgt äusserst gründlich: In der Familienanamnese kommt die Hüftarthrose bei beiden Eltern vor. Der Patient berichtet, die Knieschmerzen seien nicht lokalisierbar und teilweise sei ein Anlaufschmerz vorhanden. Das Schuhebinden verursache in letzter Zeit Schwierigkeiten. Auch nachts beim Drehen im Bett habe er ein Ziehen im Oberschenkel. Die rezeptfrei erhältlichen Schmerzmittel hätten kaum genützt. Die Knieschmerzen seien kaum zu lokalisieren, sie seien «irgendwie um das ganze Knie herum». Bei der Prüfung des Gangbildes im Sprechzimmer fällt eine Duchenne-Verlagerung nach rechts auf, die Schrittlänge erscheint verkürzt. Der Finger-Boden-Abstand beträgt 10 cm, die lumbale Seitneigung erscheint etwas träge und leicht eingeschränkt bei Exkursion nach links. Zehen- und Fersengang sind seitengleich gut möglich. Das Kauern ist weitgehend
symmetrisch gut möglich. Im Liegen zeigt die Hüftuntersuchung eine Beugung rechts bis 100 Grad, links bis 120 Grad. Die Abduktion beträgt rechts höchstens 10 Grad, links 40 Grad. Die Rotation ist in 10 Grad Aussenrotation fast blockiert, links beträgt die Aussen/Innenrotation 40-0-15 Grad. Am Oberschenkel findet sich ein Muskelumfangdefizit zur Gegenseite von 3 cm. Das Knie ist frei beweglich, stabil und reizlos. Die periphere Sensomotorik und die Pulse sind regelrecht. Bereits jetzt lässt sich nach einer im üblichen Umfang vorgenommenen klinischen Befragung und Untersuchung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass rechts eine Hüftarthrose vorliegt. Damit sind die Knieschmerzen erklärt.
Ab wann lief es bei diesem Fall in die falsche Richtung?
Die Arthroskopie-Indikation basierte auf einer Fehlinterpretation infolge unsorgfältiger und unvollständiger Erhebung der Anamnese und der klinischen Befunde. Als Versicherungsarzt sieht man derartige Verläufe leider öfters, wenn es um nachträgliche Kostengutsprachen oder um die Kausalität geht. Die Dokumentationsqualität scheint sich in den vergangenen Jahren tendenziell eher verschlechtert zu haben. Der Zeitdruck beziehungsweise die limitierte Vergütung des nötigen Zeitaufwandes kann durchaus eine erhebliche Rolle spielen.
Fazit
Zu jeder Abklärung eines Knieschmerzes gehört obligat eine
Beurteilung der gesamten unteren Extremität beidseits, ein-
geschlossen sind auch die komplexen Funktionsproben.
Dass dies in einer hausärztlichen Praxis im Alltagsstress ge-
legentlich etwas nachlässig ablaufen kann, ist eher nachvoll-
ziehbar als ein fachärztliches Verhalten, das sich darauf be-
schränkt, vornehmlich die im MRI gefundenen Veränderun-
gen klinisch unkritisch zu bestätigen.
s
Dr. med. Luzi Dubs Rychenbergerstr. 155 8400 Winterthur E-Mail: dubs.luzi@bluewin.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Fallbericht bestehen.
ARS MEDICI 14–16 | 2020
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