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P+N_3_2020
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46375
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3_2020
Juni
Notfall- und Akutpsychiatrie
Psychiatrische Notfallinterventionen Fürsorgerische Unterbringung Zwangsmassnahmen Deeskalation
Kopfweh
Clusterkopfschmerzen CGRP-Antikörper Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerz in verschiedenen Disziplinen

E D I T O R I A L Notfallpsychiatrie erfordert ein klares,
evidenzbasiertes Handeln

I n diesem Heft widmen wir uns der Akut- und Notfallpsychiatrie, die ein facettenreiches Gebiet ist. Einerseits kann Akutpsychiatrie häufig sehr schnelle Therapieerfolge erzielen, andererseits können Zwangsmassnahmen und geschlossene Abteilungen zum Stigma des Faches Psychiatrie beitragen. Notfallpsychiatrie erfordert zum einen ein klares, evidenzbasiertes Handeln und ist zum anderen dabei gesellschaftlichen, gesetzlichen sowie regionalen Unterschieden unterworfen.
Über die regionalen, kantonalen Unterschiede von Unterbringungsraten berichten Florian Hotzky und Matthias Jäger von der Psychiatrie Baselland. Sie zeigen, dass die Rate an fürsorgerischen Unterbringungen in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern hoch ist und es deutliche kantonale Unterschiede gibt (Seite 10 ff.). Die grossen Unterschiede bei den Unterbringungsraten resultieren aus verschiedenen gesetzlichen Kriterien sowie zeitlichen und prozeduralen Aspekten. Zwang wird aber auch gesteuert durch die Haltung von Professionellen und ist somit stärker durch die Klinikkultur geprägt als durch die Patienten.
In dem Artikel von Thomas Reisch vom Psychiatriezentrum Münsingen AG geht es um Suizidalität und Verzweiflung (Seite 20 ff.). Er zeigt auf, wie wichtig es ist, dass Suizide verhindert werden, weil gerettete Menschen selten an einem weiteren Suizid versterben. Eine suizidale Krise ist also vorübergehend; das Thema Suizid muss allerdings von Ärzten angesprochen werden.
Robert Maier aus dem Sanatorium Kilchberg, Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, beschreibt in seinem Artikel die unterschiedlichen psychiatrischen Notfälle, wie sie aussehen, wie sie diagnostiziert werden können und welche Interventionsmöglichkeiten existieren. Als wichtig für die Gestaltung der Notfallintervention im Sinne des Patienten wird vor allem das Hinzuziehen einer Patientenverfügung, einer Vertrauensperson, eines Beistandes und auch immer von Angehörigen

empfohlen (Seite 4 ff.). Robert Maier betont insbesondere die Wichtigkeit eines interdisziplinären Herangehens, den Einbezug des sozialen Umfelds und den wertschätzenden Kontakt.
Tiziana Ziltener und Christian Huber von den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel geben einen Überblick über aktuelle Konzepte und Massnahmen zur Reduktion von Zwang, welche Traumatisierung, psychische Folgestörungen und Stigmatisierung verhindern können. Diese beinhalten zum Beispiel Safewards, die vor allem die Interaktion von Personal und Patienten betreffen und auf verschiedene Aspekte des Stationsklimas fokussieren (Seite 13 ff.). Auch die Open-Door-Politik, die eine Verhinderung von Crowding, den Erhalt der Privatsphäre, das Mitspracherecht der Patienten und die Reduktion von Einschränkungen beinhaltet, spielt eine Rolle, ebenso wie die psychotherapeutische Begleitung der Patienten.
Aus der Perspektive der Pflege berichten Fabienne Roth und Franziska Rabenschlag über ihre Erfahrungen mit verschiedenen Implementierungen in den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. Im Beitrag werden beispielsweise die RADAR-Methode von Leo Regeer vorgestellt, die Bedeutung frühzeitiger Interventionen, Meldesysteme und auch die Art und die Bedeutung der richtigen Kommunikation, die auch die Wahl der Sprache bedingt (Seite 17 ff.).
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre. l
Prof. Undine Lang Klinikdirektorin der Klinik für Erwachsene
und Privatklinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel  Professorin für Psychiatrie und Psychotherapie der
Universität Basel Wilhelm-Klein-Strasse 27
4002 Basel E-Mail: Undine.Lang@upk.ch

3/2020

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

1

Undine Lang

INHALT

erscheint fünfmal jährlich als Beilage zu ARS MEDICI
Verlag Rosenfluh Publikationen AG Schaffhauserstrasse 13, 8212 Neuhausen am Rheinfall Tel. 052-675 50 60, Fax 052-675 50 61, E-Mail: info@rosenfluh.ch www.rosenfluh.ch
Redaktion Annegret Czernotta Tel. 076-495 32 82, Fax 052-675 50 61 E-Mail: a.czernotta@rosenfluh.ch
Sekretariat Sandra Sauter Tel. 052-675 50 60, Fax 052-675 50 61 E-Mail: s.sauter@rosenfluh.ch
Herausgeberboard Dr. med. Gerhard Ebner M.H.A., Zürich Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Basel Prof. Dr. med. Dr. Martin E. Keck, D-Gailingen Prof. Dr.med. Undine Lang, Basel Prof. Dr. med. Andreas Lutterotti, Zürich Prof. Dr. med. Peter S. Sandor, Baden Prof. Dr. med. Till Sprenger, D-Wiesbaden Prof. Dr. med. Marc Walter, Basel
Beirat Prof. Dr. med. Thierry Ettlin, Rheinfelden Prof. Dr. med. Klaus Hoffmann, D-Reichenau/Konstanz Dr. med. Günter Krämer, Zürich Prof. Dr. med. Michael Linnebank, D-Hagen-Ambrock Dr. med. Rita Schaumann-von Stosch, Luzern Dr. med. Wolfgang Schleinzer, Nottwil Dr. med. Heinrich Vogt, Zürich Prof. Dr. med. Henning Wormstall, Schaffhausen
Verkauf Jeanine Bleiker Tel. 052-675 50 53, Fax 052-675 50 51 E-Mail: j.bleiker@rosenfluh.ch
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Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlags © Copyright by Rosenfluh Publikationen AG, 8212 Neuhausen am Rheinfall
20. Jahrgang; April 2020; ISSN 1661-2051
Das Heft ist online einsehbar unter www.psychiatrie-neurologie.ch
Liebe Leserin, lieber Leser Wenn in dieser Zeitschrift von «Arzt» oder von «Patient» die Rede ist, sind selbstverständlich auch alle Ärztinnen und Patientinnen gemeint beziehungsweise angesprochen. Wir haben diese Formulierung lediglich aus Gründen der Einfachheit und der besseren Lesbarkeit gewählt.
Alle Rechte beim Verlag. Nachdruck und Kopien von Beiträgen und Abbildungen in jeglicher Form wie auch Wiedergaben auf elektronischem Weg und übers Internet, auch auszugsweise, sind verboten beziehungsweise bedürfen der schriftlichen Genehmigung des Verlags. Der Verlag übernimmt keine Garantie oder Haftung für Preisangaben oder Angaben zu Diagnose und Therapie, im Speziellen für Dosierungsanweisungen. Mit der Einsendung oder anderweitigen Überlassung eines Manuskripts oder einer Abbildung zur Publikation erklärt sich die Autorenschaft damit einverstanden, dass der entsprechende Beitrag oder die entsprechende Abbildung ganz oder teilweise in allen Publikationen und elektronischen Medien der Verlagsgruppe veröffentlicht werden kann. Bei einer Zweitveröffentlichung werden der Autor informiert und die Quelle der Erstpublikation angegeben.
Titelbild: © Can Stock Photo / SergeyNivens
2

EDITORIAL
«Notfallpsychiatrie erfordert ein klares, evidenzbasiertes Handeln»
von Undine Lang

1

FORTBILDUNG: AKUT- UND NOTFALLPSYCHIATRIE
Psychiatrische Notfallinterventionen
von Robert Maier
Fürsorgerische Unterbringung in der Schweiz: Hintergründe, Unterschiede, Strategien
von Florian Hotzy, Anastasia Theodoridou, Matthias Jäger
Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie – eine Auswahl aktueller Konzepte und Interventionen
von Tiziana Ziltener, Julian Mo?ller, Franziska Rabenschlag, Fabienne Roth, Undine E. Lang und Christian G. Huber
Deeskalation in der Akutpsychiatrie – am Beispiel der UPK Basel
von Fabienne Roth, Franziska Rabenschlag, Tiziana Ziltener, Julian Möller und Christian E. Huber
Verzweiflung und Suizidalität
von Thomas Reisch

4 10 13
17 20

EDITORIAL
Monoklonale Antikörper bei Migräne: «Noch fehlt die Langzeiterfahrung»
von Peter Sandor und Andreas Gantenbein25

25

FORTBILDUNG: KOPFWEH
Clusterkopfschmerzen
von Heiko Pohl
Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerz in verschiedenen Disziplinen
Interview mit Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld, Zürich, Dr. med. Sven Brockmüller, Nottwil, Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner, Luzern
CGRP: «Weniger Nebenwirkungen als in der Behandlung mit Plazebo»
Interview mit PD Dr. med. Andreas Gantenbein
Das Allostasemodell und die Hypnosetherapie bei der Migräneerkrankung
von Sivan Schipper, Peter S. Sandor
Komplementärmedizinische Behandlung von Kopfschmerz m Beispiel der Akupunktur
von Saroj K. Pradhan

26 34
38 40 42

SONDERREPORTE
Migräneprophylaxe mit CGRP-Antikörpern
Deutliche Reduktion der Kopfschmerztage
Prophylaxe bei episodischer und chronischer Migräne
Weniger Migränetage mit neuem CGRP-Antikörper

32 44

PUBLIREPORTAGE
Antipsychotika aus dem klinisch-pharmakologischen Blickwinkel: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

46

KURZ & BÜNDIG Coaching und Medikament zur Migräneprophylaxe

24

BU
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

3/2020

Schizophrenie-Therapie bei Erwachsenen

Ermöglichen Sie Ihren
Patienten REXULTATE1–4

Gute Wirksamkeit in der Akut- und Erhaltungstherapie bei Schizophrenie1–4
86.5% der Patienten ohne Rückfälle über 52 Wochen4
Gute Verträglichkeit: Geringe Inzidenz sedierender oder aktivierender Nebenwirkungen1–5
Ermöglicht langanhaltende Verbesserung in den Alltagsfunktionen4
REXULTI® erö net Möglichkeiten

Referenzen: 1. Kane JM et al. A multicenter, randomized, double-blind, controlled phase 3 trial of fixed-dose brexpiprazole for the treatment of adults with acute schizophrenia. Schizophr Res. 2015;164 (1-3):127-35. 2. Correll CU et al. E cacy and safety of brexpiprazole for the treatment of acute schizophrenia: A 6-week randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Am J Psychiatry. 2015;172(9): 870-80. 3. Correll CU et al. E cacy of brexpiprazole in patients with acute schizophrenia: Review of three randomized, double-blind, placebo-controlled studies. Schizophr Res. 2016;174(1-3):82-92. 4. Fleischhacker WW et al. E cacy and safety of brexpiprazole (OPC-34712) as maintenance treatment in adults with schizophrenia: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. Int J Neuropsychopharmacol. 2017;20(1):11-21. 5. Citrome L. Activating and sedating adverse e ects of second-generation antipsychotics in the treatment of schizophrenia and major depressive disorder: Absolute risk increase and number needed to harm. J Clin Psychopharmacol. 2017;37(2):138-147.

Kurzfachinformation REXULTI® (Brexpiprazol): I: Zur Behandlung von Schizophrenie bei erwachsenen Patienten. D: Orale Verabreichung. Empfohlene Dosierung von 2-4 mg einmal täglich. Von Tag

1 bis 4, 1 mg einmal täglich. Am Tag 5 wird auf 2 mg titriert, anschliessend am Tag 8 auf 4 mg, je nach klinischem Ansprechen des Patienten. Empfohlene maximale Tagesdosis 4 mg. KI: Kinder

und Jugendliche <18 Jahre. Überempfindlichkeit gegen den Wirksto oder einen der Hilfssto e. Enthält Laktose. VM: Erhöhte Mortalität bei älteren Patienten mit demenzbedingter Psychose. Ältere Patienten (>65 Jahre). Zerebrovaskuläre Erkrankungen. Suizidalität. Risikofaktoren für venöse Thromboembolien. Malignes neuroleptisches Syndrom. Spätdyskinesien. Hyperglykämie. Diabetes. Ge-

wichtszunahme. Dyslipidämie. Orthostatische Hypotonie und Synkope. Krampfanfälle. Thermoregulation. Dysphagie. Leukopenie, Neutropenie und Agranulozytose. Impulskontrollstörungen (inklusive

Spielsucht). Leber- oder/und Nierenfunktionsstörungen. IA: Starke CYP2D6 Hemmer. Ketoconazol und andere starke CYP3A4 Hemmer. Rifampicin und andere CYP3A4 Induktoren. Potenzieller

Hemmer des BCRP-E ux-Transporters von BCRP, OATP1B1, MATE1 und MATE2-K. SS/S: Nicht empfohlen. UAW: Häufig: Unruhe, Akathisie, Tremor, Sedierung, Schwindel, Durchfall, Mundtrockenheit,

Bauchschmerzen, Hautausschlag, Rückenschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, Gewichtszunahme, Erhöhung der Kreatinphosphokinase. ÜD: genaue Überwachung, Magenspülung, emetische

Behandlung und elektrokardiographische Überwachung. P: Filmtabletten zu 0.5 mg: 7 [B], 1 mg: 10 und 28 [B], 2 mg, 3 mg und 4 mg: 28 [B]. Kassenzulässig. Die vollständige Fachinformation ist unter

www.swissmedicinfo.ch publiziert. Lundbeck (Schweiz) AG, Opfikon, www.lundbeck.ch

17072018FI

CH-REXU-0161 04.2020

Psychiatrische Notfallinterventionen

FORTBILDUNG

Robert Maier

Bei psychiatrischen Notfällen stehen häufig unspezifische Symptome im Vordergrund, denen verschiedenste Ursachen zugrunde liegen können. Bei der Wahl der Notfallinterventionen spielen die Erfahrung des Behandlers, dessen subjektiver Eindruck der Psychopathologie und des Verhaltens sowie die räumlichen Umstände (stationär, ambulant oder teilstationär) und der soziale und rechtliche Kontext eine Rolle. Dieser Übersichtsartikel beschäftigt sich mit der Notfallbehandlung im stationären Setting einer psychiatrischen Klinik, wobei einige der beschriebenen Notfallinterventionen auch in anderer Umgebung unter Berücksichtigung der jeweiligen Umgebungsvariablen Anwendung finden können.

von Robert Maier
Einleitung
D er psychiatrische Notfall ist in aller Regel der Endpunkt eines Prozesses und nicht ein spontan auftretendes Ereignis. Die Bewältigungsstrategien eines Menschen, der sich zu Beginn in einer psychischen Krise befand, versagen, und hinzu kommen Faktoren wie fehlende soziale Unterstützung, fehlender Zugang zum medizinischen Hilfssystem, eine schwere psychische und/oder körperliche Erkrankung, alles Umstände, welche die Entwicklung eines psychiatrischen Notfalls begünstigen. Die Geschwindigkeit, bis es zu einem Notfall kommt, variiert sehr stark und beträgt wenige Minuten bis Wochen. Die Art des entstandenen Notfalls kann in sieben syndromgeleitete Kategorien eingeteilt werden (1): 1. Unruhe und Erregungszustände 2. Akute Suizidalität und selbstschädigendes Verhalten 3. Akute Angst- und Panikstörung 4. Bewusstseinsstörungen und delirante Syndrome/
Verwirrtheitszustände 5. Stupor/Katatonie 6. Drogennotfälle 7. Psychopharmakainduzierte Notfälle
Diese Einteilung ist insofern sinnvoll, da zu Beginn der Notfallbehandlung eine syndromgeleitete Behandlung und nicht eine exakte Diagnosestellung im Vordergrund steht, weil hierfür häufig die notwendigen Informationen fehlen.
Basisabklärung und erweiterte Diagnostik Die Diagnostik soll dem interdisziplinären Behandlungsteam (Mitarbeitende des ärztlichen, psychologischen und pflegerischen Dienstes, Fachtherapeuten und So-

zialberatende, Peer-Mitarbeitende) helfen, ein Fallverständnis zu entwickeln, wobei es in den ersten Minuten vom interdisziplinären Behandlungsteam selbst abhängt, wie viele Informationen es bei Eintritt gewinnen kann. Eine empathische und partizipative Haltung unter Verwendung deeskalierender Strategien schafft Vertrauen beim Patienten und ebnet damit den Weg für einen offeneren Austausch, bei dem wichtige Informationen für die Basisdiagnostik gewonnen werden können. Zur Basisabklärung (2) zählen ein möglichst ausführlicher psychopathologischer Befund (als Minimalstandard sollen Bewusstsein und Orientierung, Affekt und Antrieb, Denk- und Wahrnehmungsleistung, die Merkfähigkeit, das Gedächtnis sowie Suizidalität und Fremdgefährdung beurteilt werden) und ein Somatostatus (inklusive eines neurologischen Status) mit der Erhebung von Vitalfunktionsparametern. Wenn möglich sollten diese Daten noch durch eine Laboruntersuchung (Blutbild, Elektrolyte, Blutzucker, Transaminasen, Nierenfunktionswerte) und ein EKG ergänzt werden. Ein Alkohol- und Drogenscreening sollte bei Verdacht auf eine Intoxikation durchgeführt werden. Die Erhebung von Fremdangaben ist ein wichtiger Baustein in der Diagnostik, da Patienten in Notfallsituationen häufig wenig oder gar keine Auskunft geben können. Wann immer möglich und unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht sollten Fremdinformationen eingeholt werden. Neben den Angaben des Patienten und des Zuweisers helfen insbesondere die Angaben von Angehörigen dabei, dass sich das Behandlungsteam einen Überblick über vorbestehende psychiatrische und somatische Erkrankungen und Hospitalisierungen, geäusserte Wünsche des Patienten betreffend zukünftiger Behandlungen, die Einnahme von Medikamenten oder Suchtmitteln sowie Änderungen im Denken, Fühlen und Handeln des Patienten verschaffen kann.

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

Eine Revolution1–3 für Ihre Patienten mit therapieresistenter Depression (TRD)#
Erster neuer Wirkmechanismus seit 30 Jahren: Die Glutamat-Hypothese## 4-6

Schneller Wirkeintritt bereits 24 h nach
der Verabreichung‡,2

Reduziertes Rezidivrisiko (70 % bei stabilen Respondern
nach Woche 16)§,3

Nachhaltige Response nach Woche 48¥,7

Einzigartige, nasale Verabreichungsform1

# TRD = Therapieresistente Depression: Schlechtes oder ungenügendes Ansprechen auf mindestens zwei verschiedene Antidepressiva-Behandlungen in der aktuellen depressiven Episode. ## Nach der Entwicklung und Zulassung des SSRI Fluoxetin im Jahr 1987 haben zugelassene Behandlungen (einschliesslich „atypischer“ Antidepressiva wie Mirtazapin, Agomelatin usw.) vermehrt das monoaminerge System in den Vordergrund gerückt. ‡ In der TRANSFORM-2-Studie, ermittelt anhand des Unterschieds zwischen dem MADRS-Gesamtscore und dem Placebo-Nasenspray + neu initiiertem oralen AD als Vergleichspräparat. Spravato® + orales AD demonstrieren eine 4.0-Punkte-Überlegenheit
ggü. Placebo-Nasenspray + oralem AD nach 28 Tagen; p = 0.027. Wirksamkeit nach 24 Stunden war kein Endpunkt der TRANSFORM-2-Studie. § Eine Fortsetzung der Therapie mit Spravato® + neu initiiertem oralem AD reduzierte das Risiko von und verlängerte die Zeit bis zu einem Rezidiv (primärer Endpunkt) im Vergleich zu Patienten, die von Spravato® zu Placebo-Nasenspray wechselten. Alle Patienten erhielten weiterhin das neu initiierte orale AD. ¥ Einarmige Open-Label-Studie, bei der die Sicherheit der primäre Endpunkt war (Wirksamkeit war ein sekundärer Endpunkt). Die Wirksamkeit wurde bei Patienten aufrechterhalten, die während der Einleitungsphase der Therapie mindestens eine Response erreichten und zur Erhaltungsphase übergingen. Response wurde definiert als ≥ 50%ige Reduzierung des MADRS-Gesamtscores gegenüber dem Ausgangswert. Remission wurde definiert als MADRS-Gesamtscore ≤ 12.
1. Spravato® Fachinformation, Stand: Februar 2020, www.swissmedicinfo.ch, aufgerufen am 1. April 2020, 2. Popova V et al., Randomized, Double-Blind Study of Flexibility, Efficacy and Safety of Flexibly Dosed Esketamine Nasal Spray Combined With a Newly Initiated Oral Antidepressant in Treatment-Resistant Depression: A Randomized Double-Blind Active-Controlled Study. Am J Psychiatry 2019, Jun 1;176(6):428-438. 3. Daly EJ et al., Efficacy of Esketamine Nasal Spray Plus Oral Antidepressant Treatment for Relapse Prevention in Patients With Treatment-Resistant Depression: A Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry 2019. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2019.1189. 4. Whiting DW, Cowen DJ, Drug information update: agomelatine. The Psychiatrist 2019;37: 356–358. 5. Valdoxan® (Agomelatin) Fachinformation, Stand: Juli 2017, www.swissmedicinfo.ch, aufgerufen am 6. April 2020. 6. Remeron® (Mirtazapin) Fachinformation, Stand: Mai 2019, www.swissmedicinfo.ch, aufgerufen am 6. April 2020. 7. Wajs E et al., Esketamine nasal spray plus oral antidepressant in patients with treatment-resistant depression: assessment of long-term safety in a phase 3, open-label study (SUSTAIN-2). J Clin Psychiatry 2020; 81(3):19m12891.
Gekürzte Fachinformation Spravato® (Esketamin HCl): DF: 28 mg Esketamin Nasenspray. Lösung. I: Spravato® in Komb. m. oralem Antidepressivum (AD) z. Beh. therapieresist. Episoden e. Major Depression b. Erw., die auf mind. 2 versch. ADs z. Beh. der akt. mittelgrad. bis schweren depr. Episode nicht angesprochen haben. D: Psychiater trifft Entsch. z. Verordn. in Komb. mit oralem AD. Anw. durch Pat. selbst unter dir. Aufs. eines Arztes. Ausstattung zur Wiederbel. u. geschult. med. Fachpers. muss vor, währ. u. nach Verabr. verfügb. sein (inkl. kardiopulm. Wiederbel., Massn. z. akt. Beatmung u. Manag. v. Blutdruckkrisen). Behandl. umf. nasale Anw. u. anschl. mind. 2-stündige ärztl. Nachbeobachtung. 1 Nasenspray: 28 mg, 2: 56 mg, 3: 84 mg, jew. 5 Min. Pause zw. Anw. Wochen (W) 1-4: zwei Behandl./ W.; Tag 1, 56 mg (≥ 65 J.: empf. D. 28 mg). Nachf.: 56 mg o. 84 mg. Therap. Nutzen nach 4 W. beurt. W. 5-8: 56 mg o. 84 mg wöchentl. Ab W. 9: 56 mg o. 84 mg alle 2 W. o. 1x / W. Notw. Weiterbehandl. regelm. prüfen. KI: Schwerwieg. Risiko bei Anstieg d. Blutdruck (BD) o. intrakran. Druck: aneurysmat. Gefässerkrankung; intrazerebr. Blutung; innerh. 6 W. kardiovask. Ereig. einschl. Myokardinfarkt. Überempf. ggü. Esketamin, Ketamin o. Hilfsstoffe. VM: Engm. Überw. v. Dissoziation, Sedierung u. Atemdepression. BD vor Verabr. erhöht, > 140/90 mmHg < 65 J. und > 150/90 mmHg ≥ 65 J.: vor Beh. Änder. d. Lebensstils u./o. medik. Beh. z. BD-Senkung. Kontrolle des BD 40 Min. nach Anw., anschl. nach klin. Ermessen. Mind. 2 St. u. ärztl. Aufs., bis klin. stabil z. Entlassung. Substanzmittelmissbrauch o. –sucht, einschl. Alkohol: sorgf. Nutzen-Risiko-Abwägung. Auf Zeichen e. Abhängigkeit achten. Pot. Effekte auf fötale Entw. nicht auszuschl., währ. Schwangerschaft nicht verw., ausser notw. UAW: Sehr häufig: Dissoziation, Angst, Dysgeusie, Schwankschwindel, Drehschwindel, Sedierung, Hypästhesie, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, erh. Blutdruck. Häufig: euphor. Stimmung, ment. Beeintr., Tremor, Lethargie, Dysarthrie, Tachykardie, Beschw. i.d. Nase, Mundtrockenkeit, Hyperhidrose, Pollakisurie, s. anomal fühlen, s. betrunken fühlen. UAWs meist leicht o. mässig schwer am Tag d. Verabr., bilden s. gleichentags zurück. Weitere UAWs s. FI. IA: Gleichz. Anw. mit ZNS-dämpf. Subst. kann Sedierung verstärken. Gleichz. Anw. mit Psychostim. o. MAO-Hemmern kann BD steigern. B. gleichz. Anw. m. ZNS-dämpf. Subst., Psychostimulantien o. MAOHemmern ist engm. Überw. erford. Metabol. i.d. Leber; kein klin. rel. Inhibitions- o. Induktionspotential an P-Glykoprotein, CYP-Enzyme. Packungen: 1, 2, o. 3 Nasensprays z. Einmalgebrauch. Abgabekat. Liste A Ausführl. Info: www.swissmedicinfo.ch; Zulassungsinhaberin: JANSSEN-CILAG AG, Gubelstrasse 34, 6300 Zug; CH-CP-140805
Dieses Arzneimittel unterliegt einer zusätzlichen Überwachung. Für weitere Informationen, siehe Fachinformation Spravato® auf www.swissmedicinfo.ch

Janssen-Cilag AG

CH_CP-126392

FORTBILDUNG

Kasten 1:
Übersicht über medikamentöse Behandlungsprinzipien bei Erregungszuständen unterschiedlicher Genese (mod. für die Schweiz, nach Laux 2017, [1]). Die Dosierungsempfehlungen sind für die Alterspsychiatrie anzupassen.

Grunderkrankung Schizophrenie und Manie
Agitierte Depression
Ängstlichkeit, Erregungszustände und Panikattacken
Symptomatische Psychosen/ Delir bei körperlichen Allgemeinerkrankungen bzw. bei organisch bedingten Störungen
Alkoholintoxikation
Psychogene Erregungszustände

Medikation

Dosierung

Antipsychotika

• Haloperidol

5–15 mg

• Olanzapin

10–20 mg

• Zuclopentixol

100 mg

Sedierende Antidepressiva

• Mirtazapin

15–30 mg

• Trazodon

75–150 mg

• Amitryptilin

50–75 mg

• Trimipramin

50–75 mg

Benzodiazepine

• Lorazepam

1–2,5 mg

• Diazepam

10 mg

Benzodiazepine

• Diazepam

10 mg

• Alprazolam

1–2 mg

• Lorazepam

1–2,5 mg

Internistische Therapie je nach Symptomen

Antipsychotika

• Haloperidol

2–5 mg

• Pipamperon

40–160 mg

• Risperidon

0,5–1,5 mg

Benzodiazepine

0,5–2 mg

• Lorazepam

0,5–2 mg

Antipsychotika

• Haloperidol

2–5 mg

(Cave: dämpfende

Pharmaka)

Benzodiazepine

• Diazepam

5–10 mg

• Lorazepam

1–2,5 mg

Antipsychotika

• Olanzapin

2,5–5 mg

Im Rahmen der erweiterten Diagnostik können, je nach Fragestellung, bildgebende Verfahren wie Röntgenund CCT-Untersuchungen (kraniale Computertomografie) oder auch eine Lumbalpunktion infrage kommen. Neuropsychologische Tests sollen vor allem im Bereich der Alterspsychiatrie zur Abstützung des psychopathologischen Befundes (Uhrentest, Mini-Mental-Status-Test) durchgeführt werden.
Notfallinterventionen: Weitere Einflussfaktoren Andere Möglichkeiten mit denen der Patient Einfluss auf die Wahl der Notfallinterventionen nehmen kann, sind – neben der eigenen Willensbekundung – eine psychiatrische Patientenverfügung und das Ernennen einer Vertrauensperson (in aller Regel eine dem Patienten nahestehende Person), wenn es zu einer Klinikeinweisung gegen den Willen des Patienten bei schwe-

rer psychischer Erkrankung und eingeschränkter Urteilsund Handlungsfähigkeit gekommen ist. Der psychiatrischen Patientenverfügung können gegebenenfalls Wünsche des Patienten hinsichtlich einer spezifischen psychopharmakologischen Behandlung oder der Behandlung auf bestimmten Stationen, die dem Patienten von Voraufenthalten bekannt sind, inklusive der Unterbringung in Isolierzimmern zum Schutz, entnommen werden. Die Vertrauensperson und der Beistand für Gesundheitsfragen (falls Notfallinterventionen getroffen werden, die unter die Vertretungskaskade nach Art. 387 ZGB fallen) werden im Sinne des Patienten in die Behandlung involviert, um die Interessen des Patienten zu vertreten. Kliniknahe Einflussfaktoren wie die jeweiligen Klinikrichtlinien und Behandlungskonzepte, die Kultur und die Haltung, die personelle Ausstattung und die Erfahrungen des interprofessionellen Behandlungsteams sowie die Infrastruktur bestimmen die Grundprinzipien der Notfallbehandlung und die Wahl der Notfallinterventionen. Ein weiteres Grundprinzip in der Notfallpsychiatrie ist der Einbezug von Angehörigen, da die Veränderung des Patienten auch bei ihnen Not auslösen kann. Der Aufbau einer ersten Beziehung zu Angehörigen kann wichtig und entscheidend für die weitere Zusammenarbeit mit dem System des Patienten sein, das einen grossen Einfluss auf die Therapie haben kann. Psychopharmakologische Interventionen sind bei jedem Notfall nur ein Teil der Behandlung. Bei den unten genannten Notfallsyndromen ist im Sinne einer recovery-orientierten Dienstleistung immer an eine partizipative und wertschätzende Grundhaltung des gesamten interdisziplinären Behandlungsteams zu denken sowie an das Angebot von fachtherapeutischen Interventionen, an ein psychotherapeutisches Krisenmanagement und den Einbezug von Angehörigen, da nur so psychopharmakologische Interventionen erfolgreich und mit wenig Anwendung von Zwang und Gewalt durchgeführt werden können (3). Übergeordnet gibt das Zivilgesetz (ZGB 360–456) die rechtlichen Rahmenbedingungen vor allem für eine Notfallbehandlung gegen den Willen vor. Der Standesordnung der Verbindung der Schweizer Ärzte können die medizinisch-ethischen Richtlinien, vor allem auch für Zwangsmassnahmen, entnommen werden (4). Alle Notfallinterventionen müssen, da sie mit Zwang und Gewalt einhergehen können, durch das interdisziplinäre Behandlungsteam mehrfach täglich evaluiert und gegebenenfalls angepasst oder beendet werden. Regelmässige Weiterbildungen und Supervisionen, ethische Fallbesprechungen unter Einbezug von externen Fachpersonen, Polizei und KESB und ein trialogischer Austausch helfen dem Behandlungsteam, psychiatrischen Notfällen gut ausgebildet begegnen zu können.
Notfallinterventionen: Durchführung der Behandlung Unruhe und Erregungszustände Sie können sich bei unterschiedlichsten Krankheitsbildern als Leitsymptom manifestieren (Intoxikationen, Delire, Manien, schizophrene Psychosen, akute Belastungsreaktionen, emotional instabile Persönlichkeitsstö-

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

rungen u. a.), mit Fremdgefährdung einhergehen und gehören zu den häufigsten psychiatrischen Notfallsituationen. Die Diagnostik gibt möglicherweise einen Anhaltspunkt für die zugrunde liegende Erkrankung, die Notfallbehandlung zielt aber in jedem Fall auf eine Beruhigung bis hin zur Sedierung ab (5). Die ersten Interventionen, die durchgeführt werden, dienen der Sicherheit des Patienten und des Umfeldes. Um eine Vorhersage treffen zu können, ob Gewalt auftritt, kann die Brøset-Violence-Checkliste verwendet werden. Neben der Anwendung der Talk-Down-Methode, einer validierenden Gesprächsführung, einer emphatischen Grundhaltung und dem Eingehen auf die Wünsche des Patienten zur Deeskalation kommt der Psychopharmakotherapie eine grosse Bedeutung zu. Zur medikamentösen Behandlung akuter Unruhe und Erregungszustände stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung (Kasten 1). Zusätzlich kann eine Intensivbetreuung von Mitarbeitenden des Behandlungsteams durchgeführt werden, die den Patienten während des Notfalls engmaschig begleiten und Angebote machen (Gespräche, bewegungs- und ergotherapeutische Interventionen wie Tischtennisspielen oder Malen). Sollten die genannten Interventionen nicht ausreichend sein, Gewalt auftreten und keine milderen Massnahmen mehr zur Verfügung stehen, muss eine zeitlich begrenzte Isolation geprüft werden. Die Anwendung von Zwang kommt als letztes Mittel (6) der Wahl zum Einsatz, wenn der Patient einer dringend indizierten Psychopharmakotherapie nicht zustimmt (7). Ausgewählte Medikamente werden dann in der Regel intramuskulär injiziert.
Akute Suizidalität und selbstschädigendes Verhalten Diesen kann ein breites Spektrum an Ursachen zugrunde liegen. Die Patienten können sich in unterschiedlichen Stadien der Suizidalität befinden, die von lebensmüden Gedanken bis zu konkreten Suizidplänen und ausführenden Handlungen reichen können. Zur diagnostischen Einordnung der Akuität von Suizidalität bedarf es der empathisch-stützenden Haltung des Behandlungsteams, um in Beziehung zum Patienten zu treten. Ziel muss es sein, Suizidgedanken und selbstschädigendes Verhalten offen zu thematisieren, suizidales Verhalten als Notruf zu akzeptieren und damit zu entpathologisieren. Zusammen mit dem Patienten und gegebenenfalls mit den Angehörigen können auslösende Faktoren erkannt und alternative Verhaltensweisen unter Einbezug vorhandener Ressourcen erarbeitet werden. Zur systematischen Einschätzung und Beurteilung von Suizidalität sollen Instrumente wie die Nurses Global Assessment of Suicide Risk (NGASR) und Suicide Status Form-II (SSF-II) angewandt werden. Auch im Rahmen der Suizidalität kommt die Intensivbetreuung als Intervention zum Einsatz, bis Alternativen zum suizidalen Handeln gefunden werden können. Die noch immer bestehende Meinung, dass suizidale Patienten zwingend auf einer geschlossenen Abteilung untergebracht werden müssen und Zwangsmassnahmen wie das Isolieren, das Fixieren und das Zwangsmedizieren zum sogenannten Eigenschutz gerechtfertigt sind, entspricht nicht einer modernen Psychiatrie und ihrer Studienlage (8).

Kasten 2:
Symptome einer Katatonie gemäss S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie DGPPN 2019 (2)

Hyperphänomene Psychomotorische Erregung Bewegungs- und Sprachstereotypien Manierismen Befehlsautomatie Grimassieren Echolalie Echopraxie

Hypophänomene Stupor Sperrung Mutismus Negativismus Katalepsie Flexibilitas cerea Haltungsstereotypien/-verharren

Kasten 3:
Fallbeispiel: Notfallinterventionen bei einem unruhigen Patienten
Basisabklärung: 19-jähriger Mann, begleitet von den Eltern. Walk-in-Patient, erster Kontakt mit der Psychiatrie. Seit zirka zwei Wochen «verändertes Verhalten», das ständig wechselt; täglicher Konsum von Cannabis, keine anderen Drogen; seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, motorisch sehr unruhig, innerlich ein Gefühl starker Beklemmung. Eltern «können nicht mehr», der Patient merkt, dass «etwas nicht stimmt», braucht Hilfe.
Diagnostik ● Psychopathologischer Kernbefund bei Eintritt: Auffassungs- und Konzentra-
tionsstörungen, im Denken umständlich, Beeinträchtigungswahn, Derealisationserleben, motorische Unruhe. Keine lebensmüden Gedanken, keine fremdaggressiven Impulse. Ausprägung der Symptome: leicht- bis mittelgradig. Der Patient ist mit einer Behandlung einverstanden, hat ein Krankheitsgefühl. ● Labor, Vitalparametermessung und EKG: ein altersentsprechender Normalbefund. Drogenschnelltest: positiv einzig auf Cannabis. ● Fremdanamnese durch die Eltern: ausser dem Konsum von Cannabis keine psychiatrischen Auffälligkeiten, keine psychiatrische Vorgeschichte, Lehre abgeschlossen, angestellt arbeitend, wird als freundlicher junger Mann beschrieben. ● Ressourcen: Familie, Freundin, Beruf, Sport.
Notfallinterventionen ● Stationäre freiwillige Aufnahme zur Verhaltensbeobachtung, zur Symptomkon-
trolle und zur Schlafbeobachtung bei der Arbeitshypothese einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung. Cannabiskarenz während des Aufenthalts. ● Aufklärung des Patienten und der Eltern über die weiteren Schritte der Hospitalisierung, über die Arbeitshypothese und die zum Einsatz kommenden Medikamente inkl. unerwünschter Arzneimittelwirkung. Verabredung für einen gemeinsamen konkreten Folgetermin am nächsten Tag. ● Planung einer antipsychotischen Therapie mit Olanzapin 5 mg zur Nacht, ergänzt durch 5 mg Olanzapin und 1 bis 3 mg Lorazepam als Reservemedikation. Zielsetzung: Sicherstellung des Schlafs, Abnahme der Unruhe und des Beeinträchtigungswahns. ● Festlegung des Therapieplans am nächsten Tag: Treffen mit Peer-Mitarbeiter, Bewegungstherapie, Gespräch zusammen mit den Angehörigen, gemeinsame Evaluation der getroffenen Massnahmen und Planung der nächsten 24 Stunden.

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FORTBILDUNG

Je nach Grunderkrankung findet auch schon in der Notfallsituation eine begleitende Psychopharmakotherapie statt. Benzodiazepine können Angst und Nervosität senken, eine antidepressive Therapie kann bei Vorliegen einer Depression angezeigt sein (sedierende Antidepressiva bei Unruhe und Anspannung), und Antipsychotika können bei Gedankenkreisen und auch psychotischen Symptomen eingesetzt werden. Bei rezidivierenden Depressionen und Suizidalität ist der Einsatz von Lithium zu diskutieren. Bereits in der Notfallsituation sollte der Patient für eine Behandlung bei einem ASSIP-Therapeuten (attempted suicide short intervention program [9]) angemeldet werden, und die Elektrokrampftherapie (EKT) sollte bei akuter und starker Suizidalität berücksichtigt werden.
Akute Angst- und Panikstörung Diese werden, unabhängig von der Grunderkrankung (z. B. generalisierte Angststörung, ängstliche Persönlichkeitsstörung sowie somatische Grunderkrankungen wie Herzrhythmusstörungen oder Asthmaanfall), dann zu einem Notfall, wenn sich der Patient in seinem Leben bedroht fühlt und fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Das Hyperventilationssyndrom kann als psychosomatischer Notfall aufgrund grosser Angst entstehen, Symptome sind Kribbeln in Händen und Füssen, Verkrampfungen im Mundbereich, Sehstörungen u. a. Bei ausgeprägter Hyperventilation entsteht die Hyperventilationstetanie. Die Behandlung erfolgt mittels Atmen in einen Plastik- oder Papiersack und der Gabe eines Benzodiazepins, falls die Rückatmungstechnik nicht ausreichend ist. Je nach Ausprägung der Angst besteht eine Überschneidung zur Unruhe und zu den Erregungszuständen, die Behandlung erfolgt dann entsprechend den dort genannten psychopharmakologischen Empfehlungen. Sollte die vom Patienten empfundene Todesangst einen somatischen Ursprung haben, ist primär dieser zu behandeln (z. B. Glykoseinfusionen bei Hypoglykämie).

Vor der im Vordergrund stehenden medikamentösen Behandlung des Delirs sollten somatische Ursachen ausgeschlossen bzw. deren Behandlung (z. B. Harnwegsinfekt bei älteren Menschen) eingeleitet werden. Die medikamentöse Behandlung des Delirs kann mit Haloperidol (Haldol®) erfolgen, ebenso können moderne Antipsychotika (Quetiapin [Seroquel®], Risperidon [Risperdal®], Olanzapin [Zyprexa®]) und Benozodiazepine zum Einsatz kommen (10). Die Behandlung des Alkoholentzugsdelir kann mit Clomethiazol (Distraneurin®) erfolgen.
Stupor/Katatonie Diese und auch dissoziative Zustände können bei psychiatrischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen auftreten und sind somit unspezifische Symptome, die einer guten interdisziplinären Differenzialdiagnostik bedürfen. In der Notfallpsychiatrie sind diese Störungsbilder von grosser Wichtigkeit, da schnell lebensbedrohliche Zustände entstehen können. Während der Stupor durch reduzierte Reaktion auf Reize, Mutismus und ausgeprägte psychomotorische Hemmung gekennzeichnet ist, werden bei der Katatonie Hyper- und Hypophänomene unterschieden (Kasten 2). Stupor und Katatonie bedürfen einer intensiven Pflege mit Sicherstellung der Ernährung und des Flüssigkeitsausgleichs, bei ausgeprägten Hypophänomenen der Katatonie müssen Patienten antikoaguliert werden. Die Hauptbehandlung, neben den wichtigen pflegerischen Massnahmen, liegt in der pharmakologischen Gabe von Lorazepam, bei Katatonie bis zu 20 mg. Die EKT sollte als eine der wichtigsten Behandlungsmöglichkeiten diskutiert werden, da die Wirkung schnell einsetzt und sie relativ nebenwirkungsarm ist. Bei der perniziösen Katatonie, der lebensbedrohlichsten Form der Katatonie aufgrund der vegetativen Entgleisung mit hohem Fieber, stellt die EKT die wirksamste Intervention dar (11). Wenn somatische Ursachen als Auslöser vorliegen, ist in erster Linie die Behandlung der Grunderkrankung durchzuführen.

Bewusstseinsstörungen und delirante Syndrome/Verwirrtheitszustände Diese sind zu unterscheiden. Bei den quantitativen Bewusstseinsstörungen (Somnolenz, Sopor, Koma) steht die interdisziplinäre Diagnostik im Vordergrund, da eine Reihe von somatischen Erkrankungen verantwortlich sein können, die dann behandelt werden müssen. Finden sich keine Ursachen, ist die engmaschige Überwachung des Patienten angezeigt, eine bestehende medikamentöse Behandlung sollte pausiert werden, um eine psychopharmakoinduzierte Ursache ausschliessen zu können. Das Delir als qualitative Bewusstseinsstörung mit Desorientiertheit, Beeinträchtigung von Auffassung und Aufmerksamkeit und Halluzinationen ist ein häufiges Krankheitsbild in der Notfallpsychiatrie, vor allem in der Alterspsychiatrie. Das Delir ist grundsätzlich eine reversible Störung, für die Diagnostik und den Verlauf können Arbeitsinstrumente wie die Confusion Assessment Method (CAM) verwendet werden. Risikofaktoren für Delire sind u. a. das Alter, Polypharmazie, Multimorbidität, Dehydrierung, aber auch Noxen.

Drogennotfälle Die Behandlung und die Diagnostik sind herausfordernd, da viele Substanzen in Tests nicht nachweisbar sind, Patienten mehrere Substanzen konsumieren und beispielsweise aufgrund einer Bewusstseinsstörung bei Delir oder eines Erregungszustandes im Rahmen eines Rauschzustandes keine Angaben zur Art, zur Menge und zur Uhrzeit des letzten Konsums machen können. Die wichtigste Notfallintervention ist die engmaschige psychiatrische und somatische Überwachung und das Reagieren auf entstehende Komplikationen. Je nach Schwere der Intoxikation muss eine Behandlung auf einer Intensivstation geprüft werden. Eine Behandlung mit Psychopharmaka sollte zurückhaltend durchgeführt werden, bei starker Erregung kann der Einsatz von Haloperidol in niedrigen Dosierungen geprüft werden.
Psychopharmakainduzierte Notfälle Diese können bei der Behandlung mit Antipsychotika als extrapyramidalmotorische Symptome (EPMS) und seltener, aber mit vielen Komplikationen behaftet, während der ersten zwei bis vier Wochen der Behandlung

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FORTBILDUNG

als ein malignes neuroleptisches Syndrom (MNS) auftreten (Mortalität bis zu 20%, [12]). Die EPMS unterscheiden sich in Frühdyskinesien (meist innerhalb der ersten 7 Tage der Behandlung oder nach schneller Dosissteigerung oder Absetzen) und Spätdyskinesien als Folge einer Langzeittherapie. Die Behandlung der Frühdyskinesien, welche reversibel sind, erfolgt pharmakologisch mit dem Anticholinergikum Biperiden (Akineton®), und das auslösende Antipsychotikum sollte in der Dosis reduziert oder besser umgestellt werden. Spätdyskinesien sind nicht oder nur kaum reversibel, atypische Antipsychotika führen seltener zu diesem Phänomen. Das zentrale Serotoninsyndrom und das zentrale anticholinerge Syndrom treten hauptsächlich bei der Behandlung mit Antidepressiva auf. Serotonerge Substanzen führen zu hohem Fieber, neuromuskulären Symptomen wie Tremor oder Hyperreflexie und Bewusstseinsstörungen sowie Desorientierung. Anticholinerge Substanzen führen peripher zu Austrocknung der Schleimhäute, zu Harnverhalt sowie Obstipation und zentral zu Desorientiertheit (weshalb diese Substanzen in der Alterspsychiatrie nur zurückhaltend eingesetzt werden sollten), motorischer Unruhe und Angst. Aufgrund der häufigen Verschreibung von Benzodiazepinen ist eine Intoxikation z. B. bei Suizidversuchen oder bei Drogennotfällen mit Mischintoxikation in der Notfallpsychiatrie keine Seltenheit. Zur Aufhebung der zentral dämpfenden Wirkung von Benzodiazepinen wird Flumazenil (Anexate®) verwendet, welches intravenös injiziert wird. Werden Benzodiazepine zu schnell abgesetzt, können die ursprünglichen Krankheitssymptome wie Angst und Unruhe verstärkt auftreten (Rebound-Symptome nur wenigen Tage, Rückfallsymptome anhaltend). Um Absetzsymptome wie Angst, Panik, Schlafstörungen, Muskelschmerzen und epileptische Anfälle zu vermeiden, muss die Behandlung über einen längeren Zeitraum ausgeschlichen werden.

Nachbesprechung der Interventionen

Auch wenn die Nachbesprechung der durchgeführten

Interventionen in aller Regel im Rahmen der weiteren

Behandlung stattfindet und nicht mehr Teil der eigent-

lichen Notfallinterventionen ist, muss diese aus Sicht

des Autors eine hohe Priorität haben (13). Gerade wenn

Interventionen mit Zwang und Gewalt durchgesetzt

wurden, gibt die Nachbesprechung dem Patienten die

Möglichkeit, zusammen mit dem Team das Geschehene

zu reflektieren. Idealerweise entsteht daraus eine von

Patienten und Fachleuten akzeptierte psychiatrische Pa-

tientenverfügung (14), mit der der Patient Einfluss auf

zukünftige Behandlungen nehmen kann und sich

Zwang und Gewalt reduzieren.

G

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Robert Maier

Sanatorium Kilchberg AG

Chefarzt Psychiatrie

Alte Landstrasse 70

8802 Kilchberg

E-Mail: Robert.Maier@sanatorium-kilchberg.ch

Selbstdeklaration: Der Autor deklariert, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Literatur: 1. Möller HJ, Laux G et al.: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie.
5. Auflage 2017; 2929–2950. 2. DGPPN: Notfallpsychiatrie. S2k-Leitlinie 2019. https://www.awmf.org/
uploads/tx_szleitlinien/038-023l_S2k_Notfallpsychiatrie_201905_1.pdf (letzter Zugriff am 15.4.2020) 3. DGPPN: Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. S3-Leitline Langversion – Fassung vom 10.09.2018. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038022l_S3_Verhinderung-von-Zwang-Praevention-Therapie-aggressivenVerhaltens_2018-11.pdf (letzter Zugriff am 15.4.2020) 4. https://www.fmh.ch/files/pdf23/standesordnung-september2019_de.pdf 5. Garriga M, Pacchiarotti I et al.: Assessment and management of agitation in psychiatry: Expert consensus. World J Biol Psychiatry 2016; 86–128. 6. Sailas E, Fenton M: Seclusion and restraint for people with serious mental illnesses. Cochrane Database Syst Rev 2000; (2):CD001163. 7. NICE: Violence and aggression: short-term management in mental health, health and community settings. NICE guideline [NG10] 28 May 2015. https://www.nice.org.uk/guidance/ng10/resources/ violence-and-aggression-shortterm-management-in-mental-healthhealth-and-community-settings-pdf-1837264712389 (letzter Zugriff am 15.4.2020) 8. Huber CG, Schneeberger AR et al.: Suicide risk and absconding in psychiatric hospitals with and without open door policies: a 15 year, observational study. Lancet Psychiatry 2016 Sep; 3(9): 842–849. 9. Gysin-Maillart A, Schwab S et al.: A Novel Brief Therapy for Patients Who Attempt Suicide: A 24-months follow-up randomized controlled study of the Attempted Suicide Short Intervention Program (ASSIP) 2016. PLOS Medicine 13(3). https://doi.org/10.1371/journal. pmed.1001968 10. Benkert O, Hippius H, Hg.: Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 12. Auflage. Berlin: Springer 2019. 11. Luchini F, Medda P et al.: Electroconvulsive therapy in catatonic patients: Efficacy and predictors of response. World J Psychiatry 2015 Jun 22; 5(2): 182–192. 12. Trollor JN, Chen X et al.: Comparison of neuroleptic malignant syndrome induced by first- and second-generation antipsychotics. Br J Psychiatry J Ment Sci 2012; 201(1): 52–56. 13. Wullschleger A, Vandamme A et al.: Standardisierte Nachbesprechung von Zwangsmassnahmen auf psychiatrischen Akutstationen: Ergebnisse einer Pilotstudie. Psychiat Prax 2019; 46(03): 128–134. 14. Hotzy F, Cattapan K et al.: Akzeptanz von psychiatrischen und somatischen Patientenverfügungen: ein Vergleich unter psychiatrischen Patienten und Fachpersonen. Psychiatr Prax 2020 Apr 8; doi: 10.1055/a-1132-0811.
Merkpunkte:
● Notfallinterventionen werden symptomgeleitet angewandt, eine exakte Diagnosestellung erfolgt im Verlauf der Behandlung.
● Die Wahl der Notfallinterventionen erfolgt in vielen Fällen interdisziplinär, da die Krankheitssymptome auch somatischen Ursprungs sein können. Aus diesem Grund sind eine sorgfältige klinische Untersuchung und die Erfahrung des Behandlungsteams von grosser Bedeutung.
● Notfallinterventionen beschränken sich nicht nur auf die Gabe von Medikamenten. Die psychotherapeutische Grundhaltung und die Angebote des Behandlungsteams, die Ausbildung in Aggressions- und Deeskalationsmanagement und die Kultur und die Werte, die in einer Klinik verankert sind, bestimmen den therapeutischen Rahmen massgeblich mit.
● Da durch eine schwere psychiatrische Erkrankung nicht nur der Patient, sondern auch sein soziales Umfeld verunsichert ist, sollte dieses schon zu Beginn der Notfallbehandlung involviert werden. Das soziale Umfeld ist ein wichtiger Wirkfaktor in der weiteren Behandlung.

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FORTBILDUNG
Fürsorgerische Unterbringung in der Schweiz: Hintergründe, Unterschiede, Strategien
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Rate an fürsorgerischen Unterbringungen (FU) in der Schweiz hoch. Über die Kantonsgrenzen hinweg scheinen patientenbezogene Risikofaktoren vergleichbar, dennoch zeigen sich deutliche kantonale Unterschiede in der Anordnung von FU. Dieser Artikel beschäftigt sich mit möglichen Hintergründen dieser Unterschiede, Strategien zur Reduktion von FU und der Wichtigkeit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung gegenüber Zwang.

Florian Hotzy Anastasia Theodoridou Matthias Jäger

von Florian Hotzy*, Anastasia Theodoridou* und Matthias Jäger
Einleitung
D ie Einweisung gegen den Willen auf der Grundlage einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) in einer psychiatrischen Klinik oder einer anderen Einrichtung ist ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Person. In psychiatrischen Notfallsituationen ist die FU als Massnahme vorgesehen, um bei fehlenden alternativen Handlungsoptionen bei Vorliegen eines «Schwächezustands» sowie einer «Schutzbedürftigkeit» eine Gefährdung der betroffenen Person selbst und/oder Dritter abzuwenden (1–3). Aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte haben die meisten Staaten gesetzliche Grundlagen ausgearbeitet, welche die Voraussetzungen für eine solche Massnahme regeln (4, 5). Die gesetzlichen Kriterien zur Anwendung von Zwang unterscheiden sich zwischen verschiedenen Ländern und Regionen häufig stark bezüglich Definition der Unterbringungsvoraussetzungen, der zur Anordnung der Massnahme befugten Personen, der Anforderungen an die Dokumentation sowie zeitlicher und prozeduraler Aspekte (5, 6). Diese Variabilität ist unter anderem ausschlaggebend für grosse Unterschiede bei den Unterbringungsraten zwischen verschiedenen Regionen. In der Schweiz sind die gesetzlichen Grundlagen der FU im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR), na-
*Psychiatrische Universitätsklinik, KPPP Kompetenzzentrum KESR (KoKE) Lenggstrasse 31 8032 Zürich

mentlich Art. 426 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB), geregelt (vgl. Kasten 1). Neben den Voraussetzungen für die FU regelt das KESR die Zurückbehaltung freiwillig eingetretener Personen, die Zuständigkeit für die Anordnung der FU, Verfahrensaspekte, Anforderungen an die Dokumentation und die Überprüfungssystematik. Bei all diesen Aspekten lässt das ZGB den Kantonen jedoch einen Spielraum für die Konkretisierung der Umsetzung, die diese in ihren Einführungsgesetzen spezifizieren. So sind die Kantone befugt, die Berechtigung zur Anordnung einer FU neben den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) auch anderen Instanzen, in der Regel sind das Ärzte, zu übertragen. Zudem kann die Dauer einer ärztlich angeordneten FU begrenzt werden. Diese Konkretisierungsmöglichkeiten resultieren in teilweise deutlichen kantonalen Unterschieden. So gibt es Kantone, welche die Befugnis zur Anordnung einer FU generell nur der KESB überlassen, und andere, in denen jede/jeder zur selbstständigen Berufsausübung befugte Ärztin/Arzt eine FU anordnen darf. Auch die maximale Dauer einer ärztlichen FU ist unterschiedlich definiert und reicht von 72 Stunden bis 42 Tage. Im Falle eines Antrags auf Verlängerung vonseiten der behandelnden Institution muss die zuständige KESB die Voraussetzungen für die FU vor deren Ablauf überprüfen. Bei Verlegungen über die Kantonsgrenze gilt es zu beachten, dass jeweils die Regelungen des Kantons, in dem die FU ausgestellt wurde, zu befolgen sind. Die Häufigkeit von FU bzw. unfreiwilligen Klinikeinweisungen unterscheidet sich teilweise erheblich zwischen den Kantonen (8), aber auch international (6). Die Rate in der Schweiz ist, verglichen mit anderen Ländern, hoch. Bisher konnten diese Unterschiede noch nicht abschliessend erklärt werden, jedoch gibt es Hinweise dar-

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FORTBILDUNG

auf, dass die gesetzliche Grundlage einen Einfluss auf die FU-Rate hat (6, 9, 10). Die Tragweite des Dilemmas der Zwangseinweisung und anderer Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie zeigt sich in ethischen Diskussionen und kontroversen klinischen Entscheidungen in der täglichen psychiatrischen Praxis. Sowohl bei Patienten (11) als auch bei psychiatrischem Personal (12–14) kommt in den meisten Situationen die Frage auf, ob die Anwendung von Zwang wirklich notwendig war oder ob es nicht doch Alternativen gegeben hätte. Die Reduktion von Zwang ist heute in der Psychiatrie ein weitestgehend unbestrittenes Ziel für die Versorgung (15). Hierfür wurden zahlreiche Ansätze ent-

wickelt, von denen einige auch wissenschaftlich belegbar eine Reduktion von Zwangsmassnahmen zur Folge haben (16, 17). Zudem wurden in mehreren Untersuchungen Risikofaktoren für Zwangseinweisungen von Patienten identifiziert.
Patientenbezogene Risikofaktoren für FU in der Schweiz Sowohl in der internationalen Literatur als auch in der Schweiz konnten Faktoren identifiziert werden, die mit einem erhöhten Risiko für FU einhergehen: G Klinische Risikofaktoren: hirnorganische Störung
und Intelligenzminderung (18, 19), substanzbezogene Störungsbilder (18), psychotisches Zustands-

Kasten 2:
Diskussion betreffend FU in der Schweiz

Die Schweiz weist im internationalen Vergleich eine hohe Rate an FU auf. Innerhalb der Schweiz sind wiederum grosse Schwankungen zu beobachten. ● Die patientenbezogenen Risikofaktoren für eine FU scheinen sich
im Vergleich zwischen der Schweiz und anderen Ländern zu entsprechen (6, 9, 18–23). ● Innerhalb der Schweiz scheinen sich die patientenbezogenen Risikofaktoren nicht relevant zu unterscheiden (9, 18, 19, 23). ● Des Weiteren ist bekannt, dass das Risiko für eine FU in urbanen Räumen erhöht ist. Auch konnte ein erhöhtes FU-Risiko für Personen mit Touristen- oder Asylstatus innerhalb und ausserhalb der Schweiz gezeigt werden (23, 26). ● Insgesamt ist es bei der Diskussion um FU und weitere Zwangsmassnahmen von zentraler Bedeutung, dass patientenbezogenen Risikofaktoren ein deutlich geringeres Gewicht zuzukommen scheint, verglichen mit Merkmalen der Versorgungsregion, mit der Qualität der Behandlung und anderen Gründen. Es ist daher anzunehmen, dass die Anwendung von Zwang durch Behandlungskulturen/ -traditionen und Einstellungen der im psychiatrischen Versorgungssystem tätigen Personen beeinflusst – und damit letztlich auch potenziell reduziert werden kann (36). ● Unterschiede in den Einstellungen zu Zwang finden sich in der Schweiz zwischen Mitarbeitenden verschiedener Berufsgruppen im stationären und auch im ambulanten Bereich (13, 30). Ärzte mit psychiatrischem Hintergrund ordnen weniger häufig FU an (9), diese FU werden länger aufrechterhalten (10), und die spezifischen dokumentarischen Anforderungen (dokumentarische Qualität) werden von ihnen besser eingehalten (10, 37).
Diese Befunde sind von zentraler Bedeutung für die Diskussion, inwiefern über die Arbeit an Haltung und Einstellungen sowie über gezielte Schulungen von Fachpersonen, die FU anordnen und Patienten unter FU-Bedingungen behandeln, die Anwendung von Zwangsmassnahmen reduziert werden kann.
Zudem scheint es angebracht, genauer zu untersuchen, ob eine Einschränkung des Personenkreises, der zur Anordnung von FU befugt ist, zu einer geringeren FU-Rate führen kann. Die weiterführende Reduktion von Zwangsmassnahmen ist insbesondere auch deshalb so wichtig, weil Zwang die therapeutische Beziehung und damit auch den Thera-

pieerfolg negativ beeinflusst (38) und Patienten, die Zwang erfahren haben, negative Einstellungen zur Psychiatrie entwickeln können (39), was wiederum die Inanspruchnahme reduzieren und zu ungünstigen Verläufen führen kann. Niederschwellige Versorgungsangebote, die auch in Akutsituationen Alternativen für eine reguläre stationäre Behandlung bieten (z.B. Home-Treatment, Krisenbetten, Tages- oder Nachtkliniken), können als bedürfnisorientierte Behandlungsangebote Zwang ggf. frühzeitig entgegenwirken.
● Ein weiterer diskussionswürdiger Befund ist, dass der Faktor «Touristen- oder Asylstatus» in städtischer Umgebung ein höheres Risiko für eine FU aufweist als «klinische Faktoren» wie Schizophrenie oder bipolare Störungen (23). Hierbei widerspiegelt sich möglicherweise, dass einer FU jeweils unterschiedlich ausgeprägte Intentionen zugrunde liegen können. So steht dem primären Zweck der notwendig erscheinenden medizinischen Versorgung eine weitere, häufig und zunehmend der Psychiatrie übertragenen Funktion gegenüber, nämlich Sicherheit in der Gesellschaft bzw. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten.
Da klinische Aspekte nur zum Teil eine Rolle in der Entscheidung für oder gegen eine FU zu spielen scheinen, ist es für die Entscheidungsträger umso relevanter, sich mit Fragen zur Haltung gegenüber Zwang in der Medizin auseinanderzusetzen. Hier können die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) (40) hilfreich sein. Generelle Leitlinien zur Vermeidung von Zwang in der Psychiatrie gibt es in der Schweiz bislang nicht. Dabei scheint es sinnvoll, auf das schweizerische Versorgungssystem ausgerichtete Empfehlungen für die Prävention von Zwang zur Verfügung zu stellen. Bis dato sind Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) verfügbar und in weiten Teilen auch für die Schweiz implementierbar. Auch diese empfehlen unter anderem, in einer psychiatrischen Institution in geeigneter Weise immer wieder die eigene Haltung zu hinterfragen und Zwang gegenüber Patienten sowie Mitarbeitenden jeweils zu begründen und zu besprechen (in Notfallsituationen ggf. im Nachgang zur Abwendung von akuter Gefährdung) (41). Dabei entstehen Chancen, dass sowohl Patienten als auch Zwang ausübende Personen alternative Handlungsstrategien erarbeiten und zukünftig Zwang vermeiden können.

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FORTBILDUNG

Kasten 1:
In der Schweiz sind die gesetzlichen Grundlagen der FU im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, namentlich Art. 426 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs, geregelt.
«Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an einer geistigen Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in eine geeignete Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen. Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind. Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann jederzeit um Entlassung ersuchen. Über dieses Gesuch ist ohne Verzug zu entscheiden.» (7)
bild (6, 9, 18–23), Manie (19, 23), Persönlichkeitsstörungen (18), Suizidalität (20), Fremdgefährdung (6, 24, 25) und impulsives Verhalten (19, 20). G Soziodemografische Risikofaktoren: höheres Alter (19), Fehlen einer Wohnform (18, 22, 24), Ausländerbzw. Asylstatus (18, 23, 24, 26), Leben in der Stadt (27). G Andere Risikofaktoren: fehlende Medikamentenadhärenz (19, 20), fehlendes Krankheitsbewusstsein (25), frühere FU (19, 28, 29), Unzufriedenheit mit dem psychiatrischen Helfernetz (29) und Zuweisungen durch Allgemeinmediziner und Spitäler (19).
Prozedurale Faktoren und Einstellungen zur FU in der Schweiz Insgesamt zeigen sich in den einzelnen Kantonen der Schweiz zum Teil gravierende Unterschiede bezüglich der Häufigkeit von FU und Zwangsmassnahmen (8, 18, 30). Im internationalen Vergleich ist die Rate von FU und Zwangsmassnahmen in der Schweiz insgesamt hoch (6, 31). Auch wenn es für Unterschiede in den FU-Raten sowohl international (5, 6) als auch innerhalb der Schweiz (8) keine abschliessende Erklärung gibt, konnte in einer Untersuchung aus Genf gezeigt werden, dass die Beschränkung der Kompetenz zur Anordnung einer FU auf psychiatrisch ausgebildete Ärzte mit einer Reduktion der FU-Raten einherging (9). Im Kanton Zürich konnte gezeigt werden, dass sich FUVerläufe nach Zuweisungen durch mit psychiatrischen Notfällen weniger vs. mehr erfahrenen Ärzten in Bezug auf die Dauer der FU unterscheiden (10). Psychiatrisch tätige Ärzte, die im Kanton Zürich FU anordnen, beschreiben bezüglich Umgang mit psychiatrischen Notfällen und mit den rechtlichen Grundlagen zur Anordnung einer FU höhere Sicherheit als Ärzte, die in einem anderen Fachgebiet tätig waren (13, 14). Trotz der geringeren Sicherheit fanden Letztere, dass die Abklärung von Suizidalität oder Fremdgefährdung durchaus nicht nur durch psychiatrisch tätige Ärzte erfolgen müsse, sondern dass auch andere Fachgruppen diesbezüglich Kompetenzen haben sollten. Insgesamt waren psychiatrisch tätige Ärzte gegenüber Zwang kritischer eingestellt als Ärzte anderer Fachrichtungen (13). Eine Studie in der Romandie ergab, dass die ärztliche Entscheidung, eine FU anzuordnen, eher von Aspekten der jeweiligen klinischen Situation abhängig ist als von Faktoren, die in der Person und dem beruflichen Hintergrund des anordnenden Arztes liegen (32).

In einer Untersuchung in drei Schweizer Kantonen konnte gezeigt werden, dass selbst unter psychiatrischen Fachpersonen (Ärzten, Psychologen sowie Pflegefachpersonen) Unterschiede in der Einstellung zu Zwangsmassnahmen zu finden sind und dass die Wahl und die Häufigkeit in der Anwendung von Zwangsmassnahmen (Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation) kulturellen Prägungen unterliegen. Patienten hingegen sind in ihren Einstellungen über die Kantonsgrenzen homogener (30, 33).

Massnahmen zur Reduktion von FU

Psychiatrische Patientenverfügungen bzw. Behand-

lungsvereinbarungen, Psychoedukation und Krisen-

pläne sowie offen geführte psychiatrische Kliniken

konnten sowohl die Häufigkeit von FU als auch von

Zwangsmassnahmen während eines stationären Auf-

enthalts reduzieren (34, 35). Wie bereits beschrieben,

gibt es Hinweise, dass eine Eingrenzung des Personen-

kreises mit der Kompetenz, eine FU zu veranlassen, auf

eine kleine, auf den Umgang mit psychiatrischen Not-

fallsituationen spezialisierte Zuweisergruppe, zu einer

Reduktion von FU führen kann (9) (Kasten 2).

G

Korrespondenzadresse:

PD Dr. med. Matthias Jäger

Direktor Erwachsenenpsychiatrie,

Chefarzt Privatklinik

Psychiatrie Baselland

Bienentalstrasse 7

4410 Liestal

E-Mail: matthias.jaeger@pbl.ch

Literaturverzeichnis online unter: www.psychiatrie-neurologie.ch

Merkpunkte:
● Fürsorgerische Unterbringungen (FU) werden kantonal mit unterschiedlicher Häufigkeit angeordnet. Im internationalen Vergleich ist die FU-Rate in der Schweiz hoch.
● Für die Schweiz erhobene patientenbezogene und soziodemografische Risikofaktoren für FU sind vergleichbar mit anderen Ländern.
● Die Definition des Personenkreises, der zur Anordnung einer FU befugt ist, kann die FU-Rate mitbeeinflussen.
● Die Haltung von Professionellen gegenüber Zwang in der Psychiatrie wird stärker durch die Klinikkultur geprägt als jene der Patienten.
● Psychiatrische Patientenverfügungen bzw. Behandlungsvereinbarungen, Psychoedukation, Krisenpläne sowie ein offenes Stationsklima können zu einer Reduktion von FU und Zwangsmassnahmen beitragen.
● Die Auseinandersetzung mit der persönlichen Haltung gegenüber Zwang in der Psychiatrie scheint unabdingbar, um einerseits eine Diskussionskultur zu Präventionsstrategien zu fördern, andererseits diese Massnahmen im Kollegenkreis und insbesondere mit den betroffenen Patienten aufzuarbeiten.

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

Tiziana Ziltener Julian Möller

Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie – eine Auswahl aktueller Konzepte und Interventionen
Zwangsmassnahmen werden in der Psychiatrie angewandt, wenn es darum geht, die Sicherheit für Patienten sowie für das Personal und die Bevölkerung zu fördern und um aus psychiatrischer Sicht die notwendige Behandlung bei urteilsunfähigen Patienten durchführen zu können. Die Massnahmen können für Betroffene jedoch traumatisierend und stigmatisierend sein und die therapeutische Beziehung schädigen. Auch psychische Folgestörungen sind möglich. Der vorliegende Artikel soll eine Übersicht über aktuelle Publikationen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie geben und Anregungen für die klinische Praxis und weitere Forschungsarbeiten liefern.

Franziska Rabenschlag
Fabienne Roth
Undine E. Lang
Christian G. Huber
3/2020

von Tiziana Ziltener*, Julian Möller*, Franziska Rabenschlag*, Fabienne Roth*, Undine E. Lang* und Christian G. Huber*
Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie ber den potenziellen Nutzen und mögliche
Ü Nachteile dieser Massnahmen sowie über die mit ihnen verbundenen rechtlichen und ethischen Bedenken wurden in den letzten zwei Jahrzehnten intensive Debatten geführt (1). Das ist berechtigt, stellen Zwangsmassnahmen doch einen massiven Eingriff in die Grundrechte einer Person dar. Insbesondere die Rechte auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung und auf die Unversehrtheit der körperlichen Integrität werden eingeschränkt (2, 3). Zwangsmassnahmen können zudem traumatisierend sein, psychische Folgestörungen verursachen, die therapeutische Beziehung schädigen und zur gesellschaftlichen Stigmatisierung von psychisch Kranken beitragen (1, 2, 4–7). Neben Gesetzesänderungen haben unter anderem Berichte von Betroffenen und Initiativen des Fachpersonals zu einer immer stärker werdenden Distanzierung von Zwangsmassnahmen beigetragen (8). Stattdessen manifestiert sich ein Bestreben, Menschen auf freiwilliger Basis die bestmögliche professionelle Unterstützung zu bieten und Zwangsmassnahmen zu reduzieren (8, 9).
Zwangsmassnahmen reduzieren Im psychiatrischen Kontext werden verschiedene Formen von Zwangsmassnahmen unterschieden. Dazu gehören unter anderem die fürsorgerische Unterbringung (FU) und der Gebrauch des Rückhalterechts, Diagnostik ohne Zustimmung, Zwangsmedikation,
* Klinik für Erwachsene, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK), Universität Basel

Zwangsernährung, Isolation und Fixierung (2, 10). Hinzu kommen informelle Zwangsmassnahmen wie das Ausüben von Druck in Form von Androhungen oder Überreden zur Verbesserung der Adhärenz oder die Vermeidung formeller Zwangsmassnahmen, die nicht mit freiwillig erteilter Zustimmung eines urteilsfähigen Patienten erfolgen und dennoch nicht offen als Zwangsmassnahmen bezeichnet werden (8, 11, 12). Alle Interventionen aus diesem Bereich sind als Mittel letzter Wahl zu verstehen, und ihre Anwendung ist Ausnahmesituationen vorbehalten. Folglich dürfen sie nur dann zum Einsatz kommen, wenn die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen erfüllt sind, sie einen grossen potenziellen Schaden abwenden können und keine weniger einschneidenden Alternativen zur Verfügung stehen (2, 3, 8). Strategien zur Reduktion von Zwangsmassnahmen reichen von Instrumenten zur Risikoeinschätzung über Mitarbeitertrainings in Deeskalationstechniken, Strategien zum Umgang mit aggressivem Verhalten und spezifische therapeutische Interventionen zu dessen Minderung bis zu breit gefächerten Interventionsprogrammen auf Klinikebene (8, 9, 13–15). Anhand aktueller Publikationen wird im Folgenden eine Auswahl von Konzepten und Interventionen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen präsentiert. Für eine umfassende Lektüre zur Reduktion von Zwangsmassnahmen wird auf die S3-Leitlinie «Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen» verwiesen (9).
Konzeptveränderungen auf Klinikebene Zur Reduktion von Zwangsmassnahmen existieren mittlerweile unterschiedliche Modelle, die auf mehreren Ebenen ansetzen und verschiedene Interventionen integrieren (8, 9, 13, 15). Die folgende Darstellung von Interventionsprogrammen erfolgt in Anlehnung an den aktuellen Scope-Review von Gooding et al. (2020), wel-

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FORTBILDUNG

cher einen umfassenden Überblick über Publikationen im englischsprachigen Raum bietet. Demnach können unter anderem das Konzept der Safewards, die «Six Core Strategies to Reduce the Use of Seclusion and Restraint» und eine Politik der offenen Tür nach derzeitigem Stand der Literatur Zwangsmassnahmen erfolgreich reduzieren (8, 13, 15–18). Das in Grossbritannien entwickelte Modell der Safewards zielt insbesondere darauf ab, Konflikt und Zwangsmassnahmen zu reduzieren, indem mit Interventionen sogenannten Krisenherden entgegengewirkt wird (8). Das Modell identifiziert ursächliche Faktoren von Konflikt und Zwangsmassnahmen (z. B. die Stationsstruktur oder die Patientencharakteristika), modifizierende Faktoren auf Mitarbeiterseite und potenzielle Krisenherde. Zudem anerkennt es die negative Wechselwirkung, die Zwangsmassnahmen auf die Entstehung von Konflikten haben können. Zehn Interventionen, die im Wesentlichen auf die Personal-Patienten-Interaktion und auf verschiedene Aspekte des Stationsklimas fokussieren, sollen das Personal bei der Handhabung von Krisenherden unterstützen (8, 15, 19, 20). Bei der Intervention der «wertschätzenden Kommunikation» wird das Behandlungsteam beispielsweise dazu angehalten, beim Rapport nicht nur auf negative Aspekte zu fokussieren, sondern auch etwas Positives zu jedem Patienten zu nennen (20). Baumgardt et al. (2019) evaluierten die Implementierung des Modells auf zwei geschlossenen Stationen in Berlin (15, 16). Sie berichten über einen proportionalen Rückgang der Anzahl Personen, die Zwangsmassnahmen ausgesetzt waren, das in Bezug auf die Gesamtanzahl der Patienten (16, 21). Eine australische Studie zeigte nach der Einführung des Modells eine 36-prozentige Abnahme bezüglich der Anzahl an Isolationen (22). Aufbauend auf extensiven Literaturreviews, entstand in den USA das Programm «Six Core Strategies to Reduce the Use of Seclusion and Restraint» (23). Das Konzept fokussiert auf sechs Kernpunkte: 1) Einbezug des Managements, 2) Dokumentation und deren Verwendung, 3) Mitarbeitertrainings, 4) Instrumente zur Prävention von Zwangsmassnahmen, 5) Einbezug von Peers in die Behandlung von psychisch Kranken und 6) Debriefings (13, 15, 23, 24). Damit einher gehen beispielsweise die Kommunikation eines gewaltpräventiven Leitbildes und die Implementierung eines entsprechenden Massnahmenplans durch das Management (Punkt 1) sowie die Umsetzung eines Recovery-orientierten Behandlungsansatzes durch die Mitarbeitenden (Punkt 3) (24). Verschiedene Studien zeigten einen Rückgang von Zwangsmassnahmen nach der Implementierung der Kernstrategien (8, 17, 25–27). Neben diesen Modellen kann die Öffnung akutpsychiatrischer Stationen im Sinne einer Politik der offenen Tür als weiterer Ansatz zur Reduktion von Zwangsmassnahmen betrachtet werden (5, 8). Schneeberger et al. (2017) fanden in ihrer retrospektiven Analyse eines Datensatzes von 21 Kliniken, dass Zwangsmassnahmen in Institutionen mit einer Politik der offenen Tür weniger häufig vorkamen als in Institutionen mit einer Politik der geschlossen Tür (28). Andere Studien berichten über ähnliche Ergebnisse (8, 18, 29–31). Lang und Kollegen (2016) beschrieben, wie eine Politik der offenen Tür zwar nicht direkt durch das mechanische Öffnen von Sta-

tionstüren, Zwangsmassnahmen reduziert, wie sich aber die Türöffnung indirekt auf die Behandlungsqualität auswirkt und so Zwangsmassnahmen verhindert werden. Ein verantwortungsvolles Öffnen von Stationstüren ist nur möglich, wenn verschiedene Behandlungsaspekte und Mechanismen angepasst werden. Diese Anpassungen beinhalten unter anderem ein stärkeres Mitspracherecht und eine grössere Partizipation der Patienten, die Verhinderung von Crowding von Akutpatienten, den Erhalt von Privatsphäre, die regelmässige Teamreflexion, die Reduktion von Einschränkungen und die Ausarbeitung von diagnosespezifischen Therapiekonzepten inklusive bedarfsangepasster Psychotherapieangebote. Diese Aspekte haben zusammen vielfältige Einflüsse auf die Behandlungsqualität, die Stationsatmosphäre und die Patientenzufriedenheit, was wiederum die Anwendung von Zwangsmassnahmen senkt (5). In den UPK Basel wurde das Konzept der offenen Türen seit 2011 schrittweise implementiert. Im Zuge der Türöffnung und der damit einhergehenden Veränderungen konnte in den UPK Basel der prozentuale Anteil von Fällen mit mindestens einer Isolation von 8,2 Prozent (2010) auf 3,5 Prozent (2015) reduziert werden. Gleichermassen verhielt es sich bei der Zwangsmedikation: Der prozentuale Anteil der Fälle halbierte sich von 2,4 Prozent (2010) auf 1,2 Prozent (2015) (32).
Risikoassessments Neben Interventionsprogrammen kann bereits der Einsatz von Instrumenten zur Risikovorhersage helfen, Zwangsmassnahmen vorzubeugen, indem Risikokonstellationen frühzeitig erkannt und rechtzeitig präventive Massnahmen eingeleitet werden (9, 15). Beispielhaft sollen hier die Brøset-Violence-Checkliste als fest etabliertes und erprobtes Instrument und die Analyse der Behandlungsdokumentation als neuer Impuls zur Verbesserung von Risikoassessments vorgestellt werden.
Brøset-Violence-Checkliste: Die Brøset-Violence-Checkliste ist eine in Norwegen entwickelte Skala zur Risikovorhersage (33). Ihre adaptierte Schweizer Version, die BVC-CH, beinhaltet neben der Bewertung von sechs Verhaltensweisen bezüglich ihres tatsächlichen Auftretens eine visuelle Analogskala, auf der das subjektiv eingeschätzte Risiko mit einem Schieber eingestellt wird. Die Bewertung der sechs Verhaltensweisen und das subjektiv eingeschätzte Risiko ergeben zusammen den Risikowert. Je nach ermitteltem Wert sollen präventive Massnahmen eingeleitet werden. Hierfür bietet die BVC-CH im Unterschied zur norwegischen Originalversion zusätzlich eine Liste mit Vorschlägen (15, 34). Durch die Anwendung der Skala konnten Zwangsmassnahmen sowie aggressive Vorfälle erfolgreich reduziert werden (15, 35, 36). Auch die UPK Basel verwenden die BVC-CH zur Risikoeinschätzung, und insbesondere die visuelle Analogskala wird von den Mitarbeitenden als sehr hilfreich wahrgenommen. Durch sie kann die Risikowahrnehmung in Form «des Bauchgefühls» einfliessen.
Analyse der Behandlungsdokumentation: Eine neue potenzielle Möglichkeit des Risikoassessments wurde kürzlich in zwei Studien publiziert (37, 38).

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FORTBILDUNG

Stepanow und Kollegen (2019) untersuchten die Akteneinträge des Gesundheitspersonals bei Patienten mit und ohne Isolationsmassnahme. Sie berichten, dass die Akteneinträge der Patienten mit Isolationsmassnahme einerseits umfassender waren und andererseits mehr subjektiv emotionale Ausdrücke enthielten. Auch negative Verhaltensbeschreibungen fanden sich häufiger in der Isolationsgruppe, ferner waren Ausdrücke wie «bedrohlich» ausschliesslich in den Einträgen dieser Gruppe zu finden (37). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Hazewinkel et al. (2019). Mittels Text Mining untersuchten sie ebenfalls die Akteneinträge von Patienten mit und ohne Isolationsmassnahme und berichteten von Unterschieden zwischen den Gruppen (38). Laut dieser Befunde könnte mithilfe eines automatisierten Textanalyseprogramms das Risiko einer bevorstehenden Zwangsmassnahme eingeschätzt werden, um präventive Massnahmen frühzeitig einleiten zu können (37, 38). Um die Textanalyse als standardisiertes evidenzbasiertes Werkzeug in die klinische Praxis zu integrieren, ist die Ausarbeitung eines Modells und dessen umfassende Erprobung allerdings noch ausstehend (38).
Tiergestützte Therapie Eine bislang noch wenig diskutierte Intervention zur Reduktion von Zwangsmassnahmen präsentierten Widmayer et al. (2019) kürzlich in ihrem narrativen Literaturreview zu den Effekten von tiergestützter Therapie (14). Diese hat nachweislich positive Effekte auf verschiedene Aspekte der psychischen Gesundheit wie beispielsweise Depression, Rumination, Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit, Demenz, Angst und Aggression (14, 39–43). Nurenberg et al. (2015) zeigten, dass eine tiergestützte Therapie mit Pferden wie auch Hunden die Aggressivität von Patienten reduzierte (43). Die tiergestützte Therapie könnte deshalb gezielt eingesetzt werden, um aggressives Verhalten zu reduzieren und so der Notwendigkeit von Zwangsmassnahmen aufgrund von Selbst- oder Fremdgefährdung vorzubeugen (14). Auch wenn es aus klinischer Sicht plausibel ist, dass sich durch den Einsatz tiergestützter Therapie Zwangsmassnahmen reduzieren lassen, gibt es hier allerdings noch wenig wissenschaftliche Evidenz und Bedarf an weiterer Forschung.
Fazit Zusammenfassend zeigt sich, dass Bemühungen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen erfolgreich sein können (z. B. 8, 13, 15, 17, 22). Besonders Interventionsprogramme, die auf mehreren Ebenen ansetzen, scheinen sich laut derzeitiger Studienlage zu bewähren (8, 13). Neben Konzeptveränderungen auf Klinikebene

(wie z. B. den Safewards oder einer Politik der offenen

Tür) sind auf therapeutischer Ebene kreative Ideen und

die Entwicklung von neuen Interventionen (z. B. im

Rahmen der tiergestützten Therapie) gefragt (14). Au-

tomatisierte Textanalyseprogramme könnten in Zukunft

Bestandteil eines umfassenden und verbesserten Risi-

koassessments sein (37, 38).

Die erfolgreiche Prävention von Zwangsmassnahmen

stellt zweifellos vielfältige Anforderungen an Kliniken

und ihr Personal. Eine Implementierung breit angeleg-

ter Interventionen gestaltet sich zu Beginn oft komplex

und erfordert ein Umdenken auf Organisationsebene.

Dennoch sind aktive Bemühungen zur Reduktion von

Zwangsmassnahmen aus rechtlicher und ethischer Per-

spektive weiterhin zwingend notwendig.

G

Korrespondenzadresse:

M. Sc. Tiziana Ziltener

Klinik für Erwachsene

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Wilhelm-Klein-Strasse 27

4002 Basel

E-Mail: tiziana.ziltener@upk.ch

Literaturverzeichnis online unter: www.psychiatrie-neurologie.ch

Merkpunkte:
● Zwangsmassnahmen stellen einen Eingriff in die Grundrechte von Patienten dar, ihre Anwendung gilt als Ultima Ratio.
● Strategien zur Reduktion von Zwangsnahmen sind vielseitig – sie reichen von Risikoassessments über Mitarbeitertrainings in Deeskalationstechniken, Strategien zum Umgang mit aggressivem Verhalten und spezifische therapeutische Interventionen zu dessen Minderung bis zu breit gefächerten Interventionsprogrammen.
● Laut derzeitiger Studienlage bewähren sich besonders Konzepte, die auf mehreren Ebenen ansetzen.
● Neue Impulse zur Reduktion von Zwangsmassnahmen sind u. a. die automatisierte Textanalyse der Behandlungsdokumentation und die tiergestützte Therapie zur Minderung aggressiven Verhaltens.

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Zur Behandlung der Schizophrenie

Wieder das Leben umarmen.
Das potente Antipsychotikum mit wichtigem Zusatznutzen1-6

Überzeugend in der Akutphase – Effektiv in der Rückfallprävention1-4

Nachweislich wirksam bei prädominanter Negativsymptomatik5,6

Vorteilhaftes Verträglichkeitsprofil1-4,7,8

5HT1A

H1

5HT2A

5HT2B

Einzigartiger Wirkmechanismus6,9,10

D3

D2

Referenzen: 1 Durgam S et al., Cariprazine in acute exacerbation of schizophrenia: a fixed-dose, phase 3, randomized, double-blind, placeboand active-controlled trial. J Clin Psychiatry. 2015; 76(12). 2 Durgam S et al., Long-term cariprazine treatment for the prevention of relapse in patients with schizophrenia: A randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Schizophr Res. 2016; 176(2-3): 264-271. 3 Kane JM et al., Efficacy and safety of cariprazine in acute exacerbation of schizophrenia: results from an international, Phase III clinical trial. J Clin Psychopharmacol. 2015; 35(4): 367-73. 4 Durgam S et al., An evaluation of the safety and efficacy of cariprazine in patients with acute exacerbation of schizophrenia: A phase II, randomized clinical trial. Schizophr Res. 2014; 152: 450-45. 5 Németh G et al., Cariprazine versus risperidone monotherapy for treatment of predominant negative symptoms in patients with schizophrenia: a randomised, double-blind, controlled trial. Lancet. 2017; 389(10074): 1103-1113. 6 Fachinformation Reagila®. Stand der Information März 2018, www.swissmedicinfo.ch. 7 Durgam S et al., Safety and tolerability of cariprazine in the long-term treatment of schizophrenia: results from a 48-week, single-arm, open-label extension study. Psychopharmacology. 2017; 234(2): 199–209. 8 Cutler AJ et al., Evaluation of the long-term safety and tolerability of cariprazine in patients with schizophrenia: results from a 1-year open-label study. CNS, Spectr. 2018; 23(1): 39-50. 9 Stahl S. Drugs for psychosis and mood: unique actions at D3, D2 and D1 dopamine receptor subtypes. CNS Spectrums. 2017, 22:375-384. 10 Kiss B et al., Cariprazine (RGH-188), a dopamine D(3) receptorpreferring, D(3)/D(2) dopamine receptor antagonist-partial agonist antipsychotic candidate: in vitro and neurochemical profile. J Pharmacol Exp.Ther. 2010; 333(1): 328-40.
Reagila (Cariprazin): I: Atypisches Antipsychotikum zur Behandlung von Schizophrenie bei erwachsenen Patienten. D/A: Hartkapseln zu 1.5/3/4.5/6 mg. Anfangsdosis beträgt 1.5 mg täglich. Dosis langsam in 1.5 mg Schritten hochtitrieren. Maximaldosis 6 mg/ Tag. Bei Umstellung auf Reagila Kreuztitration in Betracht ziehen. Bei Umstellung auf anderes Antipsychotikum keine sukzessive Kreuztitration erforderlich. Plasmakonzentration von Cariprazin und aktive Metaboliten nimmt in 1 Woche ca. 50% ab. Reagila 1 x tägl. zur gleichen Tageszeit mit oder ohne Mahlzeit einnehmen. Anwendung bei Patienten > 65 Jahre, bei Kindern und Jugendlichen, bei schwerer Leber-, Niereninsuffizienz nicht untersucht. W/VM: Möglichkeit von Suizidalität gehört zu psychotischen Erkrankungen. Patienten mit erhöhtem Risiko engmaschig überwachen. Akathisie und Unruhe sind häufig auftretende Nebenwirkungen, Patienten anfällig für Akathisie engmaschig in erster Behandlungsphase beobachten. Bei Auftreten einer tardiven Dyskinesie absetzen von Reagila in Erwägung ziehen. Bei vorhandener Parkinson-Krankheit Risiko gegenüber Nutzen von Reagila abwägen. Patienten die eine Linsentrübung entwickeln zur Abklärung in ophthalmologische Untersuchung schicken. Reagila sofort absetzen, wenn Symptome eines malignen neuroleptischen Syndroms entstehen. Reagila vorsichtig anwenden bei Patienten mit Krampfanfällen und Konvulsionen, sowie bei Schlaganfallrisiko, kardiovaskulären Erkrankungen und Überempfindlichkeit gegenüber Azofarbstoff. Anwendung von Reagila bei Demenz nicht untersucht. Serumglukosespiegel bei Patienten mit Hyperglykämie und Diabetes mellitus überwachen. Frauen im gebärfähigen Alter müssen zuverlässige Verhütungsmethoden anwenden. Gewicht regelmässig überwachen. IA: gleichzeitige Anwendung von Reagila mit starken oder moderaten CYP3A4Inhibitoren, CYP3A4-Induktoren. Nicht bekannt, ob Reagila Wirksamkeit systemisch wirkender hormoneller Kontrazeptiva herabsetzt. Frauen, die systemisch wirkende hormonelle Kontrazeptiva anwenden, müssen zusätzlich Barrieremethode anwenden. Reagila in Kombination mit anderen zentral wirkenden Arzneimitteln und Alkohol mit Vorsicht anwenden. Stillen während Behandlung mit Reagila unterbrechen. UW: sehr häufig: Akathisie, Parkinsonismus. häufig: Gewichtszunahme, verminderter Appetit, gesteigerter Appetit, Dyslipidämie, Schlafstörungen, Angst, Sedierung, Schwindelgefühl, Dystonie, sonstige extrapyramidale Erkrankungen und Bewegungsstörungen, Verschwommenes Sehen, Tachyarrhythmie, Hypertonie, Übelkeit, Obstipation, Erbrechen, Leberenzyme erhöht, Kreatinphosphokinase im Blut erhöht, Ermüdung. Gelegentliche, seltene und sehr seltene UW entnehmen Sie der Fachinformation. P: Reagila 1.5 mg/ 3 mg/ 4.5 mg/ 6 mg in Packungen zu 28 und 56 Hartkapseln, Liste B.
Weitere Informationen entnehmen Sie bitte der Arzneimittelinformation, www.swissmedicinfo.ch. Stand der Information: März 2018. Recordati AG, Lindenstrasse 8, 6340 Baar. V1.0/07.18

Reagila_Ins_d/02.2020

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SGKJPP JAHRES-E-KONGRESS
Hauptveranstaltung: 28. August 2020, Universität Zürich
Vor-E-Kongress für Studierende und Assistenzärzte: 27. August 2020
Herausforderungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie heute und morgen
KEYNOTES Susanne Walitza, Zürich Michael Kaess, Bern Bruno Falissard, Paris Johannes Hebebrand, Duisburg Essen ZIELE DES JAHRESKONGRESSES > Stärkung der Identität der SGKJPP > Netzwerkplattform für junge Ärzte und Ärztinnen > Austausch unter erfahrenen Experten und dem Nachwuchs

FORTBILDUNG
Deeskalation in der Akutpsychiatrie – am Beispiel der UPK Basel

Fabienne Roth

Die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) sind bestrebt, die Anzahl der Zwangsmassnahmen möglichst gering zu halten und setzen alles auf ihre Reduktion. Eine effektive Deeskalationsstrategie ist dafür zentral (1). Der Begriff Deeskalation ist nicht eindeutig definiert (2). Wichtig scheinen aber ein Bewusstsein für informellen Zwang, ein spezifisches Training, eine respektvolle und empathische Haltung, ein entsprechendes Abteilungsklima, eine positiv empfundene Eintrittssituation sowie allfällige Nachbesprechungen zu sein (3). Die UPK Basel verstehen unter Deeskalation entsprechend nicht nur einzelne Interventionsstrategien, -techniken und Handlungen zur Spannungsreduktion auf individueller Ebene, sondern beziehen verschiedene Ansätze mit ein, die im Beitrag beschrieben werden.

Franziska Rabenschlag
Tiziana Ziltener
Julian Möller
Christian G. Huber
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von Fabienne Roth*, Franziska Rabenschlag*, Tiziana Ziltener*, Julian Möller* und Christian E. Huber*
Strukturelle Ansätze
D ie UPK sind störungsspezifisch in verschiedene Kliniken und Bereiche unterteilt. Jede Klinik (Klinik für Erwachsene [UPKE], Privatklinik [UPKP], Klinik für Forensik [UPKF], Klinik für Kinder- und Jugendliche [UPKKJ]) der UPK verfügt über mindestens eine Abteilung, die als psychiatrische Intensivabteilung bezeichnet werden kann. Sämtliche Abteilungstüren – ausser diejenigen der UPKF –sind, wenn immer möglich, tagsüber geöffnet. Dabei sind die Stationsöffnungen nicht nur als mechanischer Vorgang zu verstehen, sie bedingen auch eine Haltungsänderung wie die Patientenorientierung oder eine partnerschaftliche Arbeitsweise (4, 5). Nebst den Veränderungen im stationären Bereich bieten die UPKE eine Behandlung zu Hause an: das Home-Treatment als Übergang nach einem stationären Aufenthalt oder bei häufiger Inanspruchnahme eines stationären Angebots. Damit möchte man mit einer gezielten und multiprofessionellen Behandlung auf die Bedürfnisse von Menschen mit einer psychischen Erkrankung reagieren können (6). Der Psychose-, Sucht- und Altersbereich sowie die UPKF und die UPKKJ sind je mit einem bis drei Isolationszimmern ausgestattet. Die am deutlichsten von Patienten, Mitarbeitenden und auch Angehörigen abgelehnten Massnahmen sind bewegungseinschränkende Massnahmen wie das Netzbett, welches mit Netzen umgeben und nach oben hin geschlossen ist. Fixierungen werden in den UPK – mit Ausnahme eines Einzelfalles in
* Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel (UPK), 4002 Basel

der UPKF – seit Jahrzehnten nicht mehr durchgeführt. Ebenso unbekannt in der Praxis der UPK sind Netzbetten. Im Psychosebereich wurde in einem Isolationszimmer eine sogenannte Medienwand eingebaut, vergleichbar mit einem grossen in die Wand eingebauten TabletComputer (8). Diese Medienwand bietet den Patienten während einer Isolation potenzielle Orientierung, Ablenkung und Beschäftigung durch die selbstständige Steuerung und Betätigung der Applikationen wie beispielsweise Musikhören, Zeichnen oder Gamen (9). Auch der Einsatz der Medienwand als deeskalative Intervention ohne geschlossene Isolation findet in der Praxis Einzug und lässt sich am ehesten bei den Konzepten zur Reizregulierung oder der Sensory-Rooms einordnen (10–14). Um so wenige Isolationen wie möglich einsetzen zu müssen, werden in den UPK auch psychiatrische Intensivbetreuungen (auch als 1:1-Betreuung oder Sitzwachen bezeichnet) bei akuten psychischen Krisen, zur Deeskalation und zum Schutz der eigenen Person und deren Umfeld eingesetzt. Um eine konstante unterstützende Beziehung zu gewährleisten, werden die Intensivbetreuungen, wenn immer möglich, mit pflegerischen Bezugspersonen des Teams durchgeführt. Nachts oder bei personellen Engpässen können auch externe Mitarbeitende eingesetzt werden. Die Intensivbetreuungen in den UPK werden anhand der schweizweiten Empfehlungen gestaltet (15). Somit steht bei einer Intensivbetreuung mehr die beziehungsorientierte, befähigende und therapeutische Gestaltung im Vordergrund als eine primär schutzgebende und sicherheitsbasierte Durchführung. Die Mitarbeitenden der UPK dokumentieren des Weiteren über ein internes Meldesystem alle relevanten Aggressionsereignisse. Diese Erfassung eröffnet einerseits Auswertungsmöglichkeiten, um Hinweise in Bezug auf

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

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FORTBILDUNG

Kasten:
Aggressionsprävention und Deeskalation (ADE) in den UPK: Ganz praktisch

Risikoeinschätzung Treten Patienten in die Klinik ein, ob freiwillig oder im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung (FU), findet in der Regel eine erste Risikoeinschätzung statt. Diese erfolgt durch die Pflegefachpersonen oder je nach Situation multiprofessionell. Dazu wird die BrösetGewaltcheckliste (BVC-CH) verwendet. Die BVC-CH ist ein evidenzbasiertes Fremdeinschätzungsinstrument, das psychometrisch als valide getestet wurde (28, 29). Das Instrument konnte sich vor allem aufgrund seiner Verständlichkeit und Handhabbarkeit auch in anderen psychiatrischen Kliniken etablieren. Zusätzlich zur Risikoeinschätzung wird nach einer vorhandenen Patientenverfügung gefragt. Davon ausgehend können Massnahmen für die multiprofessionelle Behandlungsplanung in Bezug auf das Thema Aggressionen und Gewalt abgeleitet werden. Vorzugsweise sind die Betreuungspersonen des Behandlungsteams, wie beispielsweise die Bezugsperson der Pflege, bereits definiert und können sich gezielt in den Behandlungsprozess einbringen. Auch wenn aktuell kein Risiko bestehen sollte, wird empfohlen, das Thema Aggression, Wut oder Ärger in den ersten Gesprächen mit den Patienten aufzugreifen und zu thematisieren. Es geht darum herauszufinden, was für die Patienten schwierige und herausfordernde Elemente sind oder sein könnten, wie sie sich dabei verhalten und welche Strategien sie im Falle von Unmut oder Ärger bereits anwenden. Das erfordert einen offenen und gleichzeitig behutsamen respektvollen Umgang seitens des Behandlungsteams, damit eine Vertrauensbasis geschaffen werden kann. Ein Perspektivenwechsel, also sozusagen «das Aufsetzen der Brille des Gegenübers», hilft dabei, verständnisvoll und offen zu sein.
Frühzeitiges Intervenieren Ein wichtiger Schritt und ebenfalls im Rahmen der Prävention anzusiedeln, ist die frühzeitige Intervention. Es ergibt keinen Sinn abzuwarten, bis aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten auftaucht, da die Erfolgschancen zur Deeskalation mit zunehmender Anspannung erschwert sein können (26). Verhält sich ein Patient agitiert (unruhig, angespannt, ängstlich), nehmen wir das möglichst ernst und ergreifen aktive Massnahmen. Zu vermeiden sind bei diesem Verhalten Grenzsetzungen im Sinne von Aufforderungen, das Verhalten doch anzupassen und sich ruhig zu verhalten. Agitiertes Verhalten soll nicht bagatellisiert, sondern aufgenommen werden, soll Raum erhalten, und zusammen mit dem Patienten sollen Lösungen gefunden werden. Es wird davon ausgegangen, dass Emotionen wie z. B. Ängste hinter dem Verhalten stehen können. Die zu Beginn im Beitrag erwähnte erste Auseinandersetzung mit dem Thema sowie der Perspektivenwechsel

können wichtige Hinweise dafür liefern, welche Interventionen weiter indiziert sein könnten. Oft erweisen sich aber Faktoren wie das Anwesendsein, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören und «menschliches» Begegnen als Schlüssel zum Erfolg.
Deeskalation bei aggressiv bedrohlichem Verhalten Kommt es zu Situationen mit aggressiv bedrohlichem Verhalten, werden Massnahmen zur Eskalationsvermeidung, Spannungsreduktion und Reduktion der inneren Not eingesetzt (26). Aggressiv bedrohliches Verhalten kennzeichnet sich durch konkret gerichtete Drohungen, erhöhte Anspannungszustände sowie deutlichen verbalen und nonverbalen Ausdruck von Wut und Ärger. Die deeskalierenden Massnahmen beinhalten gezielte verbale Techniken sowie nonverbale Deeskalationsmassnahmen wie beispielsweise die Körpersprache und sicherheitsrelevante Aspekte. In solchen Situationen soll nicht allein gehandelt werden, und es benötigt klare Absprachen. Eine mögliche drohende Eskalation wird beachtet, Alarmierungsmöglichkeiten und die persönliche Sicherheit gewinnen an Bedeutung (26).
Zwangsmassnahmen im Rahmen eines Aggressionsereignisses Erst wenn deeskalative Massnahmen scheitern, kommen Zwangsmassnahmen im Rahmen eines Aggressionsereignisses als letztes Mittel zum Einsatz. Zwangsmassnahmen wie auch die Körpertechniken sollten von geschultem Personal durchgeführt werden. Dabei sind entsprechend den Leitlinien schonende und strukturiert ablaufende Vorgehensweisen in Bezug auf Festhaltetechniken anzuwenden und der Sicherheit und der Unversehrtheit aller Beteiligten höchste Priorität beizumessen (6). Für die Praxis empfiehlt es sich, die Arbeitsschritte und die Arbeitsaufteilung in internen Standards festzuhalten und in den Schulungen multiprofessionell zu üben und zu wiederholen.
Nachbesprechung Ein Aggressionsereignis benötigt immer auch eine Nachsorge. Dabei ist wiederum an alle Beteiligten zu denken: die Patienten, die direkt involvierten Mitarbeitenden, aber auch andere Patienten oder Personen auf den Abteilungen, die ein Aggressionsereignis indirekt miterlebten, wie beispielsweise Angehörige. Für Patienten bietet sich eine strukturierte Nachbesprechung von erlebten Zwangsmassnahmen an, welche zunehmend Einzug in die Praxis findet und auch von der S3-Leitlinie klar empfohlen wird (6, 30). In den UPK zielen wir darauf ab, dafür definierte und geschulte Ansprechpersonen, Anlaufstellen, psychologische Unterstützung sowie kollegiale Hilfestellungen innerhalb eines Teams einzusetzen.

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

Handlungsbedarf und Interventionsanpassungen zu erhalten. Andererseits bietet sie eine wichtige Sensibilisierung für das Thema Aggression und Gewalt. Eine notwendige Sensibilisierung, um Haltungsänderungen und den professionellen Umgang der Mitarbeitenden zu unterstützen (2).
Kommunikation Derzeit wird in den UPK ein Projekt zum Thema «Sprache und Dokumentation» durchgeführt. Damit soll der Fokus u. a. auf eine deeskalative Wort- und Sprachwahl gerichtet werden, um auch subtile Formen der Aggression – aufseiten der Fachpersonen wie auch der Patienten – wahrzunehmen und ihr deeskalativ zu begegnen. Subtile Formen von Aggression und Gewalt werden auch als informeller Zwang (16) oder Behandlungsdruck (17) bezeichnet. Damit sind Interaktionen mit Patienten gemeint, wie z. B. Verhandeln oder Überreden, mit dem Ziel, die Behandlungsbereitschaft zu verbessern (18) sowie formalen Zwang zu vermeiden (16). Rund ein Drittel der psychiatrischen Patienten in der Schweiz und im Vereinigten Königreich berichten von Erfahrungen mit konditionalen Angeboten oder Drohungen (18, 19). Im Versorgungsangebot der USA sind es sogar 45 bis 60 Prozent (20). Von Fachpersonen wird informeller Zwang seltener als solcher erkannt (17, 21). Weiter hat sich gezeigt, dass nicht nur formaler Zwang, sondern auch informeller Zwang von Patienten negativ empfunden wird und die therapeutische Beziehung beeinträchtigt (16, 22, 23). Auch zeigte sich, dass Patienten informellen Zwang eher akzeptieren, wenn sie diesen als gerecht wahrnehmen, das heisst bei höchstmöglicher Partizipation, Würde, Transparenz und Vertrauen (24). Eine gute therapeutische Beziehung führt am ehesten zur Akzeptanz von Zwang (25).
Aggressionsprävention und Deeskalation (ADE) Neben den beschriebenen strukturellen Ansätzen und dem Fokus auf Sprache und Dokumentation bieten die UPK seit 2014 ein obligatorisches flächendeckendes Deeskalations- und Aggressionsmanagement (ADE) für alle Mitarbeitenden mit Patientenkontakt an. Die systematische Schulung von Mitarbeitenden in Deeskalationstechniken und Strategien zum Umgang mit aggressivem Verhalten wird in der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zur Verhinderung von Zwang empfohlen (6).
RADAR-Methode® Die ADE Schulungen in den UPK richten sich nach der RADAR-Methode® des Holländers Leo Regeer. RADAR steht für Risiko erfassen und einschätzen, Aggressionsmerkmale erkennen, Diagnose und Ergebnis bestimmen, Aktionen und Interventionen planen und reagieren, handeln und registrieren. Das RADAR-Modell stellt ein Frühwarnsystem dar, welches Risiken für Aggression und Gewalt in vier Stufen einteilt und davon ausgehend Interventionsstrategien ableitet (26). Die Interventionen bestehen aus deeskalativen und kommunikativen Techniken sowie aus Körpertechniken zum Schutz und zur Sicherheit aller Beteiligten. Je nach Berufsgruppe und Patientenkontakt sind die Schulungsinhalte entspre-

chend angepasst und dauern von einem Tag bis zu

einem fünftägigen Basiskurs. Die Mitarbeitenden aus

den entsprechenden Berufsgruppen der UPK sind ver-

pflichtet, diese Kurse zu besuchen. Die Basiskurse rich-

ten sich an die pflegerischen und sozialpädagogischen,

medizinischen sowie psychologischen Mitarbeitenden.

Sie beinhalten Themenblöcke zu Verständnis von

Aggression, Gewalt und herausforderndem Verhalten,

Aggressionstheorien und Verlaufsprozessen, Training

von verbaler und nonverbaler Deeskalation, Prävention

und Sicherheitsmanagement, Nachsorge und Nachbe-

arbeitung, rechtlichen und ethischen Aspekten, Assess-

ment und Risikoeinschätzung sowie Training von

persönlichen Sicherheitstechniken und Teamtechniken.

Die Schulungen entsprechen den inhaltlichen und

strukturellen Vorgaben des Netzwerks Aggressionsma-

nagement im Gesundheits- und Sozialwesen (NAGS)

Schweiz (27). Zusätzlich werden in den UPK jährliche

Auffrischungskurse in verbaler Deeskalation und den

Körpertechniken angeboten. Dabei werden konkrete

Praxissituationen aufgegriffen, evaluiert und Hand-

lungsalternativen erarbeitet. Seit zwei Jahren werden

zunehmend positive Erfahrungen mit abteilungsbezo-

genen multiprofessionellen Refresher-Angeboten ge-

macht. Diese ermöglichen auf individueller und

Teamebene eine vertiefte Auseinandersetzung und Re-

flexion der herausfordernden Situationen, eine geziel-

tere Herangehensweise und unterstützten zudem ein

gemeinsames Verständnis und Verantwortungsbe-

wusstsein (Kasten).

G

Korrespondenzadresse:

Dr. phil. Franziska Rabenschlag

Bereichsleitung Pflege ZDK, ZPE

Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention

Zentrum für Psychotische Erkrankungen

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Wilhelm-Klein-Strasse 27

4002 Basel

E-Mail: Franziska.Rabenschlag@upk.ch

Literaturverzeichnis online unter: www.psychiatrie-neurologie.ch

Merkpunkte:
● Die Deeskalationsstrategie in den UPK setzt auf verschiedenen Ebenen an. Sie umfasst Strukturen und die Organisation der Behandlungsprozesse sowie Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten.
● Zentral ist die Schulung aller Mitarbeitenden. ● Bei den Schulungen gibt es nach einigen Jah-
ren Erfahrung einen Trend weg von allgemein gehaltenen Aggressionspräventions- und Deeskalationsschulungen im klassischen Sinne hin zu massgeschneiderten teambezogenen Trainings vor Ort auf den Abteilungen.

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

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Verzweiflung und Suizidalität

FORTBILDUNG

Suizide gehören in der Psychiatrie zu den häufigen Todesursachen (1, 2). Diese tragischen Ereignisse haben nicht nur Auswirkungen auf die Angehörigen der Opfer, sondern stellen auch für die Mitarbeitenden eine grosse Belastung dar. Zwei im Beitrag dargestellte Modelle helfen, die Ursache und den Ablauf eines Suizids besser zu verstehen und Suizidale zu erkennen. Zudem können die Modelle Therapeuten darin unterstützen, einen besseren Zugang zu den Patienten zu finden.

Thomas Reisch

von Thomas Reisch
S uizid ist der Super-GAU im Fachgebiet Psychiatrie. Durch keine andere Situation verlieren wir mehr Menschen, durch keine andere Handlung werden mehr Therapeuten traumatisiert. In der Regel leiden 4 bis 8 enge Angehörige über viele Jahre unter den Auswirkungen eines Suizids. Suizid ist ein tabuisiertes Thema. Sowohl der betroffene Patient als auch die Angehörigen und leider oft auch die Profis vermeiden dieses Gesprächsthema. Dabei ist klar, dass das Reden über Suizidalität von den Patienten als hilfreich erlebt wird. Die Angst, man könne «schlafende Hunde» wecken und den Patienten erst auf die Idee zum Suizid bringen, wurde in zahlreichen Studien widerlegt. Für das Gespräch über Suizidalität ist es wichtig, diese zu verstehen. Genau hierzu soll dieser Artikel beitragen.

sogenannten Armeereform XXI wurde 2003 die Armee verkleinert und wurden die Wiederholungskurse verkürzt. Durch diese Massnahmen waren Schusswaffen für Männer zwischen 19 und 43 Jahren deutlich weniger zugänglich. In den Folgejahren sank die Suizidrate in der Schweiz (4). Diese Verringerung war ausschliesslich bedingt durch eine Reduktion von Suiziden mit Armeewaffen (5) und beschränkte sich auf Männer und die entsprechende Altersgruppe. Wechselten die Männer aber nicht einfach auf eine andere Suizidmethode, weil die Waffe nicht mehr verfügbar war? Die Studie von Reisch et al. 2013 (4) erlaubte erstmals, diese Frage zum «Methodenswitch» verlässlich quantitativ zu beantworten: Es zeigte sich, dass 22 Prozent eine andere Methode wählten. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass in 78 Prozent tatsächlich ein Leben allein aufgrund der Reduktion der Verfügbarkeit gerettet werden konnte.

Kann man Suizide überhaupt verhindern? Zwei Studien belegen das: 1. Gerettete Menschen sterben nur zu 5 Prozent
an einem erneuten Suizidversuch Die Effekte des Zurückhaltens vom Suizidsprung von der Golden Gate Bridge wurden bereits 1979 von Seiden (3) untersucht. Er beforschte die Langzeitentwicklung von 515 Menschen, die im letzten Moment vom Sprung von der Golden Gate Bridge zurückgehalten wurden. Seiden konnte zeigen, dass nach 26 Jahren sich gerade einmal 4,8 Prozent das Leben genommen hatten. Ein Suizidversuch ist folglich ein vorübergehender Zustand, überlebt man diesen, hat man grosse Chancen, um zum Leben zurückzufinden – so wie das 95 Prozent der Personen aus Seidens Studie gelang.
2. Die Reduktion der Armeewaffen senkt die Suizidrate
In der Schweiz ist Erschiessen mit der (ehemaligen) Armeewaffe eine der häufigsten Suizidmethoden. In der

Modelle zur Erklärung von Suizidalität Mit einer Reduktion der Verfügbarkeit wird man nicht alle Suizide verhindern können. Häufiger könnten Suizide wahrscheinlich durch geeignete klinische Massnahmen verhütet werden. In einem ersten Schritt gilt es zu verstehen, wie es zu Suizidalität kommt: Was passiert in Menschen, die versuchen, sich das Leben zu nehmen? Hierzu sollen zwei Suizidmodelle betrachtet werden. Eines fokussiert auf die Verhaltensebene, das zweite auf die psychologische Ebene.
Suizidmodell Joiner Joiner (6) hat ein verblüffend einfaches Modell entworfen, das hilft, die Psycho-Logik des Suizids zu verstehen (Kasten 1). Als Erstes geht er davon aus, dass nicht alle Menschen sich suizidieren können. Tatsächlich sehen wir in der Klinik immer wieder Patienten, die hoch depressiv sind, aber glaubhaft jede Suizidalität verneinen. Einige Menschen haben somit die Fähigkeit, sich das Leben zu nehmen, andere nicht. Doch das ist keines-

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

wegs ein Fixum, das unverrückbar ist. Wir wissen, dass gewisse Ereignisse, wie zum Beispiel Traumata, die Schwelle zur Suizidhandlung senken können. Zusammenfassend bezeichnet Joiner das als «erworbene Fähigkeit zum Suizid», die eine Grundvoraussetzung für einen Suizid darstellt. Laut entsprechenden Studienergebnissen muss man davon ausgehen, dass etwa 50 Prozent der Bevölkerung sich prinzipiell das Leben nehmen können, mit sehr individuellen Schwellen für die Ausführung der Suizidhandlung.

Kasten 1:
Psychologisches Modell nach Joiner 2005 (6)

Zwei Faktoren entscheidend Für den eigentlichen Suizidversuch sind dann zwei psychologische Faktoren zentral. Der erste wird etwas sperrig mit «verhinderte Zugehörigkeit» oder Einsamkeit betitelt. Menschen sind soziale Wesen, werden sie aus sozialen Kontexten herausgeworfen oder verlieren sie Bezugspersonen, führt das zu grossem Leid, häufig als Mental Pain bezeichnet. Untersucht man post mortem die Gründe für einen Suizid, so findet man, dass interpersonelle Probleme eine zentrale Rolle spielen. Die Inhalte sind zumeist altersspezifisch: Bei Jugendlichen ist es zum Beispiel der Ausschluss aus einer Peer-Gruppe oder der Verlust der ersten grossen Liebe. Das Fremdgehen des Partners wird in vielen Altersbereichen gefunden. Im hohen Alter ist der Verlust des Ehepartners durch Tod von Bedeutung. Aber auch der Arbeitsplatzverlust ist ein Beispiel für eine verhinderte Dazugehörigkeit. Der zweite Faktor ist die erlebte Last für sich und andere. Hierunter subsumiert Joiner sowohl die psychiatrischen Symptome (selbst zu tragende Last) als auch das Gefühl, anderen zur Last zu fallen. Nicht selten hören wir in der Klinik zum Beispiel die Worte: «Es wäre besser für alle, wenn ich tot wäre.» Joiners Modell hilft in verblüffend einfacher Weise, suizidale Menschen zu erkennen und ihr Handeln nachzuvollziehen (Kasten 1).
6-Phasen-Modell nach Reisch (2012, 7) Präsuizidale Phase In sogenannten psychologischen Autopsiestudien wurde wiederholt gezeigt, dass der allergrösste Teil von denjenigen, die sich suizidieren, eine psychiatrische Symptomatik hatten. Wenn man genauer hinsieht, finden sich hierunter im Grunde alle psychiatrischen Störungen. Selbstverständlich sind nicht alle Störungen gleich häufig vertreten. Am häufigsten (relativ gesehen) und damit am gefährlichsten scheinen Depressionen im Rahmen einer bipolaren Störung zu sein. Bei den Persönlichkeitsstörungen werden die narzisstische und die Borderline-Persönlichkeitsstörung am häufigsten gefunden. Aufgrund der grossen Prävalenz ist die Depression im Rahmen einer Major Depression (depressive Episode) in absoluten Zahlen am häufigsten. Doch bei den Suizidenten finden sich nicht selten auch Anpassungsstörungen oder auch subklinische Zustände. Auch diese werden dann in einigen Studien als psychiatrische Problematik klassifiziert. Streng genommen, könnte man aber darüber streiten, ob das Label «psychiatrische Störung» hier wirklich gerechtfertigt ist. Zusammenfassend kann man dennoch sagen, dass die meisten Menschen, die einen Suizidversuch begehen, eine klinische oder zumindest subklinische Problematik aufweisen, bevor die Kaskade der Suizidhandlung be-

Kasten 2:
Phasenmodell nach Reisch (2012, 7):
1. Präsuizidale Phase 2. Mental-Pain-Phase 3. Suizidhandlungsphase 4. Finale Ambivalenzphase 5. Finale Handlungsphase 6. Aufwachphase
ginnt. Das ist somit die Grundvoraussetzung oder Phase 1 im 6-Phasen-Modell (Kasten 2).
Mental-Pain-Phase In dieser geschwächten Situation kommt es dann zu einer Mental-Pain-Situation, wie sie oben im Joiner-Modell schon beschrieben wurde. Das kann external bedingt sein (z. B. Verlust des Partners) oder auch internale Ursachen haben (z. B. die Kognitionen «Diese Niedergeschlagenheit halte ich nicht mehr aus»). In dieser Mental-Pain-Phase ist der Mensch im Hier und Jetzt gefangen. Er sieht nicht mehr, dass es wieder besser kommen könnte. Er kann auch nicht zurückblicken und von den früheren guten Momenten des Lebens zehren. Angehörige werden nicht mehr wahrgenommen (selbst wenn sie in der Realität da sind und gern Hilfe leisten möchten). Hier erkennt man die von Joiner beschriebene verhinderte Dazugehörigkeit und die erlebte Last für sich selbst wieder. In dieser Phase der Verzweiflung braucht es keine psychopathologische Ausbildung, um zu erkennen, dass diese Menschen leiden. Ihr einziges Ziel ist es, den seelischen Schmerz loszuwerden. In zeitlicher Folge manifestiert sich also schrittweise der Gedanke: «Ich nehme mir das Leben, das ist die Lösung des Problems.»
Suizidhandlungsphase Die eigentliche suizidale Handlung wird in die Tat umgesetzt. Da aus der Patientensicht die Lösung für das Problem nun gefunden ist, kommt es zu einer subjektiven Entlastung. In Phase 3 ist der Patient also prototypisch entlastet und kann deshalb von aussen nicht mehr so leicht als suizidal erkannt werden. Nicht selten sagt zum Beispiel die Pflegekraft, die einen Patienten die Station verlassen sah, welcher sich später suizidierte:

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FORTBILDUNG

Kasten 3:
Video zum Thema Verzweiflung und Suizid
Das Video veranschaulicht die innere Verzweiflung eines suizidalen Menschen und den «autopilotartigen» Zustand (partielle Dissoziation), in dem die Suizidhandlung ausgeführt wird: Die Betroffene bewegt sich weder besonders schnell, um der Polizei zu entkommen, noch demonstrativ langsam. Es zeigt ferner, wie durch Zivilcourage die Betroffene im letzten Moment gerettet wird. Die Betroffene selbst hat dieses Video auf Youtube gestellt. Sie bereute ihre Tat und war äusserst dankbar für die Rettung (Phase 6: Aufwachen). Kein Hinweis findet sich in diesem Beispiel für die Phase 3 (finale Ambivalenz). Link: Video T. Zahn: https://www.youtube.com/watch?v=PyuKLU8ChFc
Kasten 4:
6-Phasen-Modell des Suizidversuchs und Zitate aus einem Patienteninterview
Quelle: K. Heynes: übersetzter Auszug aus einem Interview mit L. Firestone, der einen Sturz von der Golden Gate Bridge überlebte
1. Präsuizidale Phase: «Ich leide an einer bipolaren Störung.» 2. Mental-Pain-Phase: «Es war unerträglich, ich sah keine Zukunft mehr. Meine An-
gehörigen waren wie weg, obwohl sie mich und ich sie immer gern gehabt habe. Ich hielt es nicht mehr aus, ich hatte das Gefühl, dass ich einfach weg muss, mein Leben beenden muss.» 3. Suizidhandlungsphase: «Ich ging zur Brücke.» 4. Finale Ambivalenzphase: «Ich lief noch eine Zeit lang auf der Brücke auf und ab.» 5. Finale Suizidhandlung: «Plötzlich war es endgültig klar, jetzt mache ich es, hier beende ich mein Leben. Ich nahm Anlauf und gab niemanden mehr die Chance, etwas zu tun.» 6. Aufwachphase: «In dem Moment, als ich im freien Fall war, wurde klar: Mein Gott, was habe ich getan? Ich bin tot, aber ich habe doch eigentlich ein gutes Leben gehabt.»
«Komisch, er wirkte so entspannt, ich hätte nie gedacht, dass er sich das Leben nimmt.» Bei genauer Betrachtung finden sich in dieser Phase nicht selten kleine und leicht zu verpassende Auffälligkeiten. Um die Suizidhandlung durchführen zu können, befindet sich der Patient oft in einem dissoziationsähnlichen Zustand, einer Art «Autopilot». In diesem Stadium führt der Patient problemlos Small Talk, ein richtiges Gespräch über zukunftsgerichtete Inhalte wird aber vermieden oder ist auffallend unverbindlich. Der Blickkontakt und Kontakte zu anderen werden vermieden. Der Patient ist im Vergleich zur nahen Vergangenheit auffällig entspannt. In uns sollten somit die Alarmglocken läuten, wenn ein zuvor hoch suizidaler Patient plötzlich deutlich gebessert scheint und entspannt wirkt (Kasten 3).
Finale Ambivalenzphase Interessant ist, dass wahrscheinlich etwa die Hälfte der Suizidenten vor der endgültigen Handlung noch einmal innehält. So kann beobachtet werden, wie Menschen zum Beispiel auf der Brücke stehen und vor dem Sprung zögern oder am Bahngleis stehen und den ersten Zug durchfahren lassen. In dieser Phase findet sich erneut seelischer Schmerz. Menschen in dieser Phase können relativ leicht erkannt werden. Der Überlebenswille gewinnt noch einmal kurz die Oberhand. Viele werden in

dieser Phase von unbeteiligten Dritten gerettet, häufig von Passanten. Anzunehmen, dass diese Menschen nicht springen wollten, sondern demonstrativ gerettet werden wollten, ist in den allermeisten Fällen eine Fehlannahme, beruhend auf dem Nichtverständnis der Psycho-Logik eines suizidalen Menschen. Auch wenn nur ein Teil der Menschen diese Phase durchlebt, ist sie von zentraler Bedeutung, da hier ein Menschenleben gerettet werden kann. Das erfordert jedoch Zivilcourage: Man muss den Mut haben, einen unbekannten Menschen anzusprechen. Besondere Fähigkeiten braucht es dafür hingegen nicht. Es reicht, ganz natürlich auf Gefährdete zuzugehen und – sich vorsichtig aufdrängend – ein Gespräch zu beginnen. Suizid ist ein Tabu. Oft wird der Suizidale in dieser Situation die Suizidgefahr zunächst leugnen. Zumeist benötigt man Zeit und damit Geduld, um eine minimale Beziehung aufzubauen und so den Suizidalen überzeugen zu können, die gefährliche Situation zu verlassen.
Finale Suizidhandlung Nach der Zeit der Ambivalenz, die ohne Intervention von aussen oft nur Sekunden oder wenige Minuten dauert, läuft die eigentlich geplante Suizidhandlung wieder an. Nun wird die Methode ausgeführt, zum Beispiel werden die Tabletten geschluckt, oder der Sprung wird vollzogen.
Aufwachphase Wir wissen, dass die allermeisten Patienten die Suizidhandlung jedoch schon sehr bald bereuen und sich wieder dem Leben zuwenden. Bei einem Sprung von der Brücke bereuen die meisten ihre Suizidhandlung bereits während des Sprungs. Demzufolge ist es eine Frage der gewählten Methode, ob die Handlung noch umgekehrt, abgebrochen oder deren Folgen verhindert werden können. Bei Sprung, Erschiessen und Erhängen ist das zumeist nicht möglich, bei Schneiden oder Vergiftungen hingegen schon. Suizidenten verständigen nicht selten kurz nach dem Suizidversuch Angehörige oder kommen zum Notfall, weil sie unmittelbar nach der Suizidhandlung «aufwachen». Das Aufwachen wird gelegentlich aber erst nach Tagen oder Wochen beobachtet (Kasten 4).
Möglichkeiten der Suizidprävention Die Behandlung einer zugrunde liegenden Grunderkrankung durch Medikamente und Psychotherapie verhindert den Übergang von Phase 1 (präsuizidale Phase) zur Mental-Pain-Phase (Phase 2). Die äusserst wirksame Einschränkung von Suizidmethoden be- oder verhindert den Übergang von der finalen Ambivalenz (Phase 3) zur finalen Suizidhandlung (Phase 4). Hierzu zählen zum Beispiel die Sicherung von Brücken und Bahnhöfen oder die Beschränkung von Schusswaffen und die Einhaltung von Medienguidelines zur Berichterstattung über Suizide. Kampagnen wie «Reden kann retten» (8) fördern unter anderem die Zivilcourage und verhindern häufig sehr nachhaltig die finale Handlungsphase (Phase 4).
Genderspezifische Unterschiede Das Thema Suizidalität zeigt einige genderspezifische Unterschiede. Eine Studie von Rasmussen et al. (9) fasst

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

das gut zusammen. Die Autoren untersuchten in einer psychologischen Autopsiestudie mittels Angehörigenbefragungen und Analyse der Abschiedsbriefe diese Frage. Sie fanden, dass Männer häufiger als Frauen Probleme haben, über Gefühle zu sprechen, sodass als Folge das Tabuthema Suizidalität mit sich selbst ausgemacht wird: Niemand darf es wissen, und Gefühle dürfen nicht gezeigt werden. Im Sinne des Erhalts des
Merkpunkte:
● In Anbetracht, dass Suizidalität ein Tabuthema ist, muss es aktiv von Ärzten und Psychotherapeuten angesprochen werden. Nichtansprechen muss als Kunstfehler gewertet werden.
● Eine suizidale Krise ist ein vorübergehender Zustand, überlebt man diesen, sind die Chancen hoch, in ein gutes Leben zurückzufinden.
● Ein Methodenswitch zeigte sich in der Armeewaffenstudie bei lediglich 22 Prozent.
● Neben der Fähigkeit, sich selbst zu töten, sind nach Joiner zwei Faktoren zentral: der empfundene soziale Ausschluss und die Last für sich selbst und für andere. Daraus entsteht der Mental Pain, der unerträglich ist.
● Der Patient will oft gar nicht sterben. Er will nur den unerträglichen Mental-Pain-Zustand beenden. Hierfür scheint der Tod die einzige Möglichkeit.
● Seien Sie vorsichtig, wenn ein zuvor hoch suizidaler Patient plötzlich deutlich gebessert scheint und entspannt wirkt.
● Passanten verhindern Suizide, indem sie den Mut aufbringen, fremde Menschen anzusprechen, und sich vorsichtig aufdrängen.
● Männern fällt es häufiger schwer, über Probleme und Gefühle zu sprechen, sodass als Folge das Tabuthema Suizidalität mit sich selbst ausgemacht wird.

Selbstbildes wollen die Männer (im Mittel) auch beim

Suizid «Heroes» sein und wählen deshalb Methoden,

die zeigen, dass sie mutig waren. In diesem Sinne spielt

erlittener Schmerz im Suizid eine eher positive Rolle.

Diese Ergebnisse können auch die unterschiedliche Me-

thodenwahl der Geschlechter erklären: Frauen wählen

häufiger softe Methoden, während Männer auf gewalt-

tätige Weisen zurückgreifen. Sie machen ferner

verständlich, warum Männer durch Suizidpräventions-

kampagnen schlechter erreicht werden und seltener

psychiatrische Hilfe aufsuchen.

Insgesamt ist es verständlich, warum ein Suizid als psy-

chologischer Unfall bezeichnet wird. Es ist ein durch

äussere (oder innere) Bedingungen erzeugter Ausnah-

mezustand mit ausgeprägter Verzweiflung und führt

zur Gefährdung oder zur Beendigung des Lebens. Ob

Psychiater, Psychotherapeut, Hausarzt oder Mitbürger,

aktive Hilfe von aussen ist häufig nötig, um diesen Aus-

nahmezustand zu überwinden.

G

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Thomas Reisch

Ärztlicher Direktor/Chefarzt KDA

PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG

Hunzigenallee 1

3110 Münsingen

E-Mail: thomas.reisch@pzmag.ch

Literatur:
1. Neuner T, Hübner-Liebermann B, Hausner H et al.: Kleine Zahlen, grosse Ergebnisse: «Suizidhochburg» Weiden? Psychiat Prax 2011; 38: 253–255.
2. Neuner T, Mehlsteibl D, Hübner-Liebermann B et al.: Risikoprofile für den Kliniksuizid schizophrener und depressiver Patienten – eine psychologische Autopsiestudie. Psychiat Prax 2010; 37: 119–126.
3. Seiden RH: Where are they now? A follow-up study of suicide attempters from the Golden Gate Bridge. Suicide and Life? Threatening Behavior 1978; 8(4): 203–216.
4. Reisch T, Steffen T, Habenstein A, Tschacher W: Change in suicide rates in Switzerland before and after firearm restriction resulting from the 2003 «Army XXI» reform. Am J Psychiatry 2013; 170(9): 977–984.
5. Thoeni N, Reisch T, Hemmer A, Bartsch C: Suicide by firearm in Switzerland: who uses the army weapon? Results from the national survey between 2000 and 2010. Swiss Med Wkly 2018;148: w14646.
6. Joiner T: Why people die by suicide. Harvard University Press 2007.
7. Reisch T: Wo kann Suizidprävention ansetzen? Vorschlag eines 6-Phasen-Modells suizidaler Krisen. Psychiat Prax 2012; 39(06): 257–258.
8. Bundesamt für Gesundheit BAG. Reden-kann-retten. Abgerufen 11. März 2020, von https://www.reden-kann-retten.ch/
9. Rasmussen ML, Haavind H, Dieserud G: Young men, masculinities, and suicide. Arch Suicide Res 2018; 22(2): 327–343.

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&K U R Z B Ü N D I G
Aktuelle Studien – kurz gefasst

Coaching und Medikament zur Migräneprophylaxe

Migräne ist eine chronische Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit (1). Hilfreich sind dabei vom Arbeitgeber angebotene Coachingprogramme (2). Auch monoklonale Antikörper zur Migräneprophylaxe zeigen ein gutes Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil (3, 4).
Als Migräne wird ein Kopfschmerz bezeichnet, der sich durch einen anfallsartigen, pulsierenden und meist halbseitigen Schmerz äussert. Der Kopfschmerz kann begleitet sein von vegetativen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- oder Geräuschempfindlichkeit. Die volkswirtschaftlichen Kosten von Migräne werden auf rund 500 Millionen Franken geschätzt – als indirekte Folgen der vollständigen oder Teilarbeitsunfähigkeit (1). Die volkswirtschaftlichen Folgen sind damit erheblich.
Coachingprojekte sind wirksam Ein von einem Schweizer Unternehmen angebotenes Coaching-Programm für Mitarbeiter mit Migräne untersuchten dessen Auswirkungen auf die Produktivität. 320 Teilnehmer nahmen zwischen Juni 2018 und 2019 am Coachingprogramm teil; 120 Teilnehmer stimmten einer retrospektiven Analyse der Daten zu. Alle Teilnehmer erhielten sechs Lektionen eines individualisierten Telecoachings durch eine spezialisierte Pflegefachperson. Evaluiert wurden die Teilnehmer über verschiedene Fragebögen, zu denen auch das MIDAS gehörte (Migraine Disability Assessment). Interimsresultate zeigten, dass sich die am häufigsten von den Arbeitnehmern verwendeten Coachinglektionen auf progressive Muskelentspannung, Schlaf, allge-

meines Krankheitsverständnis, Stress und Ernährung konzentrierten, während die Aktionspläne des Arbeitgebers auf Hydratation, Schlaf, Ernährung, Tagesablauf und körperliche Aktivität ausgerichtet waren. Der Gesamtmittelwert (SD) des MIDAS-Scores verbesserte sich von 15,2 (14,3) zu Beginn der Studie auf 13,7 (16,9) (p = 0,342) nach 3 Monaten und auf 6,5 (8,1) (p = 0,001) nach 6 Monaten. Die Ergebnisse zeigen, dass das vom Arbeitgeber gesponserte Coaching migränebedingte Behinderungen deutlich verringern und das Selbstmanagement der Arbeitnehmer im Umgang mit der Krankheit fördern kann (2).
Bedeutung von Real-World-Daten Für die Wirksamkeit einer Medikation sind insbesondere auch Real-World-Daten wichtig. Explorative Interimsergebnisse der Real-WorldTELESCOPE-Studie mit 109 Patienten zeigen, dass 80 Prozent der Patienten, die den monoklonalen Antikörper Erenumab (Aimovig®) einnahmen, über eine Verringerung der Migräneintensität berichteten und und 92 Prozent hatten weniger Attacken. Die Migränetage verringerten sich unter Erenumab um durchschnittlich 8 Tage pro Monat (3).
Sicherheit von Erenumab Eine kürzlich in «Neurology» publizierte Studie zum monoklonalen Antikörper Erenumab untersuchte auch dessen kardiovaskuläre, zerebrovaskuläre und peripher vaskuläre Sicherheit. Dafür wurden unerwünschte vaskuläre Ereignisse und Blutdruckdaten von rund 2500 Patienten aus 4 doppelblinden, plazebokontrollierten Studen zu Erenumab und den Open-

Label-Extensions integriert. Die Patienten erhielten entweder Erenumab 70 mg (n = 893) oder Erenumab 140 mg (n = 507) oder Plazebo (n = 1043). Die Auswertungen zeigten, dass die unerwünschten Nebenwirkungen in der Plazebo- und der Verumgruppe vergleichbar waren (Bluthochdruck: Erenumab 70 mg: 0,8%; Erenumab 140 mg: 0,2%; Plazebo: 0,9%). Eine Sinusvenenthromobose wurde unter Erenumab 140 mg berichtet, wobei es keinen Hinweis auf einen kausalen Zusammenhang mit Erenumab gab. In der gepoolten 12-wöchigen plazebokontrollierten Analyse wurde in keiner Behandlungsgruppe ein anderes ischämisches vaskuläres Ereignis gemeldet. In den integrierten 4 Migränepräventionsstudien waren die Werte des Ruheblutdrucks in den Behandlungsgruppen vergleichbar. Die Studienautoren unterstrichen, dass die Stärken dieser Sicherheitsanalyse in der Grösse und der Charakteristik der Patientenpopulation lägen.
Annegret Czernotta
Referenzen:
1. https://www.headache.ch/migraene
2. Schaetz L et al.: Abstract: Impact of an Employer-Provided Migraine Coaching Program on Burden and Patient Engagement: Results from Interim Analysis. AAN 2020.
3. Straube A: Abstract: TELESCOPE – CapTure rEal worLd Evidence in Specialized Centers in Germany cOnducting Prophylactic migraine treatment with Erenumab. AAN 2020.
4. Berger A, Bloudek LM, Varon SF, Oster G: Adherence with migraine prophylaxis in clinical practice. Pain Pract 2012; 12(7): 541–9.

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E D I T O R I A L Monoklonale Antikörper bei Migräne:
Noch fehlt die Langzeiterfahrung

I m Bereich der Kopfschmerzerkrankungen sind weit mehr wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zur Diagnostik und Behandlung vorhanden als noch vor wenigen Jahren, sodass eine individuell angepasste Therapie in vielen Fällen möglich ist. In der Basistherapie respektive in der Prophylaxe der Migräne ist diese Veränderung besonders deutlich. Durch die monoklonalen Antikörper gegen den Calcitonin-Gene-RelatedPeptide-(CGRP-)Rezeptor (Erenumab) oder direkt gegen das CGRP (Fremanezumab, Galcanezumab) haben sich die therapeutischen Optionen in der Migräneprophylaxe deutlich erweitert. Die Zulassungsstudien zeigten eine gute Wirksamkeit und auch eine gute Verträglichkeit dieser spezifischen Substanzen bei Patienten mit episodischer und chronischer Migräne. Natürlich fehlt noch die Langzeiterfahrung – und die Migräne ist und bleibt eine komplexe neurobiologische Strörung, für deren Behandlung in vielen Fällen multimodale Ansätze sinnvoll sind.
In dieser Ausgabe mit dem Schwerpunkt «Kopfschmerz» haben wir diesen Entwicklungen Rechnung getragen. Drei Experten aus den Bereichen Gynäkologie/ Reproduktionsendokrinologie, HNO und Psychiatrie geben darüber Auskunft, wie im spezifischen Fachgebiet Kopfschmerz und Migräne von anderen Erkrankungen abgegrenzt werden können und welche Pitfalls möglich sind (Seite 34 ff.). Im Interview mit Andreas Gantenbein auf Seite 38 ff. wird über die Erfahrungen mit den monoklonalen Antikörpern gesprochen. Heiko Pohl weist in seinem Beitrag auf Seite 26 ff. darauf hin, dass sich die Diagnostik von Cluster-

kopfschmerzen in den letzten Jahren deutlich verbessert hat. Er weist aber auch darauf hin, dass das Bewusstsein für den «suicide headache» weiter geschärft werden muss und auf die Probleme der Betroffenen aufmerksam gemacht werden muss. Viele Betroffene von Kopfschmerz und Migräne schwören auf komplementärmedizinische Behandlungen. Bei der Vorbeugung des Spannungskopfschmerzes und der episodischen Migräne ist die Akupunktur inzwischen mit guter Evidenz belegt (Beitrag Saroj K. Pradhan, Seite 42 ff.). Die Behandlung mittels Hypnose wird von Sivan Schipper dargestellt (Seite 40 ff.)
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. l
Prof. Dr. med. Peter Sandor Ärztlicher Direktor Neurologie Mitglied der Unternehmensleitung
RehaClinic AG Quellenstrasse 34 5330 Bad Zurzach E-Mail: P.Sandor@rehaclinic.ch 
und
PD Dr. med. Andreas Gantenbein Präsident Schweizerische Kopfwehgesellschaft
Chefarzt Neurologie RehaClinic Bad Zurzach
Prof. Peter Sandor und PD Dr. Gantenbein waren an Studien zu Erenumab und Fremanezumab beteiligt.

Peter Sandor Andreas Gantenbein

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

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Clusterkopfschmerzen

FORTBILDUNG

«Suicide headache» ist eine häufig gewählte Bezeichnung für Clusterkopfschmerzen. Sie lässt das Leid der Betroffenen erahnen und macht gleichzeitig sehr deutlich, was auf dem Spiel steht. Mit rascher Diagnosestellung und Beratung sowie wirkungsvollen Behandlungsmethoden lässt sich die Wucht der Erkrankung aber meist abfedern. Das Ziel dieses Artikels ist deshalb, das Bewusstsein für diese Krankheit weiter zu schärfen und auf die Probleme der Betroffenen aufmerksam zu machen.

Heiko Pohl

von Heiko Pohl
Einleitung
N ach Kopfschmerzen vom Spannungstyp und der Migräne sind Clusterkopfschmerzen die dritthäufigsten primären Kopfschmerzen (1). Trotzdem dauerte es jedoch bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ehe diese als eigenständige Krankheit identifiziert wurden (2). Und auch heute vergehen oft noch mehrere Jahre, bis die Erkrankung diagnostiziert wird (3). Dabei ist der klinische Phänotyp der Clusterkopfschmerzen inzwischen gut untersucht (4–6). Bedenkt man das grosse Leid der Betroffenen (7–10), wird deutlich, dass ein frühes Erkennen der Erkrankung und eine rasche Behandlung von grösster Bedeutung sind. Immerhin ist in den letzten Jahren eine Tendenz zur schnelleren Diagnosestellung zu verzeichnen (3). Auch wird die Erkrankung inzwischen beim weiblichen Geschlecht immer häufiger erkannt (11). Im Vergleich zu Frauen sind Männer ungefähr doppelt so häufig betroffen (12). Vor 1960 lag das Verhältnis von Männern zu Frauen sogar noch bei 6,2:1 (11). Diese Erfolge sind ohne Zweifel auf den wachsenden Bekanntheitsgrad der Krankheit zurückzuführen.
Der Anfall Clusterkopfschmerzen sind ausnahmslos streng einseitig und meist im Bereich des Auges, der Stirn oder der Schläfe lokalisiert (13). Ihre Intensität nimmt während einiger Minuten rasch zu (14), bis schliesslich sehr starke Schmerzen empfunden werden (15). Dabei ähneln sich die Schilderungen des Schmerzcharakters häufig. Die Mehrheit der Patienten berichtet von stechendem, reissendem oder bohrendem Schmerzcharakter sowie Schmerzen, die wie durch Messerstiche, Speerverletzungen, Nadeln oder Hammerschläge (14) erfolgen. Es ist denkbar, dass die schmerzhaften Sinneseindrücke

vom Gehirn als von aussen zugefügt interpretiert werden (16). Nach maximal drei Stunden enden die Anfälle schliesslich (13). Während der Kopfschmerzen wird das parasympathische Nervensystem im Bereich des Gesichts aktiviert. Meist tritt ein einseitiges Augentränen oder Naselaufen auf; gelegentlich berichten die Patienten auch über ein Völlegefühl im Ohr und einseitiges Schwitzen an der Stirn (13). Die Aktivität des Parasympathikus an der Stirn wird durch Schmerzreize über den trigemino-autonomen Reflex beeinflusst (17). Dessen afferenter Schenkel verläuft im Nervus trigeminus, der efferente im Nervus facialis (18). Auf den ersten Blick liegt die Vermutung nahe, dass Lakrimation und Rhinorrhoe dem «Abspülen» eines unsichtbaren Agens dienen sollen. Allerdings scheint die Aktivierung des trigemino-autonomen Reflexes jedoch nicht – oder zumindest nicht immer – eine Konsequenz der Schmerzen zu sein (5). Knapp die Hälfte der Clusterkopfschmerzpatienten gibt an, dass zuerst das Auge träne oder zuerst die Nase laufe und dann erst Schmerzen aufträten (5). Auch kommen bei vielen Patienten sogenannte «abortive attacks» vor, bei denen es nur zu autonomen Symptomen ohne Schmerzerleben kommt (19, 20). Das führt zu der Frage, ob die Aktivierung des autonomen Nervensystems möglicherweise der des N. trigeminus vorausgeht (18). Tatsächlich führt die Stimulation der beiden Nerven bei keinen Patienten reproduzierbar zu Anfällen (18). Auch die chirurgische Durchtrennung des N. trigeminus hatte keinerlei Einfluss auf die Schmerzen, was vermuten lässt, dass der N. trigeminus für die Entstehung der Krankheit nicht oder nicht in jedem Fall notwendig ist (21). Das deutet auf einen zentralen Ursprung der Schmerzen hin; wobei unser Verständnis der Pathophysiologie der Erkrankungen noch grosse Lücken aufweist. Typischerweise können Betroffene mit Clusterkopfschmerzanfällen nicht still liegen (13). Sie laufen oft vornübergebeugt umher, sitzen oder knien und drücken

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

Genug ist genug. Weniger Migräne, mehr vom Leben.#,1–5

100 %
MIGRÄNEFREI*
Jeder 3. Patient erreicht vollständige Migränefreiheit*,6

100 %
HUMAN**
Sicherheitsprofil auf PlaceboNiveau,1–3 über 4 Jahre bestätigt6

100 %
INDIVIDUELL***
Flexibilität in der Dosierung, die ins Leben passt##,3,7

* In einer Interimsanalyse einer offenarmigen Extension bei Patienten mit episodischer Migräne waren 32,9 % nach 4,5 Jahren migränefrei (sekundärer Endpunkt). Die Patienten erhielten zunächst 70 mg Aimovig® monatlich und wurden nach einer mittleren Behandlungsdauer von 2 Jahren auf 140 mg Aimovig® gesteigert. Insgesamt verblieben 149 Patienten für 4,5 Jahre in der Studie (40 % im Vergleich zu Studienstart; 5,0 % Studienabbrüche aufgrund unerwünschter Ereignisse, 3,1 % Studienabbrüche aufgrund unzureichender Wirksamkeit). ** Aimovig® ist ein vollständig humaner monoklonaler Antikörper.3 *** Aimovig® ist in 2 Dosierungen erhältlich (70 mg und 140 mg Fertigpens). # Aimovig® reduzierte die Anzahl der monatlichen Migränetage und erhöhte die Lebensqualität im Vergleich zur Baseline jeweils signifikant gegenüber Placebo.1,2,4,5 ## Einmal monatliche Selbstapplikation, individuell auf den Patienten angepasste Dosierung (Initialdosis 70 mg, Steigerung auf 140 mg bei ungenügender Wirkung möglich)3
Referenzen: 1. Dodick DW et al. ARISE: A phase 3 randomized trial of erenumab for episodic migraine. Cephalalgia 2018; 38(6):1026–1037. 2. Goadsby PJ et al. A controlled trial of erenumab for episodic migraine. N Engl J Med 2017; 377(22):2123– 2132. 3. Aimovig® Fachinformation. Stand Mai 2019. www.swissmedicinfo.ch. 4. Lipton et al. Erenumab in chronic migraine: Patient-reported outcomes in a randomized double-blind study. Neurology 2019;92(19):e2250–e2260. 5. Tepper S et al. Safety and efficacy of erenumab for preventive treatment of chronic migraine: a randomised, double-blind, placebo-controlled phase 2 trial. Lancet Neurol 2017;16(6): 425–434. 6. Ashina M et al. Sustained Efficacy and Long-Term Safety of Erenumab in Patients With Episodic Migraine: 4+-Year Results of a 5-Year, Open-Label Treatment Period. Präsentation auf dem 61. Kongress der American Headache Society, 11.–14. Juli 2019, Philadelphia, USA. 7. Dammerman et al., User Acceptance of a Prefilled Auto-injector Device for Erenumab in Patients with Migraine. Poster P266LB präsentiert am 61. Jahresmeeting der American Headache Society, 11.–14. Juli 2019, Philadelphia, USA.
Aimovig® Z: Injektionslösung zur subkutanen Anwendung (Fertigspritze und Fertigpen). 1 Fertigspritze bzw. 1 Fertigpen zu 1mL enthält 70 mg oder 140 mg Erenumab. I: Prophylaktische Behandlung der Migräne bei Erwachsenen, sofern diese indiziert ist. D: Empfohlen wird eine Aimovig-Dosis von 70 mg als subkutane Injektion einmal monatlich. Bei Patienten, die auf diese Dosierung eine ungenügende Wirkung zeigen, kann die Dosierung auf 140 mg einmal monatlich gesteigert werden, solange dadurch eine bessere Wirkung nachweisbar ist. Detaillierte Anweisung und spezielle Patientengruppen s. www.swissmedicinfo.ch. KI: Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff Erenumab oder einem der Hilfsstoffe gemäss Zusammensetzung. VM: Die abnehmbare Kappe enthält trockenen Naturkautschuklatex, der allergische Reaktionen hervorrufen kann. Die Sicherheit und Wirksamkeit von Aimovig bei Kindern und Jugendlichen ist nicht untersucht worden. Während Schwangerschaft und Stillzeit sollte Aimovig nicht angewendet werden, es sei denn dies ist eindeutig erforderlich. Einzelheiten s. www.swissmedicinfo.ch. IA: Aimovig zeigte keinen Einfluss auf die Pharmakokinetik von Sumatriptan, sowie eines oralen Kombinationspräparats zur Empfängnisverhütung, das Ethinylestradiol und Norgestimat enthielt. Erenumab wird nicht von Cytochrom P450 Enzymen metabolisiert, daher sind Interaktionen mit Substraten, Induktoren oder Inhibitoren von Cytochrom P450-Enzymen unwahrscheinlich. Einzelheiten s. www.swissmedicinfo.ch. UW: Häufig: Obstipation, Juckreiz, Muskelkrämpfe, Reaktionen an der Injektionsstelle (Schmerzen, Erythem oder Juckreiz). Einzelheiten s. www.swissmedicinfo.ch. P: Injektionslösung in einer Fertigspritze: 1 Fertigspritze zu 70 mg oder 140 mg: Injektionslösung im Fertigpen: 1 Fertigpen zu 70 mg oder 140 mg: Verkaufskategorie: B. Weitere Informationen finden Sie unter www.swissmedicinfo.ch. V02 Mai 2019.
Novartis Pharma Schweiz AG, Risch; Adresse: Suurstoffi 14, 6343 Rotkreuz, Tel. 041 763 71 11

NO52113 08/2019

FORTBILDUNG

Kasten 1:
Diagnostische Kriterien der trigemino-autonomen Kopfschmerzen aus der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation; fett gedruckt sind die wichtigsten Unterschiede zwischen den einzelnen Kopfschmerztypen (13)

Kriterium A Kriterium B Kriterium C
Kriterium D Kriterium E

Clusterkopfschmerz

Paroxysmale Hemikranie Short-Lasting Unilateral

Neuralgiform Headache Attacks

Mindestens 5 Attacken, die Mindestens 20 Attacken, die Mindestens 20 Attacken, die

die Kriterien B bis D erfüllen die Kriterien B bis E erfüllen die Kriterien B bis D erfüllen

Starke oder sehr starke

Starke einseitig orbital,

Mässige oder starke ein-

einseitig orbital,

supraorbital und/oder

seitig orbital, supraorbital und/

supraorbital und/oder

temporal lokalisierte

oder temporal lokalisierte

temporal lokalisierte

Schmerzattacken, die 2

Schmerzattacken, die 1 bis

Schmerzattacken, die

bis 30 Minuten anhalten

600 Sekunden anhalten und als

unbehandelt 15 bis 180

Einzelstiche, Serien von Stichen

Minuten anhalten

oder sägezahnmusterartig

auftreten

Einer oder beide der

Einer oder beide der folgen- Mindestens eines der folgenden

folgenden Punkte sind

den Punkte sind erfüllt:

kranioautonomen Symptome

erfüllt:

1. Mindestens eines der

oder Zeichen ipsilateral

1. Mindestens eines der

folgenden Symptome

zum Kopfschmerz ist erfüllt:

folgenden Symptome

oder Zeichen, jeweils

– konjunktivale Injektion

oder Zeichen, jeweils

ipsilateral zum Kopf-

und/oder Lakrimation

ipsilateral zum Kopf-

schmerz:

– nasale Kongestion und/

schmerz:

– konjunktivale Injektion oder Rhinorrhoe

– konjunktivale Injektion

und/oder Lakrimation – Lidödem

und/oder Lakrimation

– nasale Kongestion und/ – Schwitzen im Bereich der

– nasale Kongestion und/

oder Rhinorrhoe

Stirn oder des Gesichtes

oder Rhinorrhoe

– Lidödem

– Miosis und/oder Ptosis

– Lidödem

– Schwitzen im Bereich

– Schwitzen im Bereich der

der Stirn oder

Stirn oder des Gesichtes

des Gesichtes

– Miosis und/oder Ptosis

– Miosis und/oder Ptosis

2. Körperliche Unruhe oder 2. Körperliche Unruhe

Agitiertheit

oder Agitiertheit

Die Attackenfrequenz liegt Die Attackenfrequenz

Attackenfrequenz liegt

zwischen 1 Attacke jeden liegt bei > 5 Attacken pro bei > 1 Attacke pro Tag

zweiten Tag und 8 pro Tag Tag und kann durch

therapeutische Dosen

von Indometacin komplett

vorgebeugt werden

Wird durch eine andere Kopfschmerzdiagnose nicht besser erklärt

Hemicrania continua
Einseitiger Kopfschmerz, der die Kriterien B bis D erfüllt Einseitiger Kopfschmerz, der die Kriterien B bis D erfüllt
Einer oder beide der folgenden Punkte sind erfüllt: 1. Mindestens eines der
folgenden Symptome oder Zeichen, jeweils ipsilateral zum Kopfschmerz: – konjunktivale Injektion
und/oder Lakrimation – nasale Kongestion und/
oder Rhinorrhoe – Lidödem – Schwitzen im Bereich der
Stirn oder des Gesichtes – Miosis und/oder Ptosis 2. Körperliche Unruhe oder Agitiertheit oder Schmerzzunahme durch Bewegung Spricht zuverlässig auf therapeutische Dosen von Indometacin an

oder schlagen auf die schmerzende Stelle. Zuweilen wird der Kopf auch gegen Wand, Boden oder Möbel gepresst; immer wieder wird der Oberkörper fast rhythmisch wippend vor- und zurückbewegt (rocking) (4). Während es mitunter zu Selbstverletzungen kommt, sind gegen andere gerichtete Aggressivität und Feindseligkeiten – falls sie überhaupt vorkommen – Ausnahmen (4, 22). Gemäss einer von Montagna et al. formulierten Überlegung könnte die motorische Unruhe dennoch eine Form der Aggressivität sein, die als Reaktion auf die als von aussen zugefügt erlebten Schmerzen auftritt (16). Demnach erhält das Gehirn Sinneseindrücke, die auf einen Angriff hindeuten, und leitet eine «Fight-Reaktion» ein, die dem Kampf um das eigene Leben dienen soll.

Als anatomischer Sitz dieser «Fight-Reaktion» wird der posteriore Anteil des Hypothalamus diskutiert (16), der während Clusterkopfschmerzattacken eine deutlich erhöhte Stoffwechselaktivität aufweist (23). Weitere Argumente für diese These sind, I dass die chirurgische Läsion dieses Areals gemäss ei-
nigen Fallberichten erfolgreich zur Behandlung unkontrollierbarer Aggressionen eingesetzt wurde (24) II und dass die akzidentelle Stimulation dieses Areals mit tiefer Hirnstimulation ebenfalls Aggressivität hervorrufen konnte (25). Noch weitgehend unverstanden ist hingegen die Bedeutung des Sympathikus, dessen Aktivität im Anfall verringert ist. Als typisch gilt ein ipsilaterales HornerSyndrom während der Attacken (13), das bei einigen Patienten auch zwischen den Attacken persistiert und in

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

FORTBILDUNG

manchen Fällen schon vor Erstmanifestation der Erkrankung bestand (26). Eine besonders unangenehme Eigenschaft der Erkrankung ist, dass die Anfälle überwiegend spätabends und nachts auftreten (27). Die statistisch grösste Häufigkeit der Attacken wird um 1 Uhr morgens erreicht, die niedrigste gegen 12 Uhr mittags. Da sowohl epikritische als auch protopathische Schmerzempfindungen eine zirkadiane Rhythmik aufweisen (28, 29), kann hier ein Zusammenhang vermutet werden, der bislang aber nicht abschliessend untersucht wurde. Auch im Jahresverlauf treten die Anfälle nicht zufällig auf. Die Attacken kommen typischerweise in sogenannten «bouts» vor, also durchschnittlich acht Wochen dauernde Perioden mit vielen Anfällen. Zwischen den «bouts», die bei vielen Patienten vor allem im Frühjahr oder Herbst auftreten, besteht Anfallsfreiheit (30). Bei Patienten, deren Anfälle nicht nach einigen Wochen wieder sistieren, sondern ohne Pausen immer wieder auftreten, spricht man – sprachlich etwas unglücklich – von chronischen Clusterkopfschmerzen (13). Oft können die Symptome bei einer sorgfältig erhobenen Kopfschmerzanamnese problemlos der korrekten Diagnose zugeordnet werden (Kasten 1). Dennoch sind einige Differenzialdiagnosen zu erwägen.
Differenzialdiagnosen Es dauert häufig viele Jahre, ehe die Diagnose Clusterkopfschmerzen gestellt wird (3), was nahelegt, dass diese differenzialdiagnostisch nicht häufig genug erwogen werden. Herausfordernd ist zudem, dass rund 25 Prozent der Betroffenen neben Clusterkopfschmerzen auch andere Kopfschmerztypen haben (31) und dass eine Aktivierung des trigemino-autonomen Reflexes auch bei Migräneanfällen auftreten kann (32). Hier kann bei der Unterscheidung helfen, dass ein Migräneanfall deutlich länger andauert und meist mit einem Rückzugsbedürfnis einhergeht (13). Wegen der therapeutischen Konsequenzen ist auch die Abgrenzung von anderen trigemino-autonomen Kopfschmerzen wichtig. Dabei geben insbesondere Anfallsdauer und -häufigkeit sowie das Ansprechen auf Indometacin entscheidende Hinweise (Kasten 1) (13). Da sowohl eine Hemicrania continua als auch die paroxysmale Hemikranie dadurch gekennzeichnet sind, dass Indometacin zu Schmerzfreiheit führt (13), sollte bei Zweifeln an der Diagnose unbedingt ein Therapieversuch unternommen werden. Schliesslich ist auch zu bedenken, dass es symptomatische «Clusterheadache-like»-Kopfschmerzen gibt, die phänotypisch von primären Clusterkopfschmerzen nicht zu unterscheiden sind. Diese wurden u. a. im Zusammenhang mit einer arterio-venösen Fistel (33), einem Fremdkörper im Sinus maxillaris (34), einem Prolaktinom (35), einer Carotis-Dissektion (36), einer Meningiosis carcinomatosa (36) und einer Rhinosinusitis (37) berichtet. Eine MRI-Bildgebung von Gehirn und Gesichtsschädel sollte somit neben einer körperlichen Untersuchung zur Diagnosesicherung stets veranlasst werden. Ein Bericht über «Clusterheadache-like»-Kopfschmerzen nach Behandlung mit den zur HIV-Behandlung eingesetzten Medikamenten Tenofovir und Emtricitabin

unterstreicht, dass auch eine sorgfältige Medikamentenanamnese hilfreich sein kann (38).
Komorbiditäten und Konsequenzen der Erkrankung Schmerzen werden intuitiv meist mit drohender oder eingetretener Gewebeschädigung in Verbindung gebracht (39). Clusterkopfschmerzen jedoch hinterlassen keine sichtbaren Narben. Nichts, womit man Aussenstehenden das Erlebte verständlich machen könnte. Zudem verhindert das überwiegende Auftreten in der Nacht (27), dass andere das Leid der Patienten erahnen können. Viele Betroffene verschweigen zudem den Menschen in ihrem Umfeld ihre Schmerzerkrankung und erwarten auch nicht, dass diese das Durchgemachte nachvollziehen können (7). Dieses Vorgehen, das als «self-concealment» bezeichnet wird, ist nicht auf Clusterkopfschmerzen beschränkt (40). Das bewusste Nichtaussprechen schlimmer oder traumatischer Erlebnisse erhöht jedoch die Belastung, da die eigenen Worte stets mit Bedacht gewählt werden müssen (40). Bei Clusterkopfschmerzpatienten ist dieses Verhalten oft mit Zeichen einer Depression assoziiert (41). Neben Müdigkeit bleibt nach einem nächtlichen Anfall oft auch die Angst vor weiteren Anfällen. Viele Betroffene versuchen, Auslöser zu identifizieren und das Leben auf Anfallsvermeidung auszurichten (7). Alkohol ist ein solch bekannter Anfallstrigger (42), den viele Betroffene deshalb sinnvollerweise meiden. In der Regel ist der Versuch, auf diese Weise alle Attacken zu verhindern, aber nicht Erfolg versprechend, denn meist gibt es keine erkennbaren Auslöser. Die Angst vor Anfällen, die als «fear of pain» bezeichnet wird und auch von anderen Erkrankungen bekannt ist, geht häufig mit Zeichen einer Depression einher (43). Zusätzlich zur Angst vor Anfällen belastet auch die Vorstellung, von diesen geweckt zu werden. Clusterkopfschmerzpatienten kommen abends oft nicht zur Ruhe, ehe die Uhr eine verringerte Anfallsgefahr anzeigt (44, 45). Dieses Phänomen, das auch als Hypnophobie bezeichnet wird, kommt unserer Erfahrung nach sehr häufig vor; epidemiologische Daten zur Prävalenz liegen jedoch nicht vor. Bekannt ist, dass Clusterkopfschmerzpatienten häufig unter Depressionen oder Angst leiden (46, 47). Allerdings trifft die Annahme, dass es sich dabei immer um Konsequenzen der Erkrankung handelt, wahrscheinlich nicht zu. In einer Studie zeigte sich, dass Patienten mit episodischen Clusterkopfschmerzen meist in anfallsfreier Zeit an einer Depression erkrankten (48). Eine andere Untersuchung ergab, dass viele Patienten bereits Monate vor der Erstmanifestation ihrer Erkrankung unter Ängsten litten (47). In jedem Fall überrascht es nicht, dass der «burden of disease» der Clusterkopfschmerzen deutlich höher ist, wenn gleichzeitig eine Depression besteht (41). Deutlichstes Zeichen des mit der Erkrankung assoziierten Leids ist die grosse Häufigkeit der Suizidgedanken und -versuche; passive Suizidgedanken werden von knapp zwei Drittel der Patienten berichtet, Suizidversuche von 2,3 Prozent (10). Denkbar ist, dass die Unmöglichkeit, sich den Schmerzen auf andere Art zu entziehen, besonders belastend ist. Eine entsprechende Exploration sollte Teil jeder Konsultation sein.

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

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FORTBILDUNG

Kasten 2:
Langzeitprophylaxe der Clusterkopfschmerzen; die Warnhinweise erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit (58, 63)

Medikament Verapamil
Lithium Topiramat Melatonin Valproat Galcanezumab

Dosierung 240–720 mg
(nach Serumspiegel) 100–200 mg bis zu 10 mg 1000–2000 mg 300 mg

Warnhinweise Kontraindiziert bei AV-Block 2. oder 3. Grades, regelmässige EKG-Kontrollen sind notwendig Regelmässige Überwachung der Serumkonzentration notwendig Erhöhtes Risiko für Suizidgedanken oder -verhalten
Kontraindiziert bei Frauen im gebärfähigen Alter

Therapieprinzipien Grundsätzlich sind Akutbehandlung und Anfallsprophylaxe zu unterscheiden. Beide Ansätze sind wichtig, und beide sollten bereits bei Erstmanifestation der Erkrankung diskutiert werden. Jeder einzelne Anfall darf und sollte behandelt werden. Bewährt haben sich sowohl Sauerstoff als auch Triptane. Sauerstoff muss mit hoher Flussrate (ca. 10 bis 12 l/min) über eine Maske inhaliert werden, damit eine ausreichende Wirkung erzielt wird (49, 50). Triptane wirken bei subkutaner oder nasaler Anwendung in der Regel sehr schnell (51). Nicht jeder Therapieansatz hilft jedoch bei jedem Patienten; im Zweifelsfall sollten beide ausprobiert werden. Bei Patienten, die sich sicher sind, dass ihnen Sauerstoff in der Vergangenheit nicht geholfen hat, lohnt es sich nachzufragen, wie dieser appliziert wurde. Nur bei hoher Flussrate und Anwendung mit Maske bestehen Erfolgsaussichten; die Inhalation hat keine prophylaktische Wirkung. Als zweite Wahl kommt auch der Einsatz von LidocainNasenspray infrage. Von diesem Medikament profitiert jedoch nur ein geringerer Prozentsatz der Patienten (52). Auch wenn die Akutmedikation häufig gut wirkt und ein Medikamentenübergebrauchskopfschmerz glücklicherweise nur selten auftritt (53), ist es unser Ziel, das Auftreten der Attacken so weit wie möglich zu verhindern. Bei der Prophylaxe haben sich unterschiedliche Substanzen bewährt; einen Überblick gibt Kasten 2. Grundsätzlich sollten bei der Auswahl der Substanzen Komorbiditäten und Kontraindikationen im Blick behalten werden.
Merkpunkte:
● Clusterkopfschmerzen sind gekennzeichnet durch sehr starke Schmerzen, autonome Symptome, Ruhelosigkeit und nächtliches Auftreten.
● Die psychische Belastung durch die Erkrankung ist enorm. ● Da Suzidgedanken häufig sind, sollten diese regelmässig erfragt werden. ● Zur Akutbehandlung können Sauerstoff und Triptane (subkutane oder nasale
Applikation) eingesetzt werden. ● Kurzfristig können Kortisonpräparate und eine Infiltration des Nervus occipitalis
major die Anfallshäufigkeit verringern. ● Zur Langzeitprophylaxe wird in der Regel Verapamil eingesetzt; regelmässige
EKG-Kontrollen sind notwendig.

Rasch wirksam ist Prednison (54), das sich jedoch nicht zur Langzeittherapie eignet. Es wird deshalb häufig eingesetzt, um die Zeit bis zum Wirkeintritt anderer prophylaktisch wirksamer Medikamente zu überbrücken oder um eine vorübergehende Zunahme der Anfallshäufigkeit erträglicher zu machen. Mit oft vergleichbarem Effekt kann auch eine Infiltration des ipsilateralen Nervus occipitalis major mit Lidocain und einem Kortisonpräparat erfolgen (55). Als erste Wahl für die Dauertherapie wird in der Regel Verapamil eingesetzt, dessen Tagesdosis oft schrittweise auf bis zu 720 mg (in Einzelfällen bis 960 mg/Tag) gesteigert werden muss (56–58). Dabei ist unbedingt auf regelmässige EKG-Kontrollen zu achten; Herzrhythmusstörungen können auch noch nach Monaten auftreten (59, 60). Erst vor Kurzem zeigte sich, dass Galcanezumab in einer Dosis von 300 mg die Attackenhäufigkeit bei Patienten mit episodischem – nicht aber chronischem – Clusterkopfschmerz verringern kann (61, 62). In der Schweiz ist dieses Medikament für diese Indikation erhältlich und noch nicht zugelassen. Wie bei jeder Schmerztherapie gilt grundsätzlich, dass unterschiedliche Medikamente ausprobiert werden müssen, ehe ein gut wirksames und verträgliches Therapieregime gefunden wird, jedoch eine zu frühe Beurteilung der Wirksamkeit der Medikamente deren Potenzial unterschätzen könnte.
Zusammenfassung Clusterkopfschmerzen gehören zu den primären Kopfschmerzen, die durch extreme Schmerzen und eine erhebliche Belastung der Betroffenen gekennzeichnet sind. Pathophysiologisch steht eine Aktivierung des trigemino-autonomen Reflexes im Zentrum der Erkrankung. Bei Diagnosestellung sollten rasch eine Prophylaxe sowie eine wirksame Akuttherapie verordnet werden. Das erhöhte Risiko für Depressionen, Angst und Suizidgedanken ist bei der Behandlung zu beachten. G
Korrespondenzadresse: Dr. med. Heiko Pohl Klinik für Neurologie
Universitätsspital Zürich Frauenklinikstrasse 26 8091 Zürich
E-Mail: heiko.pohl@usz.ch
Literaturverzeichnis online unter: www.psychiatrie-neurologie.ch

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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

Jahr§ EMGALITY®
in der Migräne-Prophylaxe1*
Viele Migränepatienten haben wieder mehr vom Leben.2
Seit einem Jahr§ haben Sie die Chance Ihren Patienten die Aussicht auf migränefreie Monate zu ermöglichen.3#

2  Zwei Injektionen für einen schnellen Start1

1  Eine wirkstarke Injektion 1 × monatlich1

0  Null Migränetage in Sicht3#
Migräne-Prophylaxe* mit dem CGRP-Antikörper Emgality®: Migränefreie Monate sind bei einem gleichzeitig guten Sicherheitsprofil möglich.1,3,#

§ Emgality ist in der Schweiz seit Mai 2019 erhältlich. * Zur prophylaktischen Behandlung der Migräne bei Erwachsenen, sofern diese indiziert ist.1 # Fast 40 % der Patienten waren mindestens einen Monat migränefrei.3

Referenzen: 1. Emgality® Fachinformation (www.swissmedicinfo.ch). 2. McAllister et al. Patient Functioning and Disability Among Patients with Migraine: Evaluation of Gacanezumab in a long-term, Open-label Study. Poster presented at 61st Annual Scientific Meeting of the American Headache Society (AHS); Philadelphia, PA; July 11-14, 2019. 3. Rosen N et al. 100 % Response Rate to Galcanezumab in Patients With Episodic Migraine: A Post Hoc Analysis of the Results from Phase 3,Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled EVOLVE-1 and EVOLVE-2 Studies. Headache. 2018 Oct;58(9):1347-1357.

Emgality® (Galcanezumab) Injektionslösung I: Prophylaktische Behandlung der Migräne bei Erwachsenen, sofern diese indiziert ist. D: Die empfohlene Dosis beträgt 120 mg

als subkutane Injektion einmal monatlich. Zu Beginn der Behandlung ist eine einmalige Anfangsdosis von 240 mg (2 Injektionen) zu verabreichen. KI: Überempfindlichkeit.

W/V: Schwer­wiegende Überempfindlichkeitsreaktionen, einschliesslich Fälle von Anaphylaxie, Angioödem und Urtikaria wurden berichtet; falls dies auftritt, sollte die

Anwendung von Emgality sofort unterbrochen und eine geeignete Therapie begonnen werden. Die Sicherheit und Wirksamkeit von Emgality bei Kindern und Jugendlichen

ist nicht untersucht worden. Emgality kann einen Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit und die Fähigkeit, Werkzeuge oder Maschinen zu bedienen, haben. IA: Es wurden keine

Interaktions­studien durchgeführt. Auf Grundlage der Eigenschaften von Galcanezumab werden keine pharmakokinetischen Interaktionen erwartet. Sch/S: Während einer

Schwangerschaft sollte Emgality nicht angewendet werden, es sei denn es ist klar notwendig. Eine Entscheidung sollte darüber getroffen werden, ob abgestillt oder auf die

Behandlung mit Emgality verzichtet werden soll. UAW: Sehr häufig: Reaktionen an der Injektionsstelle, Schmerzen an der Injektionsstelle. Häufig: Schwindel, Obstipation,

Juckreiz, Hautausschlag. P: 1 und 2 Fertig­pens zu 120 mg. Abgabekategorie B. Weitere Informationen finden Sie unter www.swissmedicinfo.ch. Eli Lilly (Suisse) SA, ch. des

Coquelicots 16, CP 580, 1214 Vernier (GE). V10-2019

PP-GZ-CH-0190/04.2020

SONDERREPORT

Fotos: vh

Migräneprophylaxe mit CGRP-Antikörpern
Deutliche Reduktion der Kopfschmerztage

CGRP-Antikörper können bei Patienten mit episodischer wie auch mit chronischer Migräne eine markante Reduktion der Migränetage bewirken. Dies auch bei jenen Patienten, die zuvor schon viele Migräneprophylaxen erfolglos durchgeführt haben. Was vom CGRP-Antikörper Galcanezumab zu erwarten ist, erläuterten zwei Neurologen aus der Schweiz und Österreich am Satellitensymposium von Lilly anlässlich der 3-Ländertagung Kopfschmerz in Wien.

PD Dr. Andreas Gantenbein Prof. Gregor Brössner

In Europa liegt die 12-Monats-Prävalenz der Migräne etwa bei 50 Prozent (1). In Westeuropa ist die Migräne gar Spitzenreiter der neurologischen Erkrankungen mit dauerhaftem Gesundheitsverlust in Jahren (2). Basierend auf der ersten prospektiven Langzeitstudie mit 591 Personen aus einer Kohorte von 4547 Schweizern, wurde die 1-Jahres-Prävalenz für Migräne ohne Aura auf 10,9 Prozent geschätzt, für Migräne mit Aura auf 0,9 Prozent und die 30-Jahres-Prävalenz auf 36 beziehungsweise 3,0 Prozent (3). Gemäss Definition der ICHD-3 (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition) besteht eine chronische Migräne, wenn bei Migränepatienten Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat für länger als drei Monate auftreten und davon mindestens 8 Migränekopfschmerztage pro Monat darstellen. Wenn 4 bis 14 Tage Migränekopfschmerzen pro Monat vorliegen, spricht man von einer episodischen Migräne (4).
CGRP-Antikörper bei episodischer und chronischer Migräne In der Behandlung der Migräne hat sich seit der Entwicklung der CGRP-Antikörper (CGRP = Calcitonin gene related peptide) wie Galcanezumab (Emgality®) eine valable Möglichkeit für die Prophylaxe eröffnet, wie Prof. Gregor Brössner, Medizinische Universität Innsbruck (A), berichtete. In den doppelblind randomisierten und plazebokontrollierten Zulassungsstudien bei der episodischen (EVOLVE-1 und -2) (5, 6) und der chronischen Migräne (REGAIN) (7) hat der monoklonale Antikörper seine Wir-

Studienprogramm mit Galcanezumab (Emgality®) 120 mg s.c. 1 × pro Monat (240 mg Anfangsdosis bzw. 2 Injektionen) EVOLVE-1- und -2: Migräneprophylaxe bei episodischer Migräne (EVOLVE-1: Plazebo n = 433, Galcanezumab 120 mg n = 213; EVOLVE-2: Plazebo n = 461, Galcanezumab 120 mg n = 231); Dauer: je 6 Monate; Resultat: signifikante Reduktion der Migränetage unter Galcanezumab vs. Plazebo (EVOLVE-1: –4,7 vs. –2,8; EVOLVE-2: –4,3 vs. –2,3; p < 0,001 vs. Plazebo) (5, 6). REGAIN: Migräneprophylaxe bei chronischer Migräne (Plazebo n = 558, Galcanezumab 120 mg n = 278); Dauer: 3 Monate doppelblind und 9 Monate offen verlängert; Resultat: signifikante Reduktion der Migränetage unter Galcanezumab vs. Plazebo (–4,8 vs. –2,7 Tage; p < 0,001 vs. Plazebo) (7). CONQUER: Migräneprophylaxe bei therapieresistenter episodischer wie chronischer Migräne (Plazebo n = 230, Galcanezumab 120 mg n = 232); Dauer: 3 Monate; Resultat: signifikante Reduktion der Migränetage unter Galcanezumab vs. Plazebo (episodisch: –2,9 vs. –0,3; chronisch: –5,9 vs. –2,2; p < 0,0001 vs. Plazebo) (12). kung unter Beweis gestellt. Galcanezumab wurde dabei in einer Dosis von 120 mg s.c. 1 x pro Monat (240 mg Anfangsdosis bzw. 2 Injektionen) verabreicht. In den EVOLVE-Studien mit Patienten mit episodischer Migräne zeigte sich nach 6 Monaten eine Reduktion der Migränetage im Mittel 4,7 Tage (EVOLVE-1, Plazebo –2,8; p < 0,001 vs. Plazebo) und –4,3 Tage (EVOLVE-2, Plazebo –2,3; p < 0,001 vs. Plazebo) pro Monat (5, 6). Unter dem Verum hatten die Patienten bereits ab der 1. Woche signifikant weniger Migräne (8). Der Anteil Patienten mit über 75und 100-prozentigem Ansprechen war in den EVOLVE-1und -2-Studien signifikant grösser als unter Plazebo: ▲ 75 Prozent Ansprechen: EVOLVE-1 (38,8 vs. 19,3%; p < 0,001 vs. Plazebo) (5), EVOLVE-2 (33,5 vs. 17,8%; p < 0,001 vs. Plazebo) (6) ▲ 100 Prozent Ansprechen: EVOLVE-1 (15,6 vs. 6,2%; p < 0,001 vs. Plazebo) (5), EVOLVE-2 (11,5 vs. 5,7%; p < 0,001 vs. Plazebo) (6). Darüber hinaus konnten 39 Prozent der Patienten mindestens 1 Monat migränefrei sein, 21,8 Prozent während mindestens 2 Monaten und 10,6 für mindestens 3 Monate (9). Ein über 50-prozentiges Ansprechen über mehr als 3 Monate erreichten 41,5 Prozent (vs. 21,4% Plazebo; p < 0,001) (10). In der REGAIN-Studie mit Patienten mit chronischer Migräne traten bei den Teilnehmern unter Galcanezumab im Mittel fast 5 Migränetage weniger pro Monat auf (7). In der Galcanezumabgruppe erreichten mit 16,8 Prozent signifikant mehr Patienten ein ≥ 50-prozentiges Ansprechen während über 3 aufeinanderfolgenden Monaten als unter Plazebo (6,3%) (p < 0,001 vs. Plazebo) (10). Wirksamkeit bei Patienten mit erfolglosen Vortherapien Auch Patienten mit episodischer Migräne und mangelndem Ansprechen auf vorherige Migräneprophylaxen können von einer Einstellung auf Galcanezumab profitieren, wie die CONQUER-Studie zeigte. Die 3 Monate dauernde Studie untersuchte die Wirksamkeit bei 462 Patienten mit episodischer und chronischer Migräne, die trotz zahlreicher präventiver Therapien keine ausreichende Symptomverbesserung erfahren haben. Die 18- bis 75-jährigen Patienten litten durchschnittlich unter 9,3 beziehungsweise 18,7 Migränetage pro Monat (Patienten mit episodischer bzw. Patienten mit chronischer Migräne) und dokumen- 32 wPPSSYYCCHHIAIATTRRIEIE++NNEEUURROOLLOOGGIEIE 3/2020 SONDERREPORT Änderung der mittleren monatlichen Migränetage vs. Ausgangswert (SE) PP-GZ-CH-0174/04.2020 Mittlerer Ausgangswert: 9,34 Migränetage/Monat CONQUER – Episodische Migräne 0 +0,10 -0,40 -1 -0,63 -2 -3 -4 0 -2,97 * -2,76 * 12 Monate -2,90 * 3 Mittlerer Ausgangswert: 18,65 Migränetage/Monat CONQUER – Chronische Migräne 0 -1 -2 -3 -1,96 -2,21 -2,47 -4 -5 -6 -7 -8 0 -5,52 * -5,65 * 12 Monate -6,57 * 3 Emgality® 120 mg (n = 137) Plazebo (n = 132) SE: Standardfehler; *p < 0,0001 vs. Plazebo Emgality® 120 mg (n = 93) Plazebo (n = 96) SE: Standardfehler; *p < 0,0001 vs. Plazebo Galcanezumab (Emgality®) reduziert signifikant die mittleren monatlichen Migränetage bei therapieresistenten Patienten (Monate 1 bis 3) (12). tierten ein Therapieversagen mit 2 bis 4 Standardmigräneprophylaxen in den vergangenen 10 Jahren. Die Patienten wurden 1:1 doppelblind in eine Therapiegruppe mit Galcanezumab 120 mg/Monat (Anfangsdosis 240 mg) (n = 232) und in eine Plazebogruppe (n = 230) randomisiert. Als primärer Endpunkt war die durchschnittliche Veränderung der Anzahl Migränetage gegenüber dem Ausgangswert in den 3 Monaten definiert. Als sekundäre Endpunkte galten die Raten an ≥ 50-, ≥ 75- oder 100-prozentigen Reduktionen von Migränetagen pro Monat sowie die Veränderung der Lebensqualität. Es zeigte sich, dass der CGRP-Antikörper Galcanezumab die mittleren monatlichen Migränetage bei Patienten sowohl mit episodischer als auch mit chronischer Migräne signifikant reduzierte: Die monatlichen Migränetage unter Galcanezumab verringerten sich um durchschnittlich 2,9 Migränetage bei Patienten mit episodischer Migräne vs. 0,3 unter Plazebo und um 5,9 Migränetage bei Patienten mit chronischer Migräne vs. 2,2 unter Plazebo (Unterschied zwischen den Gruppen: –3,1; p < 0,0001; 95%-Konfidenzintervall: –3,9 bis –2,3; Effektgrösse: = 0,72) (Abbildung). Darüberhinaus wurden alle sekundären Endpunkte erreicht (11). Gute Verträglichkeit In einer weiteren offenen Verträglichkeitsstudie, bei der 270 Patienten ein Jahr lang Galcanezumab erhielten, traten bei schneller und anhaltender Reduktion der Migränetage als häufigste Nebenwirkungen (≥ 10%) lokale Reakti- onen (11,6%) und Schmerzen (17,1%) im Zusammenhang mit der Injektion, Nasopharyngitis (17,8%) und Sinusitis (14,1%) auf (12). Behandlungsziel Reduktion Ziel bei Patienten mit chronischer Migräne ist es gemäss PD Dr. Andreas Gantenbein, Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft, Chefarzt Neurologie, Rehaclinic Bad Zurzach, eine Reduktion zu erreichen oder sie mindestens auf das Niveau einer episodischen Migräne zurückzubringen. Wie eine Untersuchung zeigte, erreichte etwa ein Viertel der Patienten mit chronischer Migräne, welche über 2 Jahre beobachtet wurden, eine Remission in eine episodische Form (13). Prädiktoren für das Erreichen waren eine niedrigere Kopfschmerzfrequenz oder das Fehlen einer Allodynie (13). In der REGAIN-Studie erreichten 56 Prozent der Patienten mit anfänglich chronischer Migräne unter Galcanezumab eine episodische Form der Migräne im 3. Monat (vs. 42% Plazebo, p < 0,001) und 34 Prozent der Patienten eine anhaltende Reduktion der Migränetage (< 14 Tag/Monat) in allen 3 Monaten (vs. 20% Plazebo, p < 0,001) (14). Text: Valérie Herzog; Redaktion: Dr. med. Christine Mücke Quelle: Satellitensymposium «Migräne-Prophylaxe mit Galcanezumab – Umsetzung im klinischen Alltag» (Lilly), anlässlich der 3-Ländertagung Kopfschmerz, 26. Feburar 2020 in Wien. Dieser Bericht konnte mit freundlicher Unterstützung von Eli Lilly (Suisse) S.A. realisiert werden. Die gekürzte Fachinformation finden Sie auf Seite 31. Referenzen: 1. Stovner LJ et al.: The global burden of headache: a documenta- tion of headache prevalence and disability worldwide. Cephalagia 2007; 27: 193–210. 2. Feigin VL et al.: Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990–2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet Neurol 2017; 16: 877–897. 3. Merikangas KR et al.: Magnitude, impact, and stability of primary headache subtypes: 30 year prospective Swiss cohort study. BMJ 2011; 343: d5076. 4. Headache Classification Committee of the international Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 2018; 38: 1–211. https://ichd-3. org/de/1-migrane/1-3-chronische-migraene/. Letzter Zugriff: 3.3.20. 5. Stauffer VL et al.: Evaluation of galcanezumab for the prevention of episodic migraine: The EVOLVE-1 randomized clinical trial. JAMA Neurol 2018; 75: 1080–1088. 6. Skljarevski V et al.: Efficacy and safety of galcanezumab for the prevention of episodic migraine: Results of the EVOLVE-2 Phase 3 randomized controlled clinical trial. Cephalalgia 2018; 38: 1442–1454. 7. Detke HC et al.: Galcanezumab in chronic migraine: The randomized, double-blind, placebo-controlled REGAIN study. Neurology 2018; 91: e2211–e2221. 8. Detke HC et al.: Rapid Onset of Effect of Galcanezumab for the Prevention of Episodic Migraine: Analysis of the EVOLVE Studies. Headache 2019; 0: 1–12. 9. Rosen N et al.: 100% Response Rate to Galcanezumab in Patients With Episodic Migraine: A Post Hoc Analysis of the Results From Phase 3, Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled EVOLVE-1 and EVOLVE-2 Studies. Headache 2018; 58: 1347–1357. 10. Förderreuther S et al.: Preventive effects of galcanezumab in adult patients with episodic or chronic migraine are persistent: data from the phase 3, randomized, double-blind, placebo-controlled EVOLVE-1, EVOLVE-2, and REGAIN studies. The Journal of Headache and Pain 2018; 19: 121. 11. Mulleners WM et al.: A randomized, placebo-controlled study of galcanezumab in patients with treatment-resistant migraine: double-blind results from the CONQUER study. IHC-OR-042. Presented at IHC 2019, September 5–8, 2019, Dublin, Ireland. 12. Camporeale A et al.: A phase 3, long-term, open-label safety study of Galcanezumab in patients with migraine. BMC Neurol 2018; 18: 188. 13. Manack A et al.: Rates, predictors, and consequences of remission from chronic migraine to episodic migraine. Neurology 2011; 76: 711–718. 14. Detke H et al.: Shift from chronic migraine to episodic migraine status in a long-term phase 3 study of galcanezumab. Poster VV-MED-72183 presented at the Società Italiana per lo studio delle Cefalee (SISC), 33. Congresso Nazionale, June 14–16, 2019, Napoli, Italia. 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 33 FORTBILDUNG Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerz in verschiedenen Disziplinen Kopfschmerz gehört zu den insgesamt häufigsten Schmerzbildern. So gut wie jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens einmal Kopfschmerzen. Einige Kopfschmerzpatienten tragen ihren Kopfschmerz seit Jahren oder sogar seit Jahrzehnten mit grosser Auftretenshäufigkeit mit sich herum. Trotzdem sind Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerzen komplex. Im Interview geben Experten aus den Bereichen Psychiatrie, Reproduktionsendokrinologie und HNO Auskunft darüber, wie sie in der Praxis Kopfschmerz diagnostizieren, welche Schwierigkeiten dabei auftreten können und wie wichtig die fächerübergreifende Zusammenarbeit ist. Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld ist Leiterin der Abteilung für Kontrazeption und Adoleszenz in der Klinik für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich. Zudem leitet sie die schweizweit einzige Sprechstunde für hormonabhängige Migräne. Dr. med. Sven Brockmüller leitet die psychiatrisch-psychologische Schmerztherapie im Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner ist Co-Chefarzt der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenund Gesichtschirurgie am Luzerner Kantonsspital. Wie klären Sie Kopfschmerzen in Ihrem jeweiligen Fachbereich ab? Woran denken Sie zuerst? Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld: Zuerst einmal gilt es, zwischen Kopfschmerz und Migräne zu unterscheiden. In der Gynäkologie sind beispielsweise häufig Hormone die Ursache für eine Migräne. Eine gute Anamnese ist dann für die Ursachenfindung entscheidend. Denn sie gibt Auskunft darüber, welche Hormone eingenommen wurden, ob sich an der Einnahme etwas geändert hat, eine Schwangerschaft vorliegt oder die Pille danach eingenommen wurde. Viele unserer Patientinnen haben Kopfschmerzen und Migräne in Zusammenhang mit der Menstruation. Das kann im natürlichen Zyklus, aber auch unter Anwendung hormonaler Verhütungsmittel oder einer Hormonersatztherapie sein. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass Frauen ein Menstruationstagebuch über drei Monate führen, damit ich sehe, wie viele Migräne- oder Kopfschmerztage die betreffende Frau hat. Zudem sehe ich, wann diese auftreten, ob diese im Zusammenhang mit dem Zyklus stehen und wie stark sie sind. Durch das Kopfschmerztagebuch habe ich auch einen Eindruck davon, wie viele Schmerzmittel eingenommen wurden und was sonstige Migränetrigger sein könnten. Dr. med. Sven Brockmüller: In Nottwil klären wir Kopfschmerz sowohl von neurologischer als auch psychologisch-psychiatrischer Seite her ab, gegebenenfalls kommen weitere Disziplinen hinzu. Die Überweisung der Patienten erfolgt an uns meist auf schriftlichem Weg von einem Hausarzt oder einem Spital. Wir triagieren diese Patienten dann ins entsprechende Krankheitsbild und senden einen Schmerzfragebogen nach Hause. Dieser beinhaltet sowohl soziale als auch psychische Fragen wie das eigene Stresserleben usw. Bevor der Patient bei uns in der Sprechstunde vorgestellt wird, muss 34 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE FORTBILDUNG er diesen Fragebogen ausgefüllt retournieren. Danach entscheiden wir, ob wir den Patienten als Klient für eine Einzelfachdisziplin sehen – Kopfschmerzpatienten sind in der Regel neurologische Patienten –, optimalerweise findet aber eine Teamaufnahme statt. Das bedeutet, dass der Patient an einem Vormittag von drei verschiedenen Fachdisziplinen gesehen wird: der Neurologie, der Physiotherapie und dann der Psychologie oder der Psychiatrie. Im Rahmen der psychiatrischen und psychologischen Abklärung geht es darum, eine Sozialanamnese zu erheben, psychosoziale Belastungsfaktoren zu eruieren, psychiatrische Begleiterkrankungen und Suchterkrankungen zu entdecken und vor allem zu wissen, wie der Patient mit seinem Schmerz umgeht und welche funktionalen Bewältigungsstrategien bereits vorliegen. Ungünstig wäre es beispielsweise, wenn sich der Betroffene bei Schmerzen zurückzieht und passiv ist. Vorteilhaft ist es hingegen, wenn bereits Entspannungsverfahren bekannt sind und auch angewandt werden können. Von der neurologischen Abklärung her arbeiten wir nach ICD-10, Kopfschmerzspezialisten arbeiten zusätzlich mit ICHD-3, der internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, die deutlich mehr Differenzialdiagnosen zulässt, wobei der Spannungskopfschmerz und die Migräne am häufigsten sind. Unterscheiden müssen wir auch primäre von sekundären Kopfschmerzen. zur Abklärung von chronischen Kopfschmerzen. In vielen Fällen leuchtet als Zufallsbefund eine Schleimhautschwellung in den Nasennebenhöhlen auf, sodass sich dann im Radiologiebericht die Diagnose einer chronischen Sinusitis findet. Patient und Hausarzt sind erleichtert, da man endlich die Ursache für die chronischen Kopfschmerzen bildlich greifbar machen und diagnostizieren konnte. In den meisten dieser Fälle zeigen aber die HNO-ärztlichen Abklärungen mit Nasenendoskopie, dass die Nasenschleimhäute nicht betroffen sind und es sich nicht um eine rhinogene Ursache für die Kopfschmerzen handelt. Die Bildgebung ist für uns HNOSpezialisten deswegen primär nicht massgeblich, sondern es sind die Symptome und die klinische Untersuchung. Brockmüller: In der Regel ist es meist nicht so schwierig, eine Diagnose zu stellen. Diese ergibt sich sehr häufig schon aufgrund der ausführlichen Anamnese. Schwierig kann es manchmal sein, wenn die Patienten primär Nackenschmerzen haben, beispielsweise bei Patienten mit einem Schleudertrauma oder degenerativen Erkrankungen der Halswirbelsäule, und gleichzeitig auch noch Kopfschmerzen. Dann ist herauszufinden, ob die Kopfschmerzen als zusätzliches Krankheitsbild zu interpretieren sind oder in der Primärproblematik aufgehen, also im Sinne eines vom Nacken ausstrahlenden Schmerzes. Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner: Wichtig ist, neben der genauen klinischen Untersuchung im Fachbereich inklusive Nasenendoskopie, die Erhebung einer umfassenden Schmerz- und HNO-Anamnese gleich zu Beginn, um Schmerzen oder Ursachen aus dem Bereich HNO von Kopfschmerzen abgrenzen zu können. Beispielsweise gibt es akute Schmerzen, die einem Kopfschmerz ähneln können, wie die akute Rhinosinusitis, die Arteriitis temporalis oder, viel seltener, das Schmerzgeschehen bei einer chronischen Nebenhöhlenentzündung wie einer Sinusitis sphenoidalis als Ursache für den Kopfschmerz. Merki-Feld: Gynäkologen sind in der Diagnostik nicht ganz so gut geschult wie Neurologen. Wenn Kopfschmerzen ähnlich sind oder einzelne Bezüge aufweisen, die sonst zur Migräne gehören, kann die klare Diagnose schwierig sein. Deshalb sollte bei unklaren Kopfschmerzen ein Neurologe die Abklärung durchführen, obwohl es gut wäre, wenn auch Gynäkologen die einzelnen Kriterien für Kopfschmerz und Migräne kennen würden. Beim geringsten Verdacht auf neu auftretende Migräne unter hormonaler Verhütung sollte man das Hormon sofort absetzen. Eine Migräne unter der Einnahme von kombinierten Pillen führt zu einem deut- Was macht es in Ihrem Bereich schwierig, den Kopfschmerz von anderen Erkrankungen differenzialdiagnostisch abzugrenzen? Schlegel-Wagner: Bifrontale Stirnkopfschmerzen sind meistens ohne rhinogene Ursache. Schwierig wird es dann, wenn die Schmerzen unilateral auftreten, da das auch bei der Migräne häufig der Fall ist. Zum Teil können bei der Migräne auch Augensymptome auftreten und diese mit Schwindel einhergehen, weshalb eine Verwechselung mit Erkrankungen aus dem HNO-Bereich möglich sind. Weitere Differenzialdiagnosen sind eine Arteriitis temporalis, eine Erythroprosopalgie, auch Clusterkopfschmerz genannt. Die Betroffenen haben insbesondere nachts sehr starke und intensive Schmerzen, teilweise gehen sie auch mit einem geröteten Auge einher. Allerdings wird der Clusterkopfschmerz in den letzten Jahren immer häufiger von Neurologen korrekt diagnostiziert. Dann muss bei der Diagnostik unter anderem an Tumoren oder verborgene Karzinome in den Speicheldrüsen gedacht werden. Nicht in der Bedeutung zu unterschätzen sind auch Zufallsbefunde in den Nasennebenhöhlen bei bildgebenden Verfahren «Ich habe den Eindruck, wenn man das Problem der hormonellen Migräne mehr bekannt machen würde, wäre es für Ärzte eher möglich, zu diagnostizieren und die Patientinnen einer »Behandlung beim Spezialisten zuzuführen. Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld lich erhöhten Hirninfarktrisiko. Wir müssen auch sehr gut zuhören, wenn eine Frau mit bekannter Migräne berichtet, sie habe eine neu verschriebene Pille. Sind die Attacken mehr geworden oder treten neu Aurasymptome auf, soll sich diese Frau sofort melden. Denn dann muss auf eine andere Verhütungsmethode umgestellt werden. Wir sehen in unserer Sprechstunde häufiger Patientinnen mit einer solchen Entwicklung. Durch eine Umstellung der Hormone kann dann viel erreicht werden. Zudem gilt: Je länger die Migräne besteht und je häufiger die Attacken sind, umso komplexer ist das Vorgehen. Wichtig ist es, dass auch 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 35 FORTBILDUNG Gynäkologen eine gute Anamnese bezüglich einer eventuell vorhandenen Migräne erheben. So können Probleme im Zusammenhang mit jeder Art von Hormontherapie verhindert werden. Leider sind wir die einzige spezialisierte Sprechstunde in der Schweiz für hormonell bedingte Kopfschmerzen und Migräne. Ich habe den Eindruck, wenn man das Problem der hormonellen Migräne mehr bekannt machen würde, wäre es für Ärzte eher möglich, zu diagnostizieren und die Patientinnen einer Behandlung beim Spezialisten zuzuführen. Was sind die häufigsten Pitfalls? Schlegel-Wagner: Schwierig wird es bei bifrontalem Kopfschmerz und beispielsweise gleichzeitig vorliegenden Nasenpolypen. Oft denken die Betroffenen, das sei der Grund, obwohl ein Spannungskopfschmerz die Ursache ist. Das zu erklären und Patienten zu überzeugen, ist schwierig. Das betrifft auch zum Teil Hausärzte, die ein wenig in der Diagnose vorgespurt sind. Oft wird dann vom Patienten auf eine Operation wegen der Nasenpolypen gedrängt. Mitunter bessert sich die Situation nach dem Eingriff, aber meist ist nach wenigen Monaten der Kopfschmerz doch wieder da. Deshalb ist es sehr wichtig, den Spannungskopfschmerz gut abzuklären. Das braucht seine Zeit, ist aber wichtig, weil diese Patienten sonst von Arzt zu Arzt weitergereicht werden. Brockmüller: Sekundäre Kopfschmerzen gehören beispielsweise dazu. Sie sagen, grob ausgedrückt, dass etwas im Kopf passiert ist. Das heisst, eine andere Erkrankung ist für den Kopfschmerz ursächlich. Das kann in besonders schlimmen Fällen ein Hirntumor sein, eine Hirnblutung, eine Durchblutungsstörung, traumatische Ereignisse oder eine Entzündung wie eine Meningitis oder Enzephalitis. In der Abklärung geht es dann darum, zu erkennen, ob die Kopfschmerzen als Folge einer solchen Grundproblematik oder eben aus dem «Nichts» aufgetreten sind, ohne auslösende primäre Erkrankung. Dann sprechen wir von primären Kopfschmerzerkrankungen wie Migräne, Spannungskopfschmerz und und die obere Zahnreihe gepresst wird. Die körperliche Untersuchung dient insbesondere dazu, sekundäre Ursachen auszuschliessen. Bei klassischen Spannungskopfschmerz- und Migränepatienten ist die körperliche Untersuchung in der Regel völlig unauffällig, ebenso alle apparativen Untersuchungen. Eingangs hatte ich gesagt, dass die Patienten den Schmerzfragebogen ausfüllen, bei den Kopfschmerzpatienten gehört noch das Kopfschmerztagebuch dazu. Wurde das noch nicht geführt, kann es dem Patienten dabei helfen, selbst zu erkennen, wie häufig die Kopfschmerzen sind und was beispielsweise geholfen hat. Oft sind die Patienten überrascht über die Ergebnisse. Beispielsweise wird von den Patienten die Häufigkeit der Einnahme von Medikamenten unterschätzt. Eine weitere Pitfall ist dann auch der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Wird an mehr als 15 Tagen im Monat Ibuprofen, Paracetamol usw. eingenommen, entwickelt sich neben dem ursprünglichen Kopfschmerz ein Kopfschmerz aufgrund des Übergebrauchs von Schmerzmedikamenten, der klassischerweise fast jeden Tag da ist. Bei der Migräne kann es bereits nach 10 Tagen pro Monat, an denen Triptane eingenommen werden, zu einem Medikamentenübergebrauchskopfschmerz kommen. Das sehen wir leider immer wieder. Merki-Feld: Dazu zählen für mich zwei Punkte: keine gute und exakte Anamnese zu erheben und die Migräne zu übersehen. Zudem sind nicht alle Gynäkologen geschult und ausgebildet für die Therapie der menstruellen Migräne im Zyklus und unter Hormontherapie. Viele Patientinnen, die ich sehe, haben eine jahrelange Vorgeschichte, bevor sie uns zugewiesen werden. Leider ist es noch immer so, dass die hormonell bedingte Form der Migräne zu wenig an Kongressen besprochen wird. In den Richtlinien geben wir Empfehlungen, trotzdem wissen Gynäkologen eher noch zu wenig über diese Thematik. Die Neurologen sind besser geschult, nehmen aber auch nicht immer den Zusammenhang mit einer Hormontherapie wahr. «In unserer westlichen Welt gehen viele Patienten davon aus, dass ein Medikament oder eine »Spritze die ganze Behandlung sind. Dr. med. Sven Brockmüller Clusterkopfschmerz, die in der Regel einen chronischen Verlauf haben. Die Diagnose ergibt sich gerade hier im Prinzip zu 90 Prozent aus der Anamnese und einem unauffälligen körperlichen-neurologischen Befund. Apparative Untersuchungen werden nur dann notwendig, wenn Unsicherheiten bezüglich der Diagnose bestehen oder der Patient zum ersten Fall abgeklärt wird. In der Regel ist das eine Magnetresonanztomografie, seltener ein Elektroenzephalogramm, gegebenenfalls kommen noch Laboruntersuchungen hinzu. Wir untersuchen das Kiefergelenk, die Zunge, die Nackenmuskulatur. Manchmal sehen wir eine sogenannte Girlandenzunge bei den Patienten. Diese entsteht, wenn die Zunge vor allem nachts mit hohem Druck gegen den Gaumen Wie vermitteln Sie dem Patienten die Diagnose? Brockmüller: Die meisten Patienten sind froh, wenn sie überhaupt einmal eine (Kopfschmerz-)Diagnose bekommen und wissen, woran sie sind und kein Tumor usw. dahintersteckt. Schwierig ist es dann, zu vermitteln, was getan werden muss oder kann. In unserer westlichen Welt gehen viele Patienten davon aus, dass ein Medikament oder eine Spritze die ganze Behandlung sind. Dann zu vermitteln, dass sie selbst etwas tun müssen, zum Beispiel ihren Lifestyle ändern oder Entspannungstechniken lernen müssen, das ist eher schwierig. Schlegel-Wagner: Viele Patienten hatten bereits bildgebende Verfahren zur Abgrenzung. In diesen wurden dann zugeschwollene Nasennebenhöhlen gesehen, die meist nicht die Ursache vom Kopfschmerz sind. Hilfreich kann es dann sein, wenn der Patient bei der Nasenendoskopie zuschaut und sieht, dass die Nase in Ordnung ist und tatsächlich ein chronischer Kopfschmerz vorliegt. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich genügend Zeit für ein Beratungsgespräch zu nehmen. 36 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE FORTBILDUNG Merki-Feld: In meiner Sprechstunde geht es darum, ob ich hormonell etwas gegen die Migräne tun kann. Manche Frauen sehen beispielsweise nicht den Sinn darin, länger als 4 Wochen ein Kopfschmerztagebuch zu führen, aber die Fluktuationen sind wirklich gross, und man kann aus dem Tagebuch sehr gut ersehen, ob und welche Trigger es gibt. Man sieht, wie die Patientinnen auf die Schmerzmittel ansprechen und wann die Migräne im Tagesverlauf startet: typischerweise sehr früh. Zudem sieht man den Zusammenhang mit der monatlichen Blutung. Ich sehe viele Frauen mit chronischer Migräne, deren Migräne sich bessert, wenn sie mit einem Gelbkörperhormon behandelt werden, das den Eisprung hemmt und kontinuierlich eingenommen wird. Das ist bei Desogestrel beispielsweise der Fall. Ein wichtiger Vorteil der Gelbkörperhormone ist auch, dass sie das Thrombose- und Hirninfarktrisiko nicht erhöhen. Wäre es hilfreich, wenn die Zusammenarbeit inter- oder multidisziplinär wäre? Schlegel-Wagner: Auf jeden Fall, die multidisziplinäre Abklärung ist bei komplexen, langjährigen Beschwerden und Patienten, die von Spezialist zu Spezialist weitergereicht wurden, sehr wichtig. Bei Kopfschmerzen haben die Betroffenen oft Angst, dass mehr dahinterstecken könnte, und jede weitere Überweisung und jedes weitere MRI verstärkt diese Angst. Ist direkt eine multidisziplinäre Sprechstunde für ausgewählte Patienten vorhanden, schauen sich verschiedene Spezialisten den Patienten gleichzeitig an. Dann ist es einfacher, die Diagnose zu finden und diese zu kommunizieren. Brockmüller: Wir sind ein Zentrum, das sich auf die Fahne geschrieben hat, multimodal interdisziplinär zu arbeiten. Die einzelnen Fachrichtungen und Fachdisziplinen sind eng miteinander verknüpft. Einige Kopfschmerzpatienten tragen ihren Kopfschmerz seit Jahren oder sogar seit Jahrzehnten mit grosser Auftretenshäufigkeit – zum Teil täglich – mit sich herum. Das oberste Ziel ist dann eigentlich nicht mehr die Schmerzfreiheit, die wir bei solchen chronischen Kopfschmerzen häufig nicht mehr erreichen. Dann brauchen wir einen multimodalen Ansatz im Sinne des biopsychosozialen Schmerzmodells. Bei den psychischen Faktoren geht es neben den oben genannten Faktoren unter anderem um Komorbiditäten wie Depressivität, Angsterkrankungen und Schlafstörungen. Schmerzpatienten haben zu 60 bis 80 Prozent Schlafstörungen. «Auf jeden Fall, die multidisziplinäre Abklärung ist bei komplexen, langjährigen Beschwerden und Patienten, die von Spezialist zu Spezialist »weitergereicht wurden, sehr wichtig. Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner Diese Faktoren beeinflussen sehr stark den Verlauf und die Prognose von chronischem Kopfschmerz. Deshalb ist diese Frage nur mit einem klaren Ja zu beantworten. Und es ist das, was wir hier täglich tun. Merki-Feld: Im akademischen Bereich ist die Zusam- menarbeit bereits gut. Wir tauschen uns im Vorstand der Kopfschmerzgesellschaft aus, um all die verschiedenen Formen der Kopfschmerzen besprechen zu können. Patientinnen mit Migräne sehen aber häufig viele Ärzte, bis sie zu einem Spezialisten gelangen. Manche haben eine lange Odyssee hinter sich. Ich denke, die hormo- nell bedingte Migräne müsste noch mehr in das Be- wusstsein von Hausärzten und auch Gynäkologen treten. G Das Interview führte Annegret Czernotta. Wir danken den Experten für das Interview. Für weitere Informationen und Fragen wenden Sie sich bitte an: info@rosenfluh.ch 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 37 CGRP: «Weniger Nebenwirkungen als in der Behandlung mit Plazebo» FORTBILDUNG PD Dr. med. Andreas Gantenbein ist Chefarzt Neurologie bei RehaClinic Region Aargau und Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft. Im Interview gibt er Auskunft über seine Erfahrungen mit den neuen CGRP-Antikörpern. Wie suchen Sie die Patienten für die Behandlung mit den neuen CGRP-Antikörpern aus? PD Dr. Andreas Gantenbein: In der Schweiz ist die Indikation aufgrund der hohen Kosten stark eingeschränkt. Die Betroffenen müssen mindestens acht Migränetage pro Monat haben, und das, ohne auf andere prophylaktische Medikamente anzusprechen. Eine weitere Voraussetzung ist zudem, dass die Migräne mindestens seit einem Jahr besteht und diese über drei Monate in einem Kopfschmerztagebuch dokumentiert wurde. Was ist das Ziel der Behandlung? Gantenbein: Die neuen CGRP-Antikörper sind wirksam. Mehrere Studien haben das belegt und auch gezeigt, dass diese gut verträglich sind (1–5). Grundsätzlich sind sie bei allen Migränepatienten anwendbar, wobei uns Daten aus Langzeitbehandlungen, d. h. über fünf Jahre, fehlen. Primäres Ziel ist eine Reduktion der Migräne um 50 Prozent nach sechs Monaten. Wird dieses Ziel erreicht, übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Leider werden relevante Kriterien wie Stärke, Dauer und Akutmedikation nicht berücksichtigt, was bei der Migräne und hinsichtlich Lebensqualität genauso wichtig ist. Wer profitiert nicht von den Migräneprophylaktika? Gantenbein: Sowohl Studien als auch die Praxis zeigen, dass 20 bis 30 Prozent der Migränepatienten nicht ausreichend darauf ansprechen. Wir wissen nicht, warum. Einerseits erscheint mir wichtig, dass die Migräne behandelt wird und nicht andere Kopfschmerzarten. Andererseits sprechen Menschen wahrscheinlich auch unterschiedlich auf die verschiedenen Biologika an. Vielleicht aufgrund der Genetik, aber das wissen wir noch nicht. In anderen Ländern kann unter den drei bisher zugelassenen Substanzen gewechselt werden. In der Schweiz ist das leider nicht möglich. Es könnte also sein, Andreas Gantenbein dass ein Patient auf ein Präparat anspricht, aber auf das andere nicht. Wir kennen das auch aus der Behandlung der rheumatoiden Arthritis oder der Multiplen Sklerose. Wie sieht es mit den Nebenwirkungen und insbesondere auch mit den Langzeitnebenwirkungen aus, und sind CGRP-Rezeptor-Antagonisten wirksamer als andere traditionelle Migräneprophylaktika? Gantenbein: Verträglichkeit und Sicherheit sind in den Studien sehr gut. Wir beobachteten sogar mehr Nebenwirkungen in der Plazebo- als in der Verumgruppe. Dadurch ist die Compliance sehr gut, und die Drop-outRaten waren in den Studien gering. Beim Darm beobachteten wir beispielsweise, dass eine Obstipation etwas häufiger vorkommt, aber wahrscheinlich auch nicht viel häufiger als generell bei Migräne oder in der Allgemeinbevölkerung. Bei der Lunge haben wir bisher keine Hinweise auf negative Nebenwirkungen. In Bezug auf die Hypertonie lagen bislang nur ungünstige Zusammenhänge aus Tierversuchen vor. Kürzlich wurden in der US-amerikanischen Fachinfo zu Aimovig® aber erstmals Warnungen zur Hypertonie aufgenommen. Dort heisst es, dass bei 38 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE FORTBILDUNG behandelten Patienten mit einer neu auftretenden Hypertonie oder bei einer Verschlechterung der Hypertonie ein Absetzen überdacht werden muss, wenn keine andere Ursache für die Hypertonie gefunden werden kann. In den meisten Fällen trat die Hypertonie innerhalb der ersten sieben Tage nach Behandlung auf (7). Insgesamt konnten wir aber noch nicht genügend Erfahrung sammeln. Deshalb werden Register geführt und bei neuen Medikamenten natürlich auch Ereignisse im Pharmakovigilanz-System erfasst. Wichtig und interessant wären Head-to-Head-Vergleiche der drei Antikörper, aber die gibt es noch nicht. Inwiefern unterscheiden sich die zugelassenen CGRPAntagonisten? Gantenbein: Wir haben, wie bereits erwähnt, keine Head-to-Head-Vergleiche. Allgemein erscheint die Wirksamkeit vergleichbar, auch die Verträglichkeit und die Sicherheit. Unterschiede zeigen sich aber in der Applikationsart, und das macht es für die Patienten allenfalls interessant. Erenumab wird mit einer Dosis von 70 mg gestartet und kann dann auf 140 mg erhöht werden. Bei Galcanezumab gibt es eine doppelte Loading-Dosis, danach eine monatliche Einfachdosis. Fremanezumab kann monatlich und dreimonatlich verabreicht werden. Das heisst, bei der Applikation alle drei Monate werden drei Spritzen gegeben. Auch bei der hohen Dosierung hat es wenig Nebenwirkungen. Ich denke, diese feinen Unterschiede können in der aktuellen Situation die Entscheidung für einen der Antikörper im Gespräch mit dem Patienten beeinflussen. Was zeigt sich in Bezug auf die Wirksamkeit? Gantenbein: Ich habe bislang rund 50 Patienten mit den Antikörpern behandelt. Nach sechs Monaten sprechen rund drei Viertel der Patienten ausreichend auf die Behandlung an. Ein Drittel davon sehr gut. Diskutiert wird der hohe Preis. Ist diese Therapie gerecht- fertigt? Gantenbein: Das gute Ansprechen der Patienten ist sehr erfreulich. Es gibt den Betroffenen ein Gefühl der Freiheit zurück und der Kontrolle über das eigene Leben. Ich denke, die Kosten sind dann gerechtfertigt, da viele Migränepatienten auch wieder voll arbeiten können. Aufgrund der Kontrollmechanismen und Über- prüfung der Qualität sind diese Antikörper aber schwe- ren Migränefällen vorbehalten. Die Verordnung liegt beim Neurologen und/oder beim Kopfschmerzspezia- listen. Ich denke, das unterstützt eine anhaltend gute Selektion der Patienten. G Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Andreas R. Gantenbein Chefarzt Neurologie Präsident Schweizerische Kopfwehgesellschaft RehaClinic Bad Zurzach Quellenstrasse 34 5330 Bad Zurzach E-Mail: a.gantenbein@rehaclinic.ch Referenzen: 1. Goadsby PJ, Reuter U, Hallström Y, Broessner G, Bonner JH, Zhang F et al.: A Controlled Trial of Erenumab for Episodic Migraine. N Engl J Med. 2017; 377(22): 2123–2132. 2. Dodick DW, Silberstein SD, Bigal ME, Yeung PP, Goadsby PJ, Blankenbiller T et al.: Effect of Fremanezumab Compared With Placebo for Prevention of Episodic Migraine: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2018; 319(19): 1999–2008. 3. Skljarevski V, Matharu M, Millen BA, Ossipov MH, Kim BK, Yang JY: Efficacy and safety of galcanezumab for the prevention of episodic migraine: Results of the EVOLVE-2 Phase 3 randomized controlled clinical trial. Cephalalgia. 2018; 38(8): 1442–1454. 4. Dodick D et al.: Safety and efficacy of ALD403, an antibody to calcitonin gene-related peptide, for the prevention of frequent episodic migraine: a randomised, double-blind, placebo-controlled, exploratory phase 2 trial. Lancet Neurology. 2014; 13: 1100–1107. 5. Brandes JL, Saper JR, Diamond M, Couch JR, Lewis DW, Schmitt J et al.: MIGR-002 Study Group. Topiramate for migraine prevention: a randomized controlled trial. JAMA. 2004; 291(8): 965–973. 6. www.compendium.ch 7. https://www.pi.amgen.com/~/media/amgen/repositorysites/piamgen-com/aimovig/aimovig_pi_hcp_english.ashx (letzter Zugriff am 7.5.2020). Kasten: CGRP-Rezeptor-Antagonisten Die Blockade des Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ist eine spezifische Therapie in der Behandlung der episodischen, aber auch der chronischen Migräne. CGRP besteht aus 37 Aminosäuren und kommt in einer α- und β-Unterform vor. CGRP wird sowohl in zentralen als auch peripheren Neuronen gebildet und gilt als einer der stärksten Vasodilatatoren. Monoklonale Antikörper nutzen das CGRPSystem als Mechanismus und beugen Migräneanfällen spezifisch vor. Vier Substanzen wurden untersucht, wobei drei an den Liganden CGRP binden (Eptinezumab, Fremanezumab, Galcanezumab) und eine an den CGRP-Rezeptor (Erenumab). Eptinezumab befindet sich noch in der Entwicklungsphase und ist in der Schweiz nicht zugelassen. Es wird in Studien intravenös verabreicht. Fremanezumab (Ajovy®): Die Fertigspiritze wird monatlich (225 mg) oder alle drei Monate (675 mg) subkutan appliziert (6). Galcanezumab (Emgality®): Die empfohlene Dosis beträgt 120 mg als subkutane Injektion einmal monatlich. Zu Beginn der Behandlung ist eine einmalige Anfangsdosis von 240 mg (2 Injektionen) zu verabreichen (6). Erenumab (Aimovig®): Empfohlen wird eine Dosis von 70 mg als subkutane Injektion einmal monatlich. Bei Patienten, die auf diese Dosierung eine ungenügende Wirkung zeigen, kann die Dosierung auf 140 mg einmal monatlich gesteigert werden, solange dadurch eine bessere Wirkung nachweisbar ist (6). Sehr geehrter Herr PD Dr. med. Andreas Gantenbein, wir danken Ihnen für das Gespräch! Das telefonische Interview führte Annegret Czernotta. 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 39 FORTBILDUNG Das Allostasemodell und die Hypnosetherapie bei der Migräneerkrankung Die medizinische Hypnose und Anleitung zur Selbsthypnose ist eine zumindest teilweise evidenzbasierte Technik, die in der klinischen Praxis zur Behandlung von Migräne und anderen Kopfschmerzformen eingesetzt werden kann. In diesem Artikel wird der mögliche Nutzen der medizinischen Hypnose bei der Migräneerkrankung anhand des Modells der Allostase erläutert. Sivan Schipper Peter S. Sandor von Sivan Schipper und Peter S. Sandor* D er Pathomechanismus der Migräne ist komplex und multifaktoriell, wobei davon ausgegangen wird, dass multiple neuronale Systeme abnormal funktionieren. Grundsätzlich bestehen eine erhöhte Sensitivität für homöostatische Fluktuationen, eine verminderte Adaptationsfähigkeit und das rezidivierende Kopfschmerzsyndrom, möglicherweise basierend auf einer generalisierten neuronalen Übererregbarkeit (1). Während eine gelegentliche, gut kontrollierbare Migräneattacke für die meisten Menschen ohne Krankheitswert ist, können heftige oder sehr häufige Anfälle die Lebensqualität auf invalidisierende Art und Weise beeinträchtigen. Das Allostasemodell Das Allostasemodell (2) stellt die Migräne als Erkrankung der gestörten Stressadaptation dar. Nach diesem Modell reagiert ein Organismus auf sich ändernde Umweltbedingungen, sodass Stabilität, die sogenannte Allostase, erreicht wird. Diese Adaptation angesichts potenziell stressvoller Ereignisse beinhaltet eine Aktivierung neuronaler, neuroendokriner und neuro-endokrino-immunologischer Mechanismen (3), wobei hier insbesondere das autonome Nervensystem sowie eine Modifizierung von Verhaltensmustern von Bedeutung sind. Wenn Stressoren häufig und/oder ausgeprägt sind und/oder wenn die Adaptationsfähigkeit reduziert ist (wie es z. B. bei der Migräneerkrankung der Fall ist), kann es zu einer Zunahme der «allostatischen Ladung» kommen (2). Diese allostatische Ladung wiederum kann neuronale Netzwerke funktionell und strukturell verändern: Sie kann sich negativ auf neuronale Prozesse, das Verhalten und physiologische Reaktionen auswirken und in einen Circulus vitiosus münden. Allostasemodell und Schulmedizin Die modellhafte Beschreibung kann zur publizierten pathophysiologischen Evidenz in Beziehung gesetzt wer- * RehaClinic Group, Schweiz den. Diese belegt, dass Migränepatienten eine erhöhte kortikale Erregbarkeit und eine Störung in der Reizadaptation aufweisen, was in einer metabolischen Mangelsituation resultieren kann. Durch mehrere Mechanismen kann eine Migräneattacke unter diesen pathophysiologischen Grundvoraussetzungen getriggert werden (4, 5). In der Terminologie des Allostasemodells sind Migränepatienten aufgrund erhöhter Reizantworten Stress ausgesetzt, haben eine verminderte Gegenregulationsfähigkeit und sind aufgrund ihrer verminderten Kapazität, repetitive Reize zu filtern, kontinuierlich Stressoren ausgesetzt, was wiederum dysfunktionale neuroplastische Reaktionen, wie zum Beispiel die zentrale Sensitisierung und/oder die Schmerzchronifizierung, zur Folge haben könnte (2). Die medizinische Hypnose Die Definition der medizinischen Hypnose ist komplex und soll nur am Rande Gegenstand dieser Abhandlung sein. Grundlegend handelt es sich dabei um ein Verfahren, bei dem der Patient in eine sogenannte Trance geführt wird und vom medizinischen Hypnotiseur dazu angeleitet wird, auf Suggestionen zur Veränderung des subjektiven Erlebens und der Wahrnehmung, des Empfindens, des Denkens oder des Verhaltens zu reagieren (6). Die Trance gilt als wesentliche Voraussetzung der effektiven therapeutischen Intervention und ist eine Sammelbezeichnung für veränderte Bewusstseinszustände mit einem intensiven mentalen Erleben, wobei sie durch eine hoch fokussierte Konzentration auf einen Vorgang bei gleichzeitiger tiefer Entspannung bei Dämpfung des logischreflektierenden Verstandesanteils gekennzeichnet ist. Hypnose kann signifikante und sinnvolle Veränderungen des Denkens, der Emotionen, des Verhaltens und der Wahrnehmung bewirken und neuronale Netzwerke nachhaltig verändern. Die medizinische Hypnose kann gemäss der aktuellen Evidenzlage als effektive Behandlungsform gelten, die komplementär zu schulmedizinischen Verfahren eingesetzt werden kann und zunehmend Eingang auch in die universitäre Patientenversorgung findet, insbesondere in der 40 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE FORTBILDUNG Schmerzmedizin, im perioperativen sowie im onkologischen Kontext. Medizinische Hypnose bei Migräne Die Wirksamkeit der Hypnose bei der Migräne von Erwachsenen und Kindern sowie bei anderen Erkrankungen des psychosomatischen und somatopsychischen Formenkreises wie z. B. bei Spannungskopfschmerzen, Tumorschmerzen und Colon irritabile ist gut belegt (7–10). Anhand des Allostasemodells der Migränekrankheit lässt sich die Wirksamkeit der Hypnosetherapie propädeutisch veranschaulichen: Die Hypnosetherapie kann unmittelbaren Einfluss auf die allostatische Ladung nehmen und dazu beitragen, Allostase herbeizuführen. Bildhaft gesprochen, könnte eine Migräneattacke vom Migräniker Rückzug und Reizabschirmung, Introspektion und Selbstzuwendung einfordern. Hierbei kann die hypnotische Trance dem Organismus die Gelegenheit vermitteln, die sonst als Schmerz vorgetragene Botschaft im Zustand tiefer neuronaler Entspannung konstruktiv zu formulieren und so deutlich zu machen, was notwendig ist, um zu gesunden. Je nach Situation können die Therapieziele der Migränepatienten, also Massnahmen, die eine allostatische Ladung verringern, stark variieren. Diese sind vor Beginn einer Hypnosetherapie zu evaluieren und im Rahmen der therapeutischen Beziehung festzulegen. Im Regelfall findet eine Reihe angeleiteter Hypnosesitzungen statt, wobei dem Erlernen von Selbsthypnose eine zentrale Bedeutung zukommt, mithilfe derer Patienten befähigt werden, die Methode unabhängig anzuwenden und längerfristig eigene therapeutische Ziele zu verfolgen. Festgelegte Ziele können sein: das Erlernen von Tiefenentspannung, eine Verringerung der Schmerzintensität in der Attacke sowie des assoziierten Unbehagens, das mit dem Schmerz einhergeht, eine «Umwandlung» schmerzhafter Sensationen in angenehmere Empfindungen und sogar die sogenannte hypnotische Anästhesie. Im Folgenden seien Beispiele von Prozessen genannt, die durch die Hypnosetrance suggeriert und intensiviert werden können, wobei hier der Reihenfolge keine Gewichtung beigemessen wird: G Schmerzreduktion, z. B. durch die Vermittlung heil- samer Bilder einer wohltuenden Linderung von Schmerzen. G Metaphorische Beschreibung und dadurch «Greifbarmachung» des Schmerzes im Trancezustand, was den Schmerz innerhalb der Trance verform- und veränderbar macht. G Schmerzdissoziation durch Loslösung des Schmerzempfindens vom eigenen Ich, sodass der Schmerz als distanziert und weniger zur einzigen Realität gehörend wahrgenommen werden kann. G Reizabschirmung durch mentales Training, um das eigene Gehirn vor Überreizung zu schützen, z. B. durch systematische Lenkung der Aufmerksamkeit. G Selbst wirksam induzierte Entspannung – im Rahmen der hypnotischen Trance oft als Tiefenentspannung – kann neuronale Hyperaktivität reduzieren. G Verringerung der durchschnittlichen Sympathikusaktivität im Rahmen regelmässiger Selbsthypose. Eine hohe Sympathikusaktivität im Sinne einer chronischen Übererregung kann mit chronischen Schmerzen assoziiert sein. G (Re-)Aktivierung körpereigener Plazebomechanismen und Stärkung der eigenen Ressourcen unter Verwendung von Metaphern und Geschichten. G Bearbeitung und idealerweise Lösen emotioneller Blockaden und innerpsychischer Konflikte, die Anfälle als Stressoren triggern und zu anhaltend ausgeprägter Beeinträchtigung beitragen können. Emotionen, die zu Blockaden führen, können hierbei z. B. durch alternative Emotionen, die zur Lösung beitragen können, ersetzt werden. G Reduktion negativer Emotionen wie z. B. Wut, Ärger, Angst oder Scham, die via sympathische Erregung Schmerzzustände verstärken oder gar auslösen können. G Exploration existenzieller Defizite und Wünsche mit dem Ziel ihrer Bearbeitung und Einordnung. G Korrespondenzadresse: Dr. med. Sivan Schipper Stv. Leitender Arzt Facharzt Innere Medizin FMH Leiter Palliative Care Schmerzspezialist SPS Medizinische Klinik Spital Uster Brunnenstrasse 42 8610 Uster E-Mail: Sivan.Schipper@spitaluster.ch Literatur: 1. Burstein R et al.: Migraine: Multiple Processes, Complex Pathophy- siology. Journal of Neuroscience 2015; 35(17): 6619–6629. 2. Borsook D et al.: Understanding Migraine through the lens of Mal- adaptive Stress Responses: A Model Disease of Allostatic Load. Neuron 2012, 26; 73(2): 219–234. 3. McEwen BS, Stellar E: Stress and the individual. Mechanisms leading to disease. 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Int J of Clinical and Experimental Hypnosis 2007; 55(2): 207–219. Merkpunkte: ● Die medizinische Hypnose und Anleitung zur Selbsthypnose ist eine zumindest teilweise evidenzbasierte Technik, die in der klinischen Praxis zur Behandlung von Migräne und anderen Kopfschmerzformen eingesetzt werden kann. ● Metaphorisch formulierte Modelle wie das Allostasemodell können im therapeutischen Alltag als Übersetzungshilfe und als Anwendungswerkzeug dienen. ● In Ergänzung zur Pharmakotherapie und zu multimodalen Ansätzen kann die medizinische Hypnose dazu beitragen, dass auch in chronischen Patientensituationen mittels selbst wirksamer Ansätze eine Reduktion der krankheitsbedingten Beeinträchtigung erreicht werden kann. 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 41 FORTBILDUNG Komplementärmedizinische Behandlung von Kopfschmerz am Beispiel der Akupunktur Akupunktur ist in Europa die bekannteste und verbreitetste Behandlungsart der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). Bei der Vorbeugung des Spannungskopfschmerzes und der episodischen Migräne ist die Akupunktur inzwischen mit guter Evidenz belegt (1, 2). Saroj K. Pradhan von Saroj K. Pradhan Geschichte der Akupunktur I m «Klassiker des Gelben Kaisers» (Ling Shu, ca. 100–200 v. Chr.) wird zum ersten Mal strukturiert das Kernwissen der Akupunktur dargestellt. Nebst Pathologie, Diagnose und Therapieverfahren werden in diesem Buch neun Arten von Akupunkturnadeln, ihre Formen, Grössen und Anwendungen beschrieben (3). Dieses sind die Dreikant-, Rund-, Druck-, Spitzkant-, Schwertform-, Scharf-, Haardünn-, Lang- und Grossnadeln (4). Jede Nadelform wurde zur Behandlung von spezifischen Krankheitsbildern verwendet. Im 16. Jahrhundert n. Chr. wurde die Akupunktur als Erstes in Japan und Korea bekannt, danach verbreitete sie sich langsam nach Europa und Nordamerika (5). Der Mechanismus der Akupunktur ist schwer zu untersuchen, ihre genaue Wirkungsweise ist noch nicht vollständig verstanden. Im TCM-Verständnis ist der Mensch gesund, wenn die Energie (Qi) im Körper voll ist und sie frei in den Energiebahnen fliesst. Ursache aller Beschwerden sind Störungen durch Blockaden von Qi oder Qi-Mangel im Körper. Durch das exakte Punktieren und die Stimulation von ausgewählten Akupunkturpunkten können Blockaden in den Energiebahnen gelöst, das Gleichgewicht im Körper wiederhergestellt und eine Genesung herbeigeführt werden. Tao Gu et al. (2018) konnten in ihrer Studie über Akupunktur bei Migräne mit MR-Spektroskopie zum ersten Mal biochemische Veränderungen im Gehirn mit einem signifikanten Anstieg von N-Acetylaspartat/Kreatin im bilateralen Thalamus nachweisen (6). Akupunktur bei Kopfschmerzen Die 2018 veröffentlichte, derzeit gültige internationale Kopfschmerzklassifikation («International Classification of Headache Disorders» [ICHD-3]) unterscheidet in der westlichen Medizin über 300 verschiedene Formen dieser Erkrankung (7), wobei im klinischen Kontext bei den primären Kopfschmerzen die Migräne und der Clusterkopfschmerz und bei den sekundären der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz im Vordergrund stehen (8). Die Akupunktur ist bei der Vorbeugung des Spannungskopfschmerzes und der episodischen Migräne inzwischen mit guter Evidenz belegt (1, 2). Die Diagnosestellung in der TCM erfolgt mittels TCMSyndrom-Differenzierung. Diese setzt sich zusammen aus Beobachten, Hören, Riechen, Befragen, Tasten, Zungen- und Pulsdiagnose. Bei Kopfschmerzen werden die Patienten nach Konstitutionstyp, Gesichtsfarbe und Zustand der Vitalität im Gesicht beobachtet. Die Befragung nach der Schmerzlokalisation ist zur Feststellung der betroffenen Energiebahn/en wichtig. Bei einer Qi-Stagnation sind die Schmerzen eher leicht, sie wandern und fühlen sich stechend an. Die Schmerzen bei einer Blutstagnation sind dumpf, stark und nur an einer bestimmten Stelle vorhanden. Die Zunge reflektiert die TCM-Systemorgane und gibt Auskunft über den Zustand dieser Organe. Ihre Beschaffenheit und der Belag geben u. a. Hinweise über Blut, Qi-Mangel, Kälte und Hitze im Körper. Wie bei der Zungendiagnose gibt die Pulsqualität Auskunft über Blut, Qi und den Zustand aller TCM-Organe. An beiden Unterarmen wird die A. radialis distal mittels Zeige-, Mittel- und Ringfinger in drei Druckebenen (oberflächlich, mittel und tief ) palpiert. Dabei werden mehr als 28 Pulsqualitäten wie rau, fein, langsam, schnell, saitenförmig, dünn usw. unterschieden. 42 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE FORTBILDUNG Chinesische Leitbahnenlehre Nach der chinesischen Leitbahnenlehre entstehen Kopfschmerzen, wenn folgende Leitbahnen in Disharmonie sind: G Yang Ming (Dickdarm-Magen-Leitbahn): Betroffene Patienten leiden auch oft an Verdauungsstörung. Die Symptome sind frontal, vergleichbar mit Spannungskopfschmerz. G Shao Yang (Dreifach-Erwärmer/Gallenblase-Leitbahn): Die Schmerzen treten temporal auf und ähneln einer Migräne. Die betroffenen Patienten sind meistens emotional instabil. G Tai Yang (Dünndarm-Blase-Leitbahn, oft mit Wirbelsäulenbeschwerden verbunden): Die Patienten klagen über Schmerzen im okzipitalen Bereich, ähnlich wie bei einer Okzipitalisneuralgie. G Jue Ying (Perikard-Leber-Leitbahn): Die Schmerzen sind parietal, und die Patienten fühlen sich allgemein schwach. Es existieren ausser der klassischen Akupunkturmethoden auch andere Akupunkturmethoden, die bei Kopfschmerzen eingesetzt werden. Der französische Allgemeinarzt Paul Nogier entdeckte in den Fünfzigerjahren die Ohrsomatotopie, eine Darstellung des umgekehrten Fetus am Ohr (9). Zusammen mit Frank Bahr aus München und Rene Bourdiol aus Paris wurde eine umfangreiche Ohrkartografie ausgearbeitet, und es entstand das Werk «Loci auriculo medicinae» (9). Toshikatsu Yamamoto entwickelte die «Yamamoto Neue Schädelakupunktur», welche bei Schmerzpatienten eingesetzt wird (10). Erstere Methode verwendet Zonen am Ohr, Letztere überwiegend Areale am Kopf, um Beschwerdebilder zu therapieren. Bei Patienten mit Nadelphobie wird die Laserakupunktur eingesetzt. Jeder einzelne Applikator kann unterschiedliche Wellenlängen erzeugen, die Akupunkturpunkte dadurch stimulieren und Krankheiten behandeln (11). In der neueren Zeit werden traditionelle chinesische Akupunkturmethoden weiterentwickelt. Für Kopfschmerzen bieten sich die Akupunkturmethoden Jiu Cang Zhen (neun speichernde Akupunktur) und Huang Guan (Kaiserkrone) an. Bei der ersten Technik wird am Abdomen mit zwölf Nadeln von Tian Shu (Ma 25) gestochen. Acht werden auf dem äusseren Radius in Richtung Bauchnabel gesetzt, während die vier Akupunkturnadeln im inneren Radius auf den äusseren Radius gerichtet sind (12). Bei der Huang-Guan-Technik werden fünf Nadeln frontal am Haaransatz gesetzt (13). Diese Methoden zielen darauf ab, die Energie (Qi) im Kopf und im Bauchbereich zu harmonisieren, Blockaden der Energiebahnen zu lösen, um schmerzlindernde Effekte zu erzielen. Neben der Akupunktur empfiehlt der TCM-Arzt Patien- ten zur Pflege des Lebens auch ausgleichende Bewe- gung, Sport wie Tai-Chi und Qigong, regelmässige warme Mahlzeiten und Getränke. Aber die Patienten sollten auch darauf achten, die Energie im Körper zu halten und z. B. offene Kragen und nasse Haare nach dem Duschen zu vermeiden, nicht mit geöffnetem Fenster zu schlafen und den Bauchbereich nie unbe- deckt zu lassen. Das sind aus Sicht der TCM Massnah- men zur Prävention und zum Erhalt einer stabilen Gesundheit. G Korrespondenzadresse: Saroj K. Pradhan RehaClinic AG/TCM-Klinik Ming Dao A1 Quellenstrasse 31 5330 Bad Zurzach E-Mail: s.pradhan@tcmmingdao.ch Literatur: 1. Linde K, Allais G, et al.: Acupuncture for the prevention of tensiontype headache. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 4. Art. No.: CD007587.DOI: 10.1002/14651858.CD007587.pub2. 2. Linde K, Allais G, et al.: Acupuncture for the prevention of episodic migraine. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 6. Art. No.: CD001218. DOI: 10.1002/14651858.CD001218.pub3. 3. Paul U. Unschuld: Der Innere Klassiker des Gelben Thearchen. Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2015, 58(2), 14–19. doi:10.1016/ s0415-6412(15)30005-9. 4. Hyo J. Kim, Kwang H. Lee, et al.: Illustrations of the Nine Types of Needles based on Huangdi’s Internal Classic Ling-shu. J Acupunct Res 2019, 36(1), 38-44. 5. Yi Zhuang, Jing-Jing Xing, et al.: History of Acupuncture Research. International Review of Neurobiology 2013, Vol. 111, 1–23. doi:10.1016/ b978-0-12-411545-3.00001-8. 6. Tao Gu, Lei Lin, et al.: Acupuncture therapy in treating migraine: results of a magnetic resonance spectroscopy imaging study. Journal of Pain Research 2018, Vol. 11, 889–900. doi:10.2147/jpr.s162696. 7. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 2018, Vol. 38(1), 1–211. doi:10.1177/ 0333102417738202. 8. Sivan Schipper, Andreas R. Gantenbein: Starke Kopfschmerzen. Abklärung und Therapie in der Hausarztpraxis. ARS MEDICI DOSSIER VI, 2013. 9. Andreas Wirz-Ridolfi: The History of Ear Acupuncture and Ear Cartography: Why Precise Mapping of Auricular Points Is Important. Medical Acupuncture 2019, 31(3), 145–156. doi:10.1089/acu.2019.1349. 10. Hans P. Ogal: Interview mit Dr. med. Toshikatsu Yamamoto. Deutsche Zeitschrift Für Akupunktur 2013, 56(2), 50–51. 11. Gerhard Litscher: Integrative Laser Medicine and High-Tech Acupuncture at the Medical University of Graz, Austria, Europe. EvidenceBased Complementary and Alternative Medicine 2012, 1–21. doi:10.1155/2012/103109. 12. Zhu Y. Zhong. (2016a) Zhong Yi Jue Wu Yan (Brief remark about the awareness of Chinese medicine). In: Kapitel 7 Abschnitt 3 Jiu Cang Zhen Jiu (Nine depot acupuncture). Beijing: Rénmín Wèi Shēng Chūbăn Shè, pp. 193–196. 13. Zhu Y. Zhong. (2016b) Zhong Yi Jue Wu Yan (Brief remark about the awareness of Chinese medicine). In: Kapitel 29 Wang Guan Xue und Huang Guan Xue (Royal and imperial crown points). Beijing: Rénmín Wèi Shēng Chūbăn Shè, pp. 216. 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 43 SONDERREPORT Fotos: vh Prophylaxe bei episodischer und chronischer Migräne Weniger Migränetage mit neuem CGRP-Antikörper Migräne hat sehr einschneidende Auswirkungen auf Lebensqualität, Arbeitsleistung und Sozialleben. Viele Patienten planen gar keine Aktivitäten mehr aus Angst, sie wieder absagen zu müssen. Mit den neuen CGRP-Antikörpern wie Fremanezumab ist nun eine Migräneprophylaxe möglich, die die Ausfalltage im Arbeits- und Privatleben bei guter Verträglichkeit verringern kann, wie am Mediengespräch von Teva anlässlich der 3-Ländertagung Kopfschmerz in Wien zu erfahren war. PD Dr. Andreas Gantenbein PD Dr. Christoph Schankin Migräne gehört zu den häufigsten (1) der über 240 Kopfschmerzarten (2), etwa 11 Prozent der Erwachsenen in den westlichen Ländern sind davon betroffen, 1 bis 4 Prozent leiden unter täglichen oder beinahe täglichen Attacken (3, 4). An der Entstehung von Mirgänekopfschmerzen sind periphere wie zentrale Sensitivierungsprozesse beteiligt, vaskulär wie auch neuronal (5). Die International Headache Society (IHS) unterscheidet in der ICHD-3 (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition) anhand der Anzahl Kopfschmerztage zwei Formen der Migräne: Eine chronische Migräne ist ein Kopfschmerz, der über mehr als 3 Monate an 15 oder mehr Tagen/Monat auftritt, wovon an mindestens 8 Tagen/Monat migränebedingt. Unter einer episodischen Migräne dagegen leidet ein Patient, wenn er an bis zu 14 Tagen im Monat migränebedingte Kopfschmerzen hat (6). Gemäss PD Dr. Andreas Gantenbein, Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft, Chefarzt Neurologie, Rehaclinic Zurzach, geht einer chronischen Migräne meist eine episodische Migräne voraus. Risikofaktoren für eine Chronifizierung sind neben nicht modifizierbaren Faktoren wie Alter und Geschlecht veränderbare Faktoren wie beispielsweise Kopfschmerzfrequenz, Medikamentenübergebrauch von Akutmitteln oder belastende Lebensereignisse. Auch Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Angst, Depression oder Übergewicht können dazu beitragen (7). Um einer Chronifizierung vorbeugen zu können, sollte die Therapie frühzeitig einsetzen (8). In der Regel sind die Schmerzen bei einer Migräneattacke so stark, dass Alltagsaktivitäten nur eingeschränkt oder gar nicht möglich sind. Die Migräne gilt als eine der weltweit häufigsten Ursachen für verlorene Lebensjahre, gemessen in DALY (disability-adjusted life years) (9). Spezifisch entwickelte Migränetherapie Mit den bis anhin verfügbaren Langzeittherapien wie beispielsweise Betablockern, Antidepressiva, Antikonvulsiva, Antihypertonika oder Kalziumantagonisten (10) können viele Migränepatienten nicht ausreichend behandelt werden. Mit der Entdeckung der Rolle des Botenstoffs CGRP (calcitonin gene-related peptide) in der Pathophysiologie der Migräne als potenter Vasodilatator, Mastzellendegra- nulator und Entzündungsmediator (11) wurde gemäss PD Dr. Christoph Schankin, Leiter der Kopfschmerz-Sprechstunde, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern, eine neue spezifische Substanzklasse zur Reduktion von Migräneattacken entwickelt. Bei Patienten mit chronischer Migräne ist der CGRP-Spiegel signifikant und anhaltend erhöht (5). Des Weiteren ist das CGRP an der Weiterleitung des Schmerzsignals, der Vasodilatation und der neurogenen Entzündung beteiligt. Durch die subkutane Injektion des CGRP-Antikörpers Fremanezumab (Ajovy®) kann das CGRP nicht an seinen Rezeptor binden, was zu einer reduzierten trigeminalen Aktivität führt (12). Fremanezumab hat eine Halbwertszeit von 30 Tagen, was eine monatliche Verabreichung (1 Injektion à 225mg) oder eine vierteljährliche Verabreichung (3 aufeinanderfolgende Injektionen à 225mg) erlaubt (13). Signifikant weniger Migränetage pro Monat Fremanezumab wurde im HALO-Studienprogramm in den doppelblind randomisierten Zulassungsstudien bei Patienten mit episodischer Migräne (HALO EM, n = 875) und bei Patienten mit chronischer Migräne (HALO CM, n = 1130) während jeweils 12 Wochen untersucht (14, 15). Dabei wurde in je 3 Gruppen eine monatliche Fremanezumabdosis (225 mg/Monat) mit einer Quartalsdosis (675 mg alle 3 Monate) versus Plazebo verglichen. Als primärer Endpunkt war die durchschnittliche Veränderung der monat­ lichen Migränetage beziehungsweise Kopfschmerztage definiert. Als sekundäre Endpunkte galten unter anderem der Anteil Patienten mit einer ≥ 50-prozentigen Reduktion der Migränetage sowie die Änderung des Medikamentenverbrauchs für akute Attacken (14, 15). In der HALO-EM-Studie nahmen die monatlichen Migränetage von etwa 9 Tagen Ausgangswert unter der monatlichen beziehungsweise 3-monatlichen Fremanezumabtherapie versus Plazebo signifikant ab (–3,7 bzw. –3,4 vs. –2,2 Tage; p < 0,001 vs. Plazebo). Die signifikante Abnahme trat unter den beiden CGRP-Antikörper-Therapien im Gegensatz zu Plazebo schon nach einer Woche ein und hielt bis zur 12. Woche an. Verglichen mit der konventionellen Therapie, die vielleicht nach 2 bis 3 Monaten eine Reduktion bewirke, sei das ein schneller Wirkungseintritt, so PD 44 wPPSSYYCCHHIAIATTRRIEIE++NNEEUURROOLLOOGGIEIE 3/2020 SONDERREPORT Dr. Andreas Gantenbein. Entsprechend sank unter dem Verum der Einsatz von akuten Kopfschmerzmitteln ebenfalls signifikant (14). In der HALO-CM-Studie mit Patienten mit chronischer Migräne sanken die Kopfschmerztage, ausgehend von etwa 13 Tagen, signifikant um 4,6 Tage (monatliche Dosis) und um 4,3 Tage (Quartalsdosis), verglichen mit 2,5 Tagen unter Plazebo (p < 0,001). Bei 40,8 Prozent der Patienten konnte die Anzahl der Kopfschmerztage mit der monatlichenVerabreichung halbiert werden (Quartalsdosis: 37,6%). Die migränebedingte Behinderung, erfasst anhand des HIT-6 (Headache Impact Test), verringerte sich gemäss den Patienten um 6,4 und 6,8 Punkte (vs. 4,5 unter Plazebo) ebenfalls signifikant (15). Im Anschluss an die 12-wöchigen HALO-Studien wurden die Patienten im Rahmen der offenen Extensionsstudie HALO LTS ein Jahr lang mit der monatlichen oder der Quartalsdosis weiterbehandelt, es wurden auch neue Patienten eingeschlossen. Dabei zeigte sich, dass die Wirksamkeit über den gesamten Behandlungszeitraum erhalten blieb. Bei der epiodischen Migräne (n = 780) sanken die monatlichen Migränetage gegenüber dem Anfangswert um 5,1 Tage (monatliche Dosis) beziehungsweise um 5,2 Tage unter der Quartalsdosis (16). Die 50-prozentige Responderrate stieg weiter an und lag nach einem Jahr bei 68 beziehungsweise 66 Prozent (16, 17) (Abbildung). Bei den Patienten mit chronischer Migräne (n = 1110) reduzierten sich die monatlichen Kopfschmerztage nach einem Jahr um 6,8 beziehungsweise 6,4 Tage, und die Responderrate stieg auf 57 beziehungsweise 53 Prozent (16). In den Studien zeigte Fremanezumab (Ajovy®) eine gute Verträglichkeit, die Nebenwirkungen bewegten sich auf Plazeboniveau, die Unterschiede in den 3 Behandlungsarmen waren nicht signifikant. Dabei waren die häufigsten Nebenwirkungen injektionsbedingt und vorübergehend und erforderten kein Absetzen des Arzneimittels (14–16). Anteil Patienten (%) HALO-Studie* 80 HALO-Langzeitstudie 60 40 47 44 48 47 51 49 63 56 64 58 61 59 60 65 68 66 20 0 Monat nach erster Injektion 1 2 3 1 Anzahl Patienten Fremanezumab Monatsdosis 287 274 263 382 Fremanezumab Quartalsdosis 288 274 269 391 Fremanezumab Monatsdosis * Doppelblinde, plazebokontrollierte Studie über 3 Monate. 2 3 6 12 372 361 338 299 379 371 347 313 Fremanezumab Quartalsdosis Hohe Ansprechraten unter Fremanezumab (Ajovy®) in der Langzeittherapie der episodischen Migräne (≥ 50% Reduktion der Migränetage) (18). Hilfe für therapieresistente Migränepatienten Im Praxisalltag gibt es viele Patienten, denen Migräneprophylaktika nicht helfen. In der FOCUS-Phase-IIIb-Studie wurden jene Patienten berücksichtigt, die zuvor auf 2 bis 4 prophylaktische Behandlungen ungenügend ansprachen. Diese (n = 838) erhielten doppelblind randomisiert Fremanezumab in monatlicher oder Quartalsdosis versus Plazebo während 12 Wochen. Auch bei diesen schwer zu behandelnden Patienten sanken die monatlichen Migränetage über 12 Wochen signifikant (–3,7 bzw. –4,1 vs. 0,6 Tage unter Plazebo) (18). Der Plazeboeffekt war in dieser Studie im Gegensatz zu den anderen Studien erstaunlich klein. Dies, weil die Erwartungshaltung bei dieser Patientengruppe, die schon vieles ausprobiert habe, vermutlich sehr tief sei, so PD Dr. Schankin abschliessend. Text: Valérie Herzog Redaktion: Dr. med. Christine Mücke Quelle: Mediengespräch «Migräneprophylaxe mit Fremanezumab – Aktuelles aus Wissenschaft und Praxis» (Teva) anlässlich der 3-Ländertagung Kopfschmerz, 26. Feburar 2020 in Wien. Dieser Bericht konnte mit freundlicher Unterstützung von Teva Pharma AG realisiert werden. Referenzen: 1. World Health Organisation: Headache disordes fact sheet/updated April 2016. https://www.who.int/ news-room/fact-sheets/detail/headache-disorders. Letzter Zugriff: 3.3.20. 2. Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. https://www.dgn.org/leitlinien/ 3583-II-030-057-2018-therapie-der-migraeneattackeund-prophylaxe-der-migraene. Letzter Zugriff: 3.3.20. 3. Lipton RB et al.: Migraine: epidemiology, impact and risk factors for progression. Headache 2005; 45 (Suppl 1): S3–S13. 4. Cho SJ et al.: Risk factors of chronic daily headache or chronic migraine. Curr Pain Headache Rep 2015; 19: 465. 5. Charles AC et al.: The Pathophysiology of migraine: implications for clinical management. Lancet Neurol 2018; 17: 174–182. 6. Headache Classification Committee of the international Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 2018; 38: 1–211. https://ichd-3.org/de/1migrane/1-3-chronische-migraene/. Letzter Zugriff: 3.3.20. 7. Lipton RB: Tracing transformation: chronic migraine classification, progression, and epidemiology. Neurology 2009; 72 (5 Suppl): S3–S7. 8. Bigal ME et al.: Acute migraine medications and evolution from episodic to chronic migraine: a longitudinal population-based study. Headache 2008; 48: 1157–1168. 9. Steiner TJ et al.: Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians now take notice? J Headache Pain 2018; 19: 17. 10. Schweizerische Kopfwehgesellschaft: Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen 2019. https:// www.headache.ch/DirectLinks/Therapieempfehlungen. Letzter Zugriff 3.3.20. 11. Raddant AC et al.: Calcitonin gene-related peptide in migraine: intersection of peripheral inflammation and central modulation. Expert Rv Mol Med 2011; 13: e36. 12. Messlinger K et al.: Neue Therapieoption bei Migräne. Nervenheilkunde 2016; 7/8: 492–500. 13. Fachinformation Ajovy®, www.swissmedicinfo.ch 14. Dodick DW et al.: Effect of fremanezumab compared with placebo for prevention of episodic migraine: a randomized clinical trial 15. Silberstein SD et al.: Fremanezumab for the preventive treatment of chronic migraine. N Engl J Med 2017; 377: 2113–2122. 16. Goadsby PJ et al.: Long-term efficacy and safety of fremanezumab in migraine: results of a 1-year study. E-Poster 015; presented at the 13th European Headache Federation (EHF) Congress 2019; Athens, Greece, May 30–June 1. 17. Brandes JL et al.: E-Poster 019; presented at the 13th European Headache Federation (EHF) Congress 2019; Athens, Greece, May 30–June 1. 18. Ferrari MD et al.: Fremanezumab versus placebo for migraine prevention in patients with documented failure to up to four migraine preventive medication classes (FOCUS): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3b trial. Lancet 2019; 319: 1030– 1040. Kurzfachinformation Ajovy®: Z: 1 Fertigspritze enthält 225 mg Fremanezumab in 1.5 ml Lösung (150 mg/ml). I: Prophylaktische Behandlung der Migräne bei Erwachsenen, sofern diese indiziert ist. D: 225 mg einmal monatlich oder 675 mg alle drei Monate. Spezielle Dosierungsanweisungen siehe Arzneimittelinformation. KI: Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder einem der Hilfsstoffe. V: Überempfindlichkeit, schwere kardiovaskuläre Erkrankungen. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. S/SZ: Sollte während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, es ist eindeutig notwendig. Anwendung während der Stillzeit nur in Betracht ziehen, falls dies klinisch erforderlich ist. UW: Sehr häufig: Schmerzen, Verhärtungen, Erythem. Häufig: Juckreiz. IA: Wird nicht von Cytochrom P450-Enzymen metabolisiert. Keine klinischen Studien durchgeführt. Liste: B. Weiterführende Informationen siehe Arzneimittelinformation www.swissmedicinfo.ch. [4419] 3/2020 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 45 PUBLIREPORTAGE Antipsychotika aus dem klinisch-pharmakologischen Blickwinkel: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Alle bis heute verfügbaren Antipsychotika binden in mehr oder minder starkem Ausmass an D2-artige Dopaminrezeptoren. Bis zur Einführung von Aripiprazol waren alle Substanzen Antagonisten (oder sogar inverse Agonisten) an diesen Rezeptoren. Diese blockieren den Rezeptor vollständig, wobei Substanzen mit hoher Affinität zum Rezeptor (z. B. Haloperidol, Risperidon) schon bei niedrigen Dosierungen antipsychotisch wirken, während Substanzen mit niedriger Affinität (z. B. Clozapin, Quetiapin) höher dosiert werden müssen. Um zu verstehen, wie partielle Dopaminrezeptoragonisten sich von Antagonisten unterscheiden, muss man sich zunächst veranschaulichen, welche Vorstellungen wir heute von der gestörten Neurobiologie bei Schizophrenien haben. Die Entwicklungshypothese der Schizophrenie In der ventralen Mittelhirnhaube (VTA = ventrales tegmentales Areal) des Menschen liegen die dopaminergen Neurone des mesokortikalen und des mesolimbischen Systems. Die mesolimbischen Neurone projizieren in die subkortikalen Kerne des limbischen Systems, z. B. das ventrale Striatum. Die mesokortikalen Neurone projizieren in den Kortex, vor allem präfrontal. Input bekommen diese dopaminergen Neurone von grossen glutamatergen Pyramidenzellen, deren Zellkörper im Kortex liegen. Das mesokortikale dopaminerge Neuron wird direkt durch die glutamaterge Zelle erregt, während das mesolimbische dopaminerge Neuron durch den glutamatergen Input gehemmt wird, weil hier ein gabaerges Interneuron zwischengeschaltet ist, das die Aktivität des dopaminergen Neurons reduziert (Abbildung 1). Wir gehen heute davon aus, dass die glutamaterge Neurotransmission über den NMDA-Rezeptor bei Schizophrenien reduziert ist. Durch diese Hypofunktion kommt es zu einer verminderten Erregung des mesokortikalen dopaminergen Neurons und folglich zu einer reduzierten Dopaminfreisetzung im präfrontalen Kortex. Mit dieser Störung assoziieren wir Negativsymptome und kognitive Störungen. Auf der anderen Seite führt die reduzierte glutamaterge Neurotransmission zu einer verminderten Stimulation gabaerger Interneurone, die auf das mesolimbische dopaminerge Neuron projizieren. Dadurch kommt es zu einer Enthemmung dieser Neurone und folglich zu einem Dopaminexzess in limbischen Hirnregionen. Mit diesem assoziieren wir die Positivsymptome der Schizophrenie (Abbildung 2). Wir stehen damit vor der therapeutisch schwierigen Situation, dass wir im gleichen Gehirn gleichzeitig hyper- und hypofunktionelle dopaminerge Systeme vorfinden. Beziehung zwischen striataler D2-Rezeptorbesetzung und klinischen Wirkungen Mit Dopaminantagonisten reduzieren wir effektiv den Dopaminexzess in mesolimbischen dopaminergen Projektionen. Gleichzeitig blockieren wir jedoch auch die dopaminerge Neurotransmission im nigrostriatalen System. Hier führt die Blockade zu motorischen Störungen. Aus Untersuchungen mit der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) wissen wir, dass ab einer Blockade von etwa 80 Prozent der D2-artigen Dopaminrezeptoren im Striatum extrapyramidalmotorische Störungen auftreten. Blockieren wir auf der anderen Seite jedoch zu wenig Dopaminrezeptoren, bleibt die antipsychotische Wirkung aus. Der optimale Antagonismus von D2-Rezeptoren liegt im Bereich zwischen 65 und 80 Prozent. Partialagonisten passen sich dem individuellen neurochemischen Bedarf an Partielle Rezeptoragonisten wirken in einem System der gesteigerten Neurotransmission als Antagonisten, während sie in einem System, in dem die Neurotransmission reduziert ist, agonistische Wirkungen entfalten. Partielle Dopaminrezeptoragonisten stellen daher eigentlich ideale Substanzen für die Behandlung von Schizophrenien Abbildung 1: Vereinfachtes Schema der Interaktion zwischen glutamatergen Neuronen (rot) im Kortex und dopaminergen Neuronen in der ventralen Mittelhirnhaube (gelb). Situation im gesunden Gehirn. Erläuterung im Text. Modifiziert nach Carlsson, 1988. GLU: Glutamat; DA: Dopamin; MC: mesokortikal; ML: mesolimbisch; PPT: Pedunculopontiner Tegmentaler Nukleus 46 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 3/2020 BUCHTIPPS Raus in die Wildnis Ralph Müller: Raus in die Wildnis. 248 Seiten, gebunden. AT Verlag. ISBN: 978-3-03800-048-8. Preis: Fr. 29.90. Ein Wochenende unter freiem Himmel in den heimischen Wäldern oder eine mehrwöchige Kanutour in Schweden oder Kanada – Zeit in der Wildnis zu verbringen, ihre Stille, Einfachheit und Ursprünglichkeit zu geniessen, ist eine heimliche Sehnsucht vieler Menschen. Den passenden Lagerplatz finden, morgens einfach in den Fluss springen, einen Fisch fangen und am Lagerfeuer braten, Wildpflanzen für die Wundpflege nutzen, Trinkwasser bereiten, Tierspuren lesen. Dieses Buch verbindet das alte Wildniswissen unserer Vorfahren mit moderner Outdoortechnik und vermittelt einfaches und praktisches Wildnis-Know-how für das Abenteuer draussen in der Natur. Was braucht es wirklich an moderner Ausrüstung? Wie kann man das, was die Natur bietet, direkt nutzen? Feuer, Trinkwasser, Knotentechnik, Holzverarbeitung, das Wissen über essbare Wild- und Medizinpflanzen, Spurenlesen, Fischen und Jagen, Lagerbau – kurz: alles für ein sicheres und entspanntes Unterwegssein in der Wildnis. Begleitet von selbst erlebten Geschichten aus der langjährigen Wildniserfahrung des Autors. Woher wissen Wurzeln, wo unten ist? Andreas Barlage: Woher wissen Wurzeln, wo unten ist? Wissenswertes und Kurioses rund um den Garten. 184 Seiten, Hardcover, mit zahlreichen Abbildungen. Thorbecke Verlag. ISBN: 978-3-7995-1330-2. Preis: 22 Euro. Wo sind eigentlich die Insekten im Winter? Wachsen Pflanzen besser, wenn ich mit ihnen spreche? Kann eine Pflanze einen Sonnenbrand bekommen? Wieso wächst das Unkraut irgendwie immer besser als die eigens angepflanzten Blumen? Solche und ähnliche Fragen stellt sich jeder begeisterte (Hobby-) Gärtner immer wieder. Andreas Barlage beantwortet diese und viele weitere Fragen und widerlegt unterhaltsam und kurzweilig Ammenmärchen und Mythen aus der Pflanzenwelt dank seines umfangreichen Wissens aus der eigenen Gartenpraxis. Simply Clean Becky Rapinchuk: Simply Clean. Die bewährte 10-Minuten-Methode für ein sauberes, gut organisiertes und schönes Zuhause. 296 Seiten, gebunden. Unimedica Verlag. ISBN: 978-3-96257-070-5. Preis: Fr. 22.20. Braucht es wirklich nur 10 Minuten täglich, um sein zuhause sauber und ordentlich zu halten? Becky Rapinchuk liefert den Beweis! Ihr Buch ist DER Ratgeber, um aus jedem noch so chaotischen Haushalt schnell und einfach eine saubere, aufgeräumte Wohlfühloase zu machen. Volle Terminkalender, zu viel Arbeit – diese Ausreden lässt «Haushaltsexpertin» Becky Rapinchuk beim Thema Saubermachen nicht gelten! Die angesagte Clean-Mama-Bloggerin ist dreifache Mutter. Der Ratgeber der viel beschäftigten Autorin bietet Strategien und praktische Tipps, um im täglichen Kampf gegen Wollmäuse und Dreckecken die Oberhand zu behalten. Gut durchdachte Wochen- und Vier-Wochen-Checklisten schärfen beim Putzen und Aufräumen den Blick für das Wesentliche. Unnötige Tätigkeiten fallen weg, und Ordnunghalten wird zum echten Zeitgewinn. Die Kunst des Wegwerfens Nagisa Tatsumi: Die Kunst des Wegwerfens. Wie man sich von unnötigem Ballast befreit und dadurch mehr Freude am Leben hat. 160 Seiten, kartoniert. 150 Seiten. ISBN: 978-3-96257-065-1. Preis: Fr. 18.90. Erfahren Sie, weshalb wir zwanghaft Berge nutzloser Gegenstände anhäufen, warum es uns schwerfällt, überflüssige Dinge wegzuwerfen, und wie wir lernen, konsequent auszusortieren und unser Leben zu entschlacken Nagisa Tatsumi zeigt, dass man sich mit ein paar Tricks vom Ballast überflüssiger Sachen nachhaltig befreien kann. Zehn einfache Grundregeln führen in die Kunst des Entrümpelns ohne Reue ein. Praktische Tipps erleichtern das Aussortieren und das ressourcenschonende Entsorgen. Ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich innerlich wie äusserlich mehr Leichtigkeit und Ordnung in ihrem Leben wünschen. Die Kunst des Wegwerfens wurzelt tief im japanischen Minimalismus und schärft den Blick für die Dinge, die wirklich glücklich machen. Das hässliche Universum Sabine Hossenfelder: Das hässliche Universum. Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt. 368 Seiten, Hardcover. S. Fischer Verlag. ISBN: 978-3-10-397246-7. Preis: 22 Euro. Physiker glauben häufig, dass die besten Theorien schön, natürlich und elegant sind. Was schön ist, muss wahr sein, Schönheit unterscheidet erfolgreiche Theorien von schlechten. Sabine Hossenfelder zeigt jedoch, dass die Physik sich damit verrannt hat: Durch das Festhalten am Primat der Schönheit gibt es seit mehr als vier Jahrzehnten keinen Durchbruch in der Grundlagenphysik. Schlimmer noch, der Glaube an Schönheit ist so dogmatisch geworden, dass er nun in Konflikt mit wissenschaftlicher Objektivität gerät: Beobachtungen können nicht mehr länger die kühnsten Theorien wie z.B. Supersymmetrie bestätigen. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, muss die Physik ihre Methoden überdenken. Nur wenn Realität als das akzeptiert wird, was sie ist, kann Wissenschaft die Wahrheit erkennen. Haarig! Anka Schmid, Bernd Müllender: Haarig! Revolte, Magie, Erotik. 272 Seiten, ca. 60 Abbildungen und Collagen, gebunden, geprägter Pappband mit transparentem Schutzumschlag. Edition Zeitblende. ISBN: 978-3-03800-033-4. Preis: Fr. 45.–. Angeregt durch die persönlichen Erfahrungen der Filmemacherin und Autorin Anka Schmid, führt uns das Buch mit Wort und Bild durch die haarige Geschichte unseres Zeitalters. Von Geburt an sind Haare allgegenwärtig: Zuerst am Kopf, später spriessen sie an intimeren Körperstellen, sie dienen als politisches Statement, zur Verführung und zum Protest, werden allmählich grau, und selbst wenn sie ausfallen, bleiben sie Thema. Voller Sinnlichkeit und Humor werden die behaarten Körperregionen erkundet und im Spiegel von Mode, Kunst und Politik gezeigt. Die persönliche Sichtweise wird durch vertiefte kulturhistorische und wissenschaftliche Betrachtungen des Journalisten Bernd Müllender ergänzt – über haarige Redensarten in 15 Sprachen, Glatzen und Bärte, die Grotesken der Friseurnamen von Bonschur bis Schnittstelle, Fussballer als Role Models, Intimrasuren und Perückenmode. Eine fesselnde Bestandsaufnahme zum feinsten menschlichen Körperteil wird zu einem sinnlichen Buch voller haarsträubender (Selbst-)Erkenntnisse. Schwarzweissbuch Milch Thomas Stollenwerk: Schwarzweissbuch Milch. 192 Seiten, Klappenbroschur. Residenz Verlag. ISBN: 978-3-7017-3473-3. Preis: 19 Euro. Milch gilt vor allem in der westlichen Welt traditionell als gesundes Grundnahrungsmittel, doch hat sich ihr Image in den letzten Jahren stark gewandelt. Seit dem Wegfall der EU-Milchquoten setzt die Milchwirtschaft auf Produktionssteigerung und auf die Erschliessung neuer Märkte, vor allem im asiatischen Raum. Mit dem Wachstum ändern sich die Methoden der Tierhaltung. Die rasante Entwicklung teilt die Milchproduzenten in Verlierer und Profiteure des Strukturwandels. Doch welche Form der Milchproduktion wünschen sich Bauern und Verbraucher? Wie gesund ist Milch wirklich? Wieso boomt Milch überhaupt? Was sind die Licht- und Schattenseiten dieser Industrie? Thomas Stollenwerk hat ein Schwarzweissbuch über Milch geschrieben, das keine Fragen mehr offenlässt. Der Esel in tiergestützten Interventionen Judith Schmidt: Der Esel in tiergestützten Interventionen. 153 Seiten, kartoniert, mit zahlreichen Fotos. Reinhardt Verlag. ISBN: 978-3-497-02843-6. Preis: 24.90 Euro. Der Esel boomt! Sein sympathisches Äusseres und seine Gelassenheit wirken beruhigend auf Menschen – daher wird er auch vermehrt bei tiergestützten Aktivitäten eingesetzt. Das Buch vermittelt Basiswissen über Esel, warum sich welches Tier (Rasse, Grösse, Alter, Geschlecht) für welche Zielgruppen besonders gut eignet – aber auch, welche Grenzen es gibt. Neben den unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten für die eselgestützte Intervention werden auch Rechtsfragen geklärt, Fallbeispiele mit vielen Fotos veranschaulichen die praktische Arbeit. Die Autorin gibt hier ihr Wissen aus jahrelanger Erfahrung in der Arbeit mit Eseln weiter und lenkt den Blick auf die vielfältigen Talente der Esel, die den meisten Menschen in der tiergestützten Arbeit bisher vielleicht noch nicht bekannt waren. PUBLIREPORTAGE dar, da sie in mesolimbischen Hirnregionen als Antagonisten wirken und daher Positivsymptome reduzieren, jedoch mesokortikal eine agonistische Wirkung entfalten sollten. Hier ist jedoch festzuhalten, dass Dopaminrezeptoren im Kortex ganz überwiegend vom D1-Typ sind, während die verfügbaren Dopaminrezeptoragonisten an diesen Rezeptortyp nicht wesentlich binden. Sie sind partielle Agonisten an D2- und D3-Rezeptoren. Deshalb liegen beispielsweise für Aripiprazol bis heute keine Studien vor, die eine überlegene Wirksamkeit dieser Substanz bei Negativsymptomatik gezeigt hätten. Ebenfalls aus PET-Studien wissen wir, dass die verfügbaren Medikamente alle nur dann gegen Positivsymptome wirksam sind, wenn nahezu sämtliche D2-Rezeptoren durch das Arzneimittel besetzt sind. Das gilt für Aripiprazol, das diesem sehr ähnliche Brexpiprazol und auch für Cariprazin. Alle drei Substanzen binden mit sehr hoher Affinität an D2-Rezeptoren. Was Cariprazin von den beiden anderen Substanzen unterscheidet, ist seine präferenzielle Bindung an den D3-Dopaminrezeptor. Cariprazin hat eine 6- bis 8-fach höhere Affinität zu D3- als zu D2-Rezeptoren. Kein anderes verfügbares Antipsychotikum ist durch eine derartige präferenzielle Bindung an D3- über D2-Rezeptoren ausgezeichnet. Auch dies hat man mit PET-Studien am Menschen zeigen können (Girgis et al., 2016). Cariprazin hat eine lange Eliminationshalbwertszeit von 2 bis 4 Tagen, die Halbwertszeit des Hauptmetaboliten Didesmethylcariprazin (DDCAR) beträgt sogar bis zu drei Wochen. Ein Gleichgewicht stellt sich demzufolge nur langsam ein. Auch hier haben PET-Studien jedoch gezeigt, dass wegen der sehr hohen Affinität der Substanz schon nach einer ersten Dosis von nur 1,5 mg bereits 50 bis 60% der D2-Rezeptoren im Hirn des Patienten besetzt sind. Selbst bei langsamer Aufdosierung sind nach wenigen Tagen alle Rezeptoren besetzt. Dass sich also ein Steady-State nur langsam einstellt, bedeutet nicht, dass auch eine antipsychotische Wirkung verzögert eintritt. Die lange Halbwertszeit von DDCAR bringt es jedoch mit sich, dass nach Abbildung 2: Vereinfachtes Schema der Interaktion zwischen glutamatergen Neuronen (rot) im Kortex und dopaminergen Neuronen in der ventralen Mittelhirnhaube (gelb). Situation im Gehirn des Patienten mit einer Schizophrenie. Erläuterung im Text. Modifiziert nach Carlsson, 1988. GLU: Glutamat; DA: Dopamin; MC: mesokortikal; ML: mesolimbisch; PPT: Pedunculopontiner Tegmentaler Nukleus Absetzen des Arzneimittels noch viele Tage lang mit einer hohen Besetzung von Dopaminrezeptoren im Hirn des Patienten zu rechnen ist (Girgis et al., 2016). Welche Konsequenzen hat nun die hohe Bindung von Cariprazin an den D3-Rezeptor? Der D3-Rezeptor ist ein Autorezeptor. Über diesen Rezeptor wird die Aktivität der dopaminergen Neurone im VTA reguliert. Wird nun dieser Rezeptor auf dem mesokortikalen dopaminergen Neuron durch die Substanz blockiert, kommt es zu einer Dopaminfreisetzung im präfrontalen Kortex und damit zu einer Stimulation von D1-Rezeptoren (Abbildung 2). Genau damit erklärt man sich die positiven Wirkungen von Cariprazin auf die mit Schizophrenien assoziierte Negativsymptomatik. In einer wegweisenden Doppelblindstudie mit fast 500 Patienten konnte die überlegene Wirksamkeit von Cariprazin über Risperidon bei Patienten mit prädominanter Negativsymptomatik nachgewiesen werden (Németh et al., 2017). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Cariprazin ein partieller Agonist an D2- und D3Dopaminrezeptoren mit bis zu 10-fach höherer Affinität zu D3- als zu D2-Rezeptoren ist. Die präferenzielle Bindung an D3-Rezeptoren könnte die günstige Wirkung auf Negativsymptome (und ggf. auch kognitive Störungen) bedingen. Prof. Dr. Gerhard Gründer Leitung Abteilung Molekulares Neuroimaging Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim Literatur: Carlsson A: The current status of the dopamine hypothesis of schizophrenia. Neuropsychopharmacology 1988; 1: 179-186. Girgis RR et al.: Preferential binding to dopamine D3 over D2 receptors by cariprazine in patients with schizophrenia using PET with the D3/D2 receptor ligand [(11)C]-(+)PHNO. Psychopharmacology (Berl) 2016; 233: 3503–3512. Németh G et al.: Cariprazine versus risperidone monotherapy for treatment of predominant negative symptoms in patients with schizophrenia: a randomised, double-blind, controlled trial. Lancet 2017; 389: 1103–1113. Die Verantwortung für den Beitrag liegt beim Autor. Die Publikation wurde durch Recordati unterstützt. 48 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 3/2020 www.rosenfluh.ch Nutzen Sie unser umfangreiches Online-Archiv für einen Kongressbesuch: 2019 Dezember 55. Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 16. bis 20. September 2019 in Barcelona Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 31. August bis 4. September 2019 in Paris CongressSelection Diabetologie/Kardiologie vom 55. Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) sowie dem Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2019 EASD Interview mit Prof. Roger Lehmann: Die Zeit ist reif für Veränderungen GLP-1-Rezeptor-Agonisten: Welche klinisch relevanten Unterschiede es gibt Hoffnung für Typ-2-Diabetiker mit Nierenerkrankung ESC Interview mit Prof. Marco Roffi: Der kardiologische Nabel der Welt war Paris Neue ESC-Lipid-Guideline: LDL-C-Zielwerte wurden gesenkt Stabile KHK heisst neu chronisches Koronarsyndrom 2020 Januar 28. Kongress der European Academy of Dermatology and Venereology (EADV) 9. bis 13. Oktober 2019 in Madrid CongressSelection Dermatologie vom 28. Kongress der European Academy of Dermatology and Venereology (EADV) Gezielte Behandlung unterschiedlicher Psoriasisformen Atopische Dermatitis – immer mehr innovative Therapien Optimierung der Therapie bei chronisch spontaner Urtikaria Vitiligo – neue Therapiehorizonte Neuer Schweizer Akne-Konsensus DERMATOLOGIE 2020 Januar UEG-Week – United European Gastroenterology Week 21. bis 23. Oktober 2019 in Barcelona CongressSelection Gastroenterologie von der United European Gastroenterology Week 2019 in Barcelona Interview mit Prof. Gerhard Rogler: «Man muss sich bei der Behandlung Zeit lassen» Morbus Crohn: Tipps zur Therapiestrategie Obstipation – Fragen Sie nach dem Schmerz Reizdarmtherapie je nach Syndromtyp Remission bei eosinophiler Ösophagitis erreichbar Behandlungsoptionen bei Colitis ulcerosa Sie können online alle Artikel einzeln herunterladen, nach kostenloser Anmeldung in kompletten Ausgaben blättern – und natürlich auch einzelne Ausgaben, ein Abonnement oder unseren Newsletter bestellen. zur Newsletterbestellung: Den Unterricht im Griff trotz Depression. Brintellix® Verbessert Stimmung, Konzentration sowie Antrieb und kann helfen, im Alltag wieder zurechtzukommen.1 Brintellix® (Vortioxetin). I: Behandlung von depressiven Episoden bei Erwachsenen (‚Major Depressive Episodes‘) sowie anschliessende Erhaltungstherapie bei Patienten, deren depressive Symptomatik in der Akutbehandlung gut auf Brintellix angesprochen hat. D: Die empfohlene Dosierung ist 10 mg pro Tag für Erwachsene < 65 Jahren, mit oder ohne Nahrung eingenommen. Die Dosis kann auf max. 20 mg pro Tag oder auf min. 5mg pro Tag eingestellt werden. KI: Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der Hilfsstoffe. Gleichzeitige Anwendung mit nicht-selektiven Monoaminoxidase-Hemmern (MAO) oder selektiven MAO-A Hemmern. VM: Kinder und Jugendliche, Suizidversuche/Suizidgedanken, Krampfanfälle, Serotonin-Syndrom oder Malignes Neuroleptisches Syndrom, Manie/Hypomanie, Hämorrhagie, Hyponatriämie, ältere Patienten, Patienten mit Nieren- oder Lebererkrankungen. IA: irreversible, nicht-selektive MAO-Hemmer, reversible, selektive MAO-A Hemmer (Moclobemid), reversible, nicht-selektive MAO-Hemmer (Linezolid), irreversible, selektive MAO-B Hemmer (Selegilin, Rasagilin), serotonerge Arzneimittel, Johanniskraut, Krampfschwellen-senkende Arzneimittel, Elektrokrampf-Therapie, Cytochrom P-450 Hemmer (starke CYP2D6-Hemmer (z.B. Bupropion, Chinidin, Fluoxetin, Paroxetin)), Cytochrom P-450 Induktoren (z.B. Rifampicin, Carbamazepin, Phenytoin), Antikoagulantien und Thrombozytenhemmer, Lithium, Tryptophan. SS/S: nicht empfohlen. UAW: sehr häufig: Nausea; häufig: abnormale Träume, Schwindel, Durchfall, Obstipation, Erbrechen, (generalisierter) Pruritus. P: Filmtabletten zu 5 mg: 28 [B], 10 mg und 20 mg: 28, 98 und Klinikpackung zu 9x7 [B]. Tropfen zum Einnehmen 20mg/ml (10.1% V/V Alkohol): 15 ml [B]. Zur Zeit nicht im Handel: Tabletten 15 mg: 28, 98. Kassenzulässig. Die vollständige Fachinformation ist unter www.swissmedicinfo.ch publiziert. Lundbeck (Schweiz) AG, Opfikon, www.lundbeck.ch 20082018FI Ref. 1. Fachinformation Brintellix®: www.swissmedicinfo.ch Lundbeck (Schweiz) AG, Balz-Zimmermann-Strasse 7, Postfach 5, CH-8058 Zürich-Flughafen, Tel. 058 269 81 81, Fax 058 269 81 82, www.lundbeck.ch CH-BRIN-0437 01/20