Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Im Zusammenhang mit den Riesensummen, die wir für den Schutz vor dem Coronavirus ausgeben, war zu lesen: «Unsere Gesellschaft hat verlernt, mit dem Tod umzugehen. Es gilt offenkundig nur eine Devise: Langes Leben, am liebsten Unsterblichkeit, koste es, was es wolle! Wer sagt: ’Der Tod gehört zum Leben’, gilt als amoralischer Menschenverächter.» (Ruedi Noser) Man kann diese Sätze für richtig und angemessen halten, als berechtigte Kulturkritik, als zutreffende Beschreibung der psychischen Verfassung unserer Gesellschaft. Ja, ja, stimmt, wir haben den Tod verbannt aus unserem Bewusstsein. Aber ihn genau dann wieder als Teil des Lebens zu entdecken und zu thematisieren, wenn er vor allem andere – Alte und Vorerkrankte – betrifft und die Nichtbetroffenen viel Geld kostet, ist ziemlich billig.
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Werbung eines Coiffeurs nach Beendigung des Lockdowns: «Yes, we kämm!»
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TikTok kennen Sie, oder? Nein? Noch nie gehört? TikTok, das chinesische Videoportal, 2016 gegründet. Es gehört einem chinesischen Investor und ist einer der Instagram-Nachfolger (Instagram = «Facebook für Junge»). Noch dominieren zwar Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat (und Whatsapp sowieso), aber TikTok ist inzwischen das am schnellsten wachsende soziale Medium der Welt. Nicht nur in China. Die Zahl der App-Downloads hat inzwischen die 2-Milliarden-Grenze überschritten. Längst ist es auch auf Millionen europäischen Smartphones installiert. Das Lustige daran: Wir hier in Kerneuropa machen uns Sorgen über eine CoronaTracing-App, die feststellen kann, ob wir uns mehr als 10 Minuten in der Nähe eines mit SARS-CoV-2-Infizierten aufgehalten haben. Das wäre nützlich, total anonym und täte nicht weh. Und stösst
trotzdem auf Misstrauen. Dabei realisieren wir nicht, dass der chinesische TikTok-Investor längst in unseren Kinderzimmern hockt und ungehindert und unbelästigt vom Bedürfnis nach Datenschutz Unmengen an Daten sammelt über die Kids und ihre Eltern auf der ganzen Welt.
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Dazu passend: Niemals, meint Marcel, der nette Datenschutzfetischist, werde er die Tracing-App auf sein Handy laden. Auch nicht freiwillig. Was er nicht sagt, vermutlich nicht einmal denkt: Es genügt, wenn die Entwickler und Verkäufer der 97 Apps auf seinem Smartphone und dazu Facebook, Google, Amazon, die Wetterleute und eigentlich jeder, von dem er sich eine App hat aufschwatzen lassen, Bescheid wissen, wann er sich wo wie lange aufgehalten, wieviel er womit wann wofür bezahlt und in der Nähe von wem er sich wie lange aufgehalten hat – da versteht man doch, dass er nicht zusätzlich noch akzeptieren möchte, dass eine Tracing-App erfährt, ob er einem Coronainfizierten begegnet ist.
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Nochmals etwas Coronafreies? Voilà, ein erhellender Kommentar eines Dominikanerpaters nach einer Begegnung mit … (nein, anstandshalber sei der Name der Dame hier nicht genannt): «Ich muss Ihnen sagen, die Frau wirkt auf mich hochgradig zölibatverstärkend.»
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«Man rühme nicht als Sittlichkeit den Mangel an Gelegenheit.» Hat nichts mit Corona zu tun und ist überhaupt nicht neu, darf aber mal wieder zitiert werden.
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Diskriminierung sei ganz normal, meint Onkel Hugo – aus Erfahrung, wie
er, mit schütter gewordenem Haar, hinzufügt: Der Hamster, der gerne als Gazelle unterwegs wäre, hat keine Wahl. Und klar kann man Mitleid haben mit allen Giraffen, die von einem Leben als Delphine träumen. Aber man kann ihnen nicht helfen.
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Man kann Statistik auch so lesen – und manche tun das: Bis anfangs Juni 2020 sind auf der ganzen Welt etwa 25‘000‘000 Menschen gestorben (Quelle: worldometer). Da fallen 400‘000 Coronatote selbstverständlich nicht auf. Genauso wie die 220‘000, die im Jahr 2004 durch einen Tsunami umkamen, statistisch kaum Relevanz erlangten. Was also sollen 2000 Tote an Corona in der Schweiz? Von Übersterblichkeit keine Spur. Wer so argumentiert, hat zwar recht. Aber er hat nicht begriffen, dass im globalen Kontext fast gar nichts wichtig ist. Dass Ende Jahr nicht einmal 8 Millionen tote Schweizer für die Statistik der weltweiten Sterblichkeit von Belang wären. Für die Schweiz hingegen schon. Auch 114 Tote in Woche 14/20 im Tessin im Vergleich zu 46 im Vorjahr (beziehungsweise 65 in Woche 11/20 anstelle von 39, 64 in Woche 12/20 anstelle von 33, 88 in Woche 13/20 statt 47, 90 in Woche 15/20 statt 49 oder 55 in Woche 16/20 statt 40 – summa summarum also 478 anstelle von 254 Toten in knapp zwei Monaten) sind für einen kleinen Kanton eben sehr wohl von Bedeutung. Gewisse Vergleiche sind eben absolut sinnlos, zum Beispiel fehlende «Übersterblichkeit» unter Verweis auf die weltweite Todesstatistik.
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Und das meint Walti: Der Vater pupst, die Kinder lachen, so kann man doch mit kleinen Dingen vielen Leuten Freude machen.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 11+12 | 2020