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FORTBILDUNG
Komplementärmedizinische Behandlung von Kopfschmerz am Beispiel der Akupunktur
Akupunktur ist in Europa die bekannteste und verbreitetste Behandlungsart der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). Bei der Vorbeugung des Spannungskopfschmerzes und der episodischen Migräne ist die Akupunktur inzwischen mit guter Evidenz belegt (1, 2).
Saroj K. Pradhan
von Saroj K. Pradhan
Geschichte der Akupunktur
I m «Klassiker des Gelben Kaisers» (Ling Shu, ca. 100–200 v. Chr.) wird zum ersten Mal strukturiert das Kernwissen der Akupunktur dargestellt. Nebst Pathologie, Diagnose und Therapieverfahren werden in diesem Buch neun Arten von Akupunkturnadeln, ihre Formen, Grössen und Anwendungen beschrieben (3). Dieses sind die Dreikant-, Rund-, Druck-, Spitzkant-, Schwertform-, Scharf-, Haardünn-, Lang- und Grossnadeln (4). Jede Nadelform wurde zur Behandlung von spezifischen Krankheitsbildern verwendet. Im 16. Jahrhundert n. Chr. wurde die Akupunktur als Erstes in Japan und Korea bekannt, danach verbreitete sie sich langsam nach Europa und Nordamerika (5). Der Mechanismus der Akupunktur ist schwer zu untersuchen, ihre genaue Wirkungsweise ist noch nicht vollständig verstanden. Im TCM-Verständnis ist der Mensch gesund, wenn die Energie (Qi) im Körper voll ist und sie frei in den Energiebahnen fliesst. Ursache aller Beschwerden sind Störungen durch Blockaden von Qi oder Qi-Mangel im Körper. Durch das exakte Punktieren und die Stimulation von ausgewählten Akupunkturpunkten können Blockaden in den Energiebahnen gelöst, das Gleichgewicht im Körper wiederhergestellt und eine Genesung herbeigeführt werden. Tao Gu et al. (2018) konnten in ihrer Studie über Akupunktur bei Migräne mit MR-Spektroskopie zum ersten Mal biochemische Veränderungen im Gehirn mit einem signifikanten Anstieg von N-Acetylaspartat/Kreatin im bilateralen Thalamus nachweisen (6).
Akupunktur bei Kopfschmerzen Die 2018 veröffentlichte, derzeit gültige internationale Kopfschmerzklassifikation («International Classification of Headache Disorders» [ICHD-3]) unterscheidet in der westlichen Medizin über 300 verschiedene Formen dieser Erkrankung (7), wobei im klinischen Kontext bei den primären Kopfschmerzen die Migräne und der Clusterkopfschmerz und bei den sekundären der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz im Vordergrund stehen (8). Die Akupunktur ist bei der Vorbeugung des Spannungskopfschmerzes und der episodischen Migräne inzwischen mit guter Evidenz belegt (1, 2). Die Diagnosestellung in der TCM erfolgt mittels TCMSyndrom-Differenzierung. Diese setzt sich zusammen aus Beobachten, Hören, Riechen, Befragen, Tasten, Zungen- und Pulsdiagnose. Bei Kopfschmerzen werden die Patienten nach Konstitutionstyp, Gesichtsfarbe und Zustand der Vitalität im Gesicht beobachtet. Die Befragung nach der Schmerzlokalisation ist zur Feststellung der betroffenen Energiebahn/en wichtig. Bei einer Qi-Stagnation sind die Schmerzen eher leicht, sie wandern und fühlen sich stechend an. Die Schmerzen bei einer Blutstagnation sind dumpf, stark und nur an einer bestimmten Stelle vorhanden. Die Zunge reflektiert die TCM-Systemorgane und gibt Auskunft über den Zustand dieser Organe. Ihre Beschaffenheit und der Belag geben u. a. Hinweise über Blut, Qi-Mangel, Kälte und Hitze im Körper. Wie bei der Zungendiagnose gibt die Pulsqualität Auskunft über Blut, Qi und den Zustand aller TCM-Organe. An beiden Unterarmen wird die A. radialis distal mittels Zeige-, Mittel- und Ringfinger in drei Druckebenen (oberflächlich, mittel und tief ) palpiert. Dabei werden mehr als 28 Pulsqualitäten wie rau, fein, langsam, schnell, saitenförmig, dünn usw. unterschieden.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Chinesische Leitbahnenlehre Nach der chinesischen Leitbahnenlehre entstehen Kopfschmerzen, wenn folgende Leitbahnen in Disharmonie sind: G Yang Ming (Dickdarm-Magen-Leitbahn): Betroffene
Patienten leiden auch oft an Verdauungsstörung. Die Symptome sind frontal, vergleichbar mit Spannungskopfschmerz. G Shao Yang (Dreifach-Erwärmer/Gallenblase-Leitbahn): Die Schmerzen treten temporal auf und ähneln einer Migräne. Die betroffenen Patienten sind meistens emotional instabil. G Tai Yang (Dünndarm-Blase-Leitbahn, oft mit Wirbelsäulenbeschwerden verbunden): Die Patienten klagen über Schmerzen im okzipitalen Bereich, ähnlich wie bei einer Okzipitalisneuralgie. G Jue Ying (Perikard-Leber-Leitbahn): Die Schmerzen sind parietal, und die Patienten fühlen sich allgemein schwach. Es existieren ausser der klassischen Akupunkturmethoden auch andere Akupunkturmethoden, die bei Kopfschmerzen eingesetzt werden. Der französische Allgemeinarzt Paul Nogier entdeckte in den Fünfzigerjahren die Ohrsomatotopie, eine Darstellung des umgekehrten Fetus am Ohr (9). Zusammen mit Frank Bahr aus München und Rene Bourdiol aus Paris wurde eine umfangreiche Ohrkartografie ausgearbeitet, und es entstand das Werk «Loci auriculo medicinae» (9). Toshikatsu Yamamoto entwickelte die «Yamamoto Neue Schädelakupunktur», welche bei Schmerzpatienten eingesetzt wird (10). Erstere Methode verwendet Zonen am Ohr, Letztere überwiegend Areale am Kopf, um Beschwerdebilder zu therapieren. Bei Patienten mit Nadelphobie wird die Laserakupunktur eingesetzt. Jeder einzelne Applikator kann unterschiedliche Wellenlängen erzeugen, die Akupunkturpunkte dadurch stimulieren und Krankheiten behandeln (11). In der neueren Zeit werden traditionelle chinesische Akupunkturmethoden weiterentwickelt. Für Kopfschmerzen bieten sich die Akupunkturmethoden Jiu Cang Zhen (neun speichernde Akupunktur) und Huang Guan (Kaiserkrone) an. Bei der ersten Technik wird am Abdomen mit zwölf Nadeln von Tian Shu (Ma 25) gestochen. Acht werden auf dem äusseren Radius in Richtung Bauchnabel gesetzt, während die vier Akupunkturnadeln im inneren Radius auf den äusseren Radius gerichtet sind (12). Bei der Huang-Guan-Technik werden fünf Nadeln frontal am Haaransatz gesetzt (13). Diese Methoden zielen darauf ab, die Energie (Qi) im Kopf und im Bauchbereich zu harmonisieren, Blockaden der Energiebahnen zu lösen, um schmerzlindernde Effekte zu erzielen.
Neben der Akupunktur empfiehlt der TCM-Arzt Patien-
ten zur Pflege des Lebens auch ausgleichende Bewe-
gung, Sport wie Tai-Chi und Qigong, regelmässige
warme Mahlzeiten und Getränke. Aber die Patienten
sollten auch darauf achten, die Energie im Körper zu
halten und z. B. offene Kragen und nasse Haare nach
dem Duschen zu vermeiden, nicht mit geöffnetem
Fenster zu schlafen und den Bauchbereich nie unbe-
deckt zu lassen. Das sind aus Sicht der TCM Massnah-
men zur Prävention und zum Erhalt einer stabilen
Gesundheit.
G
Korrespondenzadresse:
Saroj K. Pradhan
RehaClinic AG/TCM-Klinik Ming Dao A1
Quellenstrasse 31
5330 Bad Zurzach
E-Mail: s.pradhan@tcmmingdao.ch
Literatur:
1. Linde K, Allais G, et al.: Acupuncture for the prevention of tensiontype headache. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 4. Art. No.: CD007587.DOI: 10.1002/14651858.CD007587.pub2.
2. Linde K, Allais G, et al.: Acupuncture for the prevention of episodic migraine. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 6. Art. No.: CD001218. DOI: 10.1002/14651858.CD001218.pub3.
3. Paul U. Unschuld: Der Innere Klassiker des Gelben Thearchen. Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2015, 58(2), 14–19. doi:10.1016/ s0415-6412(15)30005-9.
4. Hyo J. Kim, Kwang H. Lee, et al.: Illustrations of the Nine Types of Needles based on Huangdi’s Internal Classic Ling-shu. J Acupunct Res 2019, 36(1), 38-44.
5. Yi Zhuang, Jing-Jing Xing, et al.: History of Acupuncture Research. International Review of Neurobiology 2013, Vol. 111, 1–23. doi:10.1016/ b978-0-12-411545-3.00001-8.
6. Tao Gu, Lei Lin, et al.: Acupuncture therapy in treating migraine: results of a magnetic resonance spectroscopy imaging study. Journal of Pain Research 2018, Vol. 11, 889–900. doi:10.2147/jpr.s162696.
7. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS): The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia 2018, Vol. 38(1), 1–211. doi:10.1177/ 0333102417738202.
8. Sivan Schipper, Andreas R. Gantenbein: Starke Kopfschmerzen. Abklärung und Therapie in der Hausarztpraxis. ARS MEDICI DOSSIER VI, 2013.
9. Andreas Wirz-Ridolfi: The History of Ear Acupuncture and Ear Cartography: Why Precise Mapping of Auricular Points Is Important. Medical Acupuncture 2019, 31(3), 145–156. doi:10.1089/acu.2019.1349.
10. Hans P. Ogal: Interview mit Dr. med. Toshikatsu Yamamoto. Deutsche Zeitschrift Für Akupunktur 2013, 56(2), 50–51.
11. Gerhard Litscher: Integrative Laser Medicine and High-Tech Acupuncture at the Medical University of Graz, Austria, Europe. EvidenceBased Complementary and Alternative Medicine 2012, 1–21. doi:10.1155/2012/103109.
12. Zhu Y. Zhong. (2016a) Zhong Yi Jue Wu Yan (Brief remark about the awareness of Chinese medicine). In: Kapitel 7 Abschnitt 3 Jiu Cang Zhen Jiu (Nine depot acupuncture). Beijing: Rénmín Wèi Shēng Chūbăn Shè, pp. 193–196.
13. Zhu Y. Zhong. (2016b) Zhong Yi Jue Wu Yan (Brief remark about the awareness of Chinese medicine). In: Kapitel 29 Wang Guan Xue und Huang Guan Xue (Royal and imperial crown points). Beijing: Rénmín Wèi Shēng Chūbăn Shè, pp. 216.
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