Transkript
BERICHT
«Eine Chronifizierung kann schon sehr schnell erfolgen»
Wie aus akuten Schmerzpatienten chronische Schmerzpatienten werden
Fachtagung «Arbeit und chronischer Schmerz» «Nutzen der Schmerztherapie im Kontext der Arbeitsfähigkeit», Vortrag von Dr. Wolfgang Schleinzer, Direktor und Chefarzt, Zentrum für Schmerzmedizin, Schweizer ParaplegikerZentrum Nottwil. Rehaklinik Bellikon, 8. November 2012
Chronische Schmerzen sind ein individuelles, aber auch ein gesellschaftliches Problem. Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit und Ausschöpfung aller Therapieansätze sind die Erfolgsaussichten gering.
HALID BAS
Heute akzeptierte Definitionen charakterisieren den Schmerz als «unangenehme, sensible und emotionale Erfahrung, die von aktueller oder potenzieller Schädigung begleitet wird oder in Begriffen einer derartigen Schädigung beschrieben wird». Diese Definition
lichste Ursachen haben kann. Als Zeichen für eine Chronifizierung gelten: ❖ die Ausbreitung der Schmerzsym-
ptomatik auf der körperlichen Ebene (Grösserwerden des Schmerzareals, Entwicklung neuer Schmerzbilder) ❖ die Entwicklung und Ausdehnung von Störungen des autonomen Nervensystems (vegetative Symptome wie Nausea, Fotophobie, raschere Ermüdbarkeit oder vegetative Reaktionen wie «kalte Hände»).
Mit fortschreitender Chronifizierung kommt es zu einer Häufigkeitszunahme und Intensitätssteigerung der biopsychosozialen Risikofaktoren. Eine Chronifizierung könne schon sehr schnell erfolgen, betonte Dr. Schleinzer, «daher gilt es, so früh wie möglich Schmerzmedikamente einzusetzen, damit sich gar nicht erst ein hoher Chronifizierungsgrad entwickeln kann».
Chronifizierungsmechanismen Zu den bekannten psychischen Chronifizierungsmechanismen gehören schmerz-
«Daher gilt es, so früh wie möglich Schmerzmedikamente einzusetzen, damit sich gar nicht erst ein hoher Chronifizierungsgrad entwickeln kann.»
schliesst also auch schon die psychische Dimension ein. «Schmerz ist schon von seiner Definition her nicht objektivierbar», betonte Dr. Wolfgang Schleinzer vom Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Dies mag zumindest einen Teil der Diskrepanzen in den gutachterlichen Beurteilungen erklären, wenn Schmerz das Leitsymptom der Erkrankung ist.
Kennzeichen des Übergangs von akuten zu chronischen Schmerzen Jeder chronische Schmerz entsteht aus einem akuten Schmerz, der unterschied-
bezogene gedankliche Verarbeitungen und Überzeugungen (Katastrophisieren, Hilfs- und Hoffnungslosigkeit, aber auch Bagatellisieren). Aus Angst vor Schmerzen vermeiden Schmerzpatienten körperliche Aktivitäten und soziale Kontakte. Die körperliche Inaktivität vermindert einerseits die Belastbarkeit von Strukturen des Bewegungsapparats, erhöht andererseits aber auch die Schmerzempfindlichkeit. Der soziale Rückzug verstärkt die Depression, es bildet sich ein Circulus vitiosus der Schmerzchronifizierung.
Eine Extremgruppe stellen die 2 bis 3 Prozent hoch chronifizierender Schmerzleidender dar. Bei ihnen liegen oft ausgeprägte affektive Störungen vor, sie erleben hohe psychische Stressniveaus und benutzen medizinische Einrichtungen häufig und intensiv. An diesen Patienten fällt weiter auf, dass sie mehr Dauerschmerzen angeben, fast regelmässig negative Zukunftserwartungen hegen und insgesamt ein auffälliges Krankheitsverhalten aufweisen. Bei ihnen ist die Lebenszufriedenheit gering und entsprechend auch die Lebensqualität stark beeinträchtigt.
Unzulänglichkeiten der Therapie Aus verschiedenen Erhebungen ist bekannt, dass das Management chronischer Schmerzen auch in der Schweiz oft unzulänglich ist. So geben fast zwei Drittel der Patienten, die verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen, an, ihr Schmerz sei nicht immer unter Kontrolle, und 40 Prozent finden, ihr Schmerz sei nicht gut behandelt. Bei Menschen mit starken Schmerzen sind Komorbiditäten (z.B. Schlafstörungen, Angst, Depression) 2-mal häufiger als in der Normalbevölkerung. Gründe für ein Versagen der Therapie bei chronischen Schmerzen sind: ❖ unvollständige oder falsche Diagnosen ❖ der Hauptschmerz wird behandelt,
die Nebenschmerzen und andere Komorbiditäten werden jedoch nicht berücksichtigt ❖ falsche Klassifizierung der chronischen Schmerzen ❖ Fehldiagnosen sind häufig, wenn nicht beachtet wird, dass die Schmerzintensität nur eine untergeordnete Rolle spielt ❖ Nichtbeachtung der Fehlfunktion des autonomen Nervensystems ❖ Nichtberücksichtigung der Risikofaktoren (biopsychosoziale Komorbiditäten).
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BERICHT
Kasten:
Take Home Messages
❖ Der pathogene Schmerzprozess ist komplex und herausfordernd.
❖ Chronischer Schmerz entwickelt sich aus einem akuten Schmerz.
❖ Dies geschieht oft sehr schnell und muss schon bei der akuten Schmerzbekämpfung berücksichtigt werden.
❖ Chronifizierung bedeutet Ausweitung der Symptomatik auf allen Ebenen: Schmerz, Schmerzorte, Soma, Psyche, Vegetativum, soziales Leben, Beruf, Familie.
❖ Das biopsychosoziale Krankheitsmodell erlaubt ein umfassenderes Verständnis der Schmerzproblematik.
❖ Bei chronischen Schmerzsyndromen sind immer auch die Komorbiditäten zu erfassen.
❖ In der Betreuung von Schmerzpatienten ist die Vermeidung der Chronifizierung oder gar Invalidisierung das Ziel.
Von praktischer Wichtigkeit ist auch eine korrekte Einteilung der Schmerzsymptomatik (nozizeptiv?, neuropathisch?, psychogen?). Die Intensität chronischer Kreuzschmerzen beispielsweise korreliert mit dem Vorhandensein einer zugrunde liegenden neuropathischen Komponente. Komplexe Schmerzen erfordern ein ganzes Spektrum von Massnahmen. Diese reichen von der medikamentösen Therapie (gemäss WHO-Stufenschema I: nichtopioide Analgetika; II: schwache Opioide; III: starke Opiode) über Physio- und Ergotherapie zu psychologischen Massnahmen (Aufklärung, Information, «Coping») und sozialen Massnahmen hinsichtlich Arbeitsplatz und persönlichen Umfelds bis zu interventionellen Schmerztherapien (Infiltrationen, Rhizotomien) oder operativen Eingriffen (subkutane Stimulation, Rückenmarksstimulation).
Prognoseindikatoren «Vordringliches Therapieziel ist es, neben der Wiederaufnahme körperlicher Aktivitäten und der Übernahme von Verantwortung durch die Betroffenen, den Analgetikaverbrauch sowie die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zu reduzieren und schliesslich die
Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen», sagte Dr. Schleinzer. Eine sorgfältige Komorbiditätsanalyse erlaubt eine Abschätzung des Behandlungserfolgs. Die Gesamtheit der zur gleichen Zeit gestellten Diagnosen verdeutlicht die körperlichen, psychischen und psychosozialen Risikofaktoren. Diese multiaxial gestellten Diagnosen sind gute Prädiktoren für das zu erwartende Behandlungsergebnis. Dies unterstreicht die Wichtigkeit einer tatsächlich stattfindenden interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Institut für Berufsfindung des Paraplegiker-Zentrums Nottwil berichtet von 90 Prozent arbeitsmarktlichen Anschlussmöglichkeiten nach Erstrehabilitation von Querschnittspatienten. Hierbei gilt: je besser die Ausbildung, desto besser die Chancen am Arbeitsmarkt. Und: Eine Zunahme der Schmerzen geht einher mit einer Zunahme der Arbeitsunfähigkeit. Bei anderen Patienten belegen Untersuchungen, dass eine multimodale, biopsychosoziale Schmerztherapie, die kognitive Verhaltenstherapie einschliesst, bei chronischen Kreuzschmerzen und muskuloskeletalen Schmerzen effektiv ist. Intensive ambulante oder stationäre Schmerztherapieprogramme können zu subjektiv wahrgenommenen Verbesserungen im körperlichen, psychischen und sozialen Befinden und in einem gewissen Prozentsatz zu einer Wiedereingliederung in der Arbeitswelt führen. Bereits vor der Rehabilitationsbehandlung lässt sich voraussagen, dass Frauen bessere Aussichten auf eine Wiederaufnahme der Arbeit haben als Männer. Schmerzen, wahrgenommener Gesundheitszustand, Ängstlichkeit und/oder Depression sowie biopsychosoziale Zusammenhänge erlauben schon ab Klinikeintritt eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit für eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit drei Monate nach Austritt aus den Rehakliniken der Suva.
Willensanstrengung vor biopsychosozialem Krankheitsmodell «Vergleichende Untersuchungen in verschiedenen Ländern zeigen deutlich, dass das sozial- und gesundheitspolitische System eines Landes Auswirkungen auf die Ausfallzeiten und Berentungszahlen wegen Rückenschmerzen hat», hielt Dr. Schleinzer fest.
Im heutigen (sozial)versicherungspolitischen Umfeld kommt der Einschätzung der psychischen Ressourcen grosse Bedeutung zu. Zur Beurteilung der Zumutbarkeit einer Willensanstrengung zur Überwindung bei somatoformen, aber auch bei weiteren Störungen im Grenzgebiet zwischen Psyche und Soma werden folgende Gesichtspunkte herangezogen: ❖ die biografisch und am aktuellen
Erleben und Verhalten orientierte Persönlichkeitsdiagnostik ❖ den Verlauf widerspiegelnde und prognostische Kriterien von Klaus Foerster ❖ die komplexen Ich-Funktionen.
Als Erschwernisse für eine – vom Gesetzgeber ausdrücklich geforderte – Willensanstrengung des Patienten gelten: ❖ komorbide psychische Störung, in-
klusive akzentuierte Persönlichkeit ❖ chronische körperliche Begleit-
erkrankung ❖ mehrjähriger chronifizierter Verlauf
mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ❖ Therapieresistenz trotz adäquater therapeutischer Massnahmen ❖ gescheiterte Rehabilitation ❖ sozialer Rückzug in allen Bereichen des Lebens ❖ verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn).
«Sollen wir unsere Ratlosigkeit damit
dokumentieren, dass wir die Arbeits-
fähigkeit auf 30 bis 50 Prozent schät-
zen?», fragte Dr. Schleinzer etwas
provokativ zum Schluss, «damit wären
ein Arbeitstraining oder ein Arbeits-
versuch möglich, aber auch eine volle
Invalidität …».
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Halid Bas
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