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Titel
Arsenicum
Untertitel
Wieder kein Weltuntergang
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Ein gutes Neues!», wünsche ich meinem Kollegen, dem anderen sich überarbeitenden Allgemeinpraktiker in unserem Quartier, als ich am 7. Januar zur Praxis eile und er mit einer Tüte Dreikönigskuchen aus dem Bäckerladen kommt. «Nun, so neu ist es ja nicht mehr …», murrt er. «Und ob es so gut wird, wird sich zeigen. Ich glaub nicht dran.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Wieder kein Weltuntergang

E in gutes Neues!», wünsche ich meinem Kollegen, dem anderen sich überarbeitenden Allgemeinpraktiker in unserem Quartier, als ich am 7. Januar zur Praxis eile und er mit einer Tüte Dreikönigskuchen aus dem Bäckerladen kommt. «Nun, so neu ist es ja nicht mehr …», murrt er. «Und ob es so gut wird, wird sich zeigen. Ich glaub nicht dran. Sicher hecken die wieder etwas aus, was noch mehr Einkommenseinbusse für uns bedeutet.» «Vermutlich», nicke ich, «trotzdem alles Gute!» Griesgrämig zottelt er davon. In der Praxis ist meine MPA bester Laune. Sie studiert den Kalender 2013. «Mein Geburtstag fällt auf einen Freitag!», jubelt sie. «Da nehme ich frei. Und dieses Jahr ist schon wieder ein Arbeitnehmerjahr!» «Aber ich bin Arbeitgeber!», wende ich ein. Doch sie hört mich vor lauter Begeisterung nicht. «Weihnachten machen wir ab dem 20. Dezember zu, bis zum 2. Januar. Am 21. und 22. Dezember ist Wochenende, am Montag, dem 23. kommt ja sowieso niemand, und nur wegen des halben Tages am Heiligabend, da werden Sie mich ja wohl nicht von zu Hause wegholen, oder?» Ich wage das nicht zu fordern, insbesondere da meine Frau sich einschaltet. «Ja, endlich mal ein bisschen frei. Haben wir lange genug nicht gehabt!» Die beiden Damen nicken. Und wer bitte erwirtschaftet ihre Gehälter? Eben. Aber warum sollte ein altgedienter Grundversorger sich und seinem Team nicht mal ein paar Freitage gönnen? Ich schiele auf den Kalender, ein Werbegeschenk unseres Apothekers, und sehe, dass auch mein Geburtstag auf einen Freitag fällt. Sollte ich uns nicht mal ein verlängertes Wochenende gönnen, vielleicht einen Städteflug buchen …? Es könnte tatsächlich ein gutes Jahr werden. Vieles liegt in meiner Hand. Ein gutes Gefühl. Es ist albern, aber am Jahresende – letztlich nur Zahlen auf einem Papier – habe ich mich schon immer gefreut, dass bald etwas Neues kommt. So auch 2012. Als ich Ende Dezember in einer schönen alten Schaffhauser Beiz mit Bruno und den anderen zusammensass, war ich froh gewesen, dass das alte Jahr nun zu Ende ging. Dabei war es zu der Zeit gar nicht sicher, ob etwas Neues käme, weil ja laut einigen Schwarzsehern der Mayakalender den Weltuntergang vorausgesagt hatte. Doch in meinem Alter fällt man auf solche Szenarien nicht mehr rein. Schliesslich weiss ich: Die Welt kann jederzeit von irgendeinem grössenwahnsinnigen Despoten, der über Atomwaf-

fen verfügt, in die Luft gesprengt werden. Oder die Existenz von jedem Einzelnen von uns kann jederzeit zu Ende sein, wenn es ein Koronargerinnsel so will. Deshalb ist Gelassenheit die beste Strategie. Als Teenager glaubte ich den Auguren, die das Baumsterben dramatisch verkündeten, und hatte viele Jahre Angst davor. Die Bäume haben überlebt – aber nicht, weil ich Kröten über Schnellstrassen trug und beim Mülltrennen half. Der Club of Rome hat auch überlebt, und mit ihm die Tradition, dass reiche alte Männer bei erlesenem Essen in schönen teuren Hotels Papiere verfassen, die niemand liest und die nichts verändern. Da entferne ich doch lieber eine Dornwarze. Ist zwar nicht so glamourös und rettet nicht die Welt – aber ein einzelnes Individuum kann wieder besser laufen. Aber Weltuntergangsprophezeiungen werden von erschreckend vielen meiner Patienten geglaubt. Verschämt gestanden mir mittelalterliche Frauen, dass sie einen Notvorrat angelegt hatten. Junge Männer drucksten herum und platzten irgendwann heraus, dass sie nachts schweissgebadet und albtraumgeplagt aufwachen. Am 22. Dezember war alles Schnee von gestern, und niemand gab mehr zu, Angst gehabt zu haben. Wir hatten sie in besagter Beiz auch nicht, denn es war gemütlich, das Essen gut und die Gespräche interessant. «Das ist übrigens das Jazzlokal von Bruno!», sagte mein Nachbar. Ich schaute rüber zu Bruno, stellte ihn mir bei einem Posaunensolo vor. Ob er wohl eher Bebop oder Dixieland spielte? Etwas später stellte sich dann heraus, dass es das Jasslokal von Bruno war und er Schellen und nicht Tschinellen in den Händen hat, wenn er spielt. Nun, beide Tätigkeiten machen Menschen glücklich, erfordern Konzentration und Können. Und wer sie ausübt, hat anderes zu tun, als sich vor dem Weltuntergang zu fürchten. «Was machen Sie jetzt mit dem Notvorrat, wo die Welt nicht untergegangen ist?», fragte ich meine voraussorgende Patientin. «Den habe ich zum grössten Teil meinem Nachbarn mitgegeben, der Hilfsgütertransporte nach Rumänien organisiert», schmunzelte sie. Was zeigt, dass es doch nicht ganz sinnlos ist vorzusorgen. Irgendwo gönnen sich jetzt ein paar Leute in Rumänien ein paar Löffel mehr Zucker in den Tee. So versüsst Sorge die Welt. Insbesondere, wenn sie nicht untergeht.

ARSENICUM

8 ARS MEDICI 1 ■ 2013