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SCHWERPUNKT
Genetische Abklärungen bei Kinderwunsch
Aktuelle Empfehlungen für Paare vor reproduktionsmedizinischen Massnahmen
Bei einigen Paaren in einer Kinderwunschsprechstunde ist eine genetische Ursache für die In- oder Subfertilität verantwortlich. In diesem Artikel werden die häufigsten genetischen Ursachen aufgezeigt. Auf seltenere genetische Erkrankungen, welche ebenfalls mit einer Abnahme der Fertilität einhergehen können, wird in diesem Rahmen nicht eingegangen.
ANJA FINK, ANJA REBEKKA WÜEST
Anja Fink Anja Rebekka Wüest
Bei 5 bis 10% der weiblichen und 10 bis 20% der männlichen Patienten, die sich in der Kinderwunschsprechstunde vorstellen, ist eine genetische Ursache für eine In- oder Subfertilität verantwortlich (1).
Genetische Abklärungen bei der Frau in der Reproduktionsmedizin
Prämature Ovarialinsuffizienz (POI)
Der Begriff «prämature Ovarialinsuffizienz» bezeichnet den vorzeitigen Verlust der Ovarialfunktion vor dem 40. Lebensjahr mit konsekutivem Auftreten eines hypergonadotropen Hypogonadismus und einer primären/sekundären Amenorrhö. Genetische Ursachen findet man in 10 bis 13% der Fälle – den Grossteil (94%) stellen nummerische oder strukturelle X-Chromosomen-Aberrationen dar (2).
Merkpunkte
Zur Abklärung der Sterilität gehören: Bei der Frau: I Gründliche Anamnese, insbesondere Zyklus- und Schwangerschaftsanamnese. I Basis-Hormonstatus (1.–5. Zyklustag ), ggf. inkl. 17-OHP bei Verdacht auf AGS, ggf.
inkl. Auto-AK (Schilddrüse/NNR) bei Verdacht auf POI. I Tubenabklärung. I Eine genetische Abklärung ist bei Frauen mit POI, RIF, habituellen Aborten und bei
Verdacht auf AGS zu empfehlen.
Beim Mann/Partner: I Die gründliche Anamnese über vorbestehende Krankheiten, Voroperationen, früher
gezeugte Schwangerschaften, Lifestyle, Medikamente, Substanzabusus sowie die Sexual- und Familienanamnese und auch ein Spermiogramm gehören zur Basisabklärung des Mannes. I Eine genetische Abklärung bei Männern mit einer Spermienkonzentration < 10 Mio./ml ist aufgrund des 10-fach erhöhten Risikos für chromosomale Störungen indiziert. I Bei Nachweis einer heterozygoten CFTR-Mutation muss die Partnerin mit abgeklärt werden. Die Mutation liegt bei jeder 25. Person europäischer Herkunft vor.
Fragiles-X-Syndrom Fragiles-X-Syndrom ist eine X-chromosomal-dominant vererbte Erkrankung und die häufigste Ursache erblich bedingter mentaler Retardierung bei Präsenz von über 200 Wiederholungen der CGG-Triplet-Sequenz im FMR1-(Fragile-X-Mental-Retardation-1-)Gen auf dem langen Arm des X-Chromosoms (Xq27.3). Frauen mit 55 bis 200 CGG-Wiederholungen (FraX-Prämutation) zeigen eine verminderte ovarielle Reserve, und 13 bis 26% der Betroffenen entwickeln eine POI. Die Prävalenz einer Prämutation im FMR1-Gen bei Frauen mit POI ist mit 5 bis 10%, verglichen mit < 1% in der Normalpopulation, deshalb deutlich erhöht. Frauen mit der vollen Mutation im FMR1-Gen tragen das Risiko einer POI dagegen nicht (3).
Turner-Syndrom (TS) Als Turner-Syndrom (TS) werden verschiedene Symptome bezeichnet, deren Ursache eine Monosomie X (ca. 1/3), Monosomie X-Mosaike (ca. 1/3) oder strukturelle Aberrationen eines X-Chromosoms (ca. 1/3) sind (4). Betroffen ist zirka 1 von 2500 geborenen Mädchen. Etwa 90% aller Mädchen mit einem TS verlieren vor Abschluss der Pubertät die meisten oder alle Keimzellen und erhalten die Diagnose einer POI. Eine spontane Konzeption erfolgt nur bei zirka 2 bis 7% aller TS-Frauen – das sind vor allem jüngere Frauen mit einem Mosaik-Karyotyp, die eine spontane Menarche hatten. Das Risiko für Aborte oder Chromosomenanomalien beim Konzeptus ist bei diesen Frauen grundsätzlich erhöht (5).
Der Blick auf fertilitätsprotektive Massnahmen Ob eine fertilitätsprotektive Massnahme beim Turner-Syndom erwogen werden kann, hängt (neben dem genetischen Befund) entscheidend von der ovariellen Reserve ab. Eine AMH-Konzentration < 4
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pmol/l erlaubt die Prognose, dass die Pubertät nicht erreicht wird oder eine POI droht (6). Bei TS-Patientinnen, die älter als 14 bis 16 Jahre sind, sollten Massnahmen der Fertilitätsprotektion wie eine Kryokonservierung von Oozyten oder Ovargewebe unter Berücksichtigung positiver prädiktiver Faktoren erläutert werden (Tabelle 1). Die Effektivität solcher Verfahren im Hinblick auf eine spätere Fertilität kann allerdings noch nicht beurteilt werden, da bisher keine Berichte über geborene Kinder von Frauen mit TS existieren. In nicht von TS betroffenen Kollektiven wurde gezeigt, dass die Kryokonservierung von Oozyten zur Fertilitätsprotektion in Abhängigkeit vom Alter mindestens 8 bis 10 reife Oozyten erfordert, um der Patientin eine realistische Chance auf ein eigenes Kind zu eröffnen (7). Das Erreichen dieser Eizellzahl kann beim Turner-Syndrom problematisch werden und mehrere Stimulationszyklen erfordern. Bedenkt man, dass aufgrund der beim TS eingeschränkten Qualität der Oozyten vermutlich eine signifikant höhere Zellzahl als bei Gesunden sinnvoll erscheint, wird das Dilemma der Fertilitätsprotektion beim TS besonders deutlich. Auch für die Kryokonservierung von Ovargewebe sind Quantität und Qualität der Eizellen für die späteren Erfolgsraten für eine Schwangerschaft respektive Lebendgeburt bedeutsam (8, 9). Zu berücksichtigen sind dabei ausserdem immer die ethische Abwägung des invasiven Eingriffs bei einem nicht einwilligungsfähigen Kind und das Risiko, die ovarielle Reserve durch die Operation iatrogen zu schädigen und gegebenenfalls eine POI zu induzieren. Die Datenlage zur Effektivität einer Transplantation von Ovargewebe bei einer bestehenden geringen Ovarreserve ist sehr begrenzt. Aus diesem Grund sollte die Ovarreserve bei der Kryokonservierung von Ovargewebe höher sein als bei der Kryokonservierung von Oozyten.
Empfehlung: Allen Frauen mit POI sollte eine Karyotypisierung sowie der Ausschluss einer FraX-Prämutation empfohlen werden. Im Gegensatz zu den Frauen mit FraX-Prämutation, welche phänotypisch unauffällig sind, wird das TS meistens in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert – deshalb ist eine frühzeitige Beratung der Fertilitätsprotektion möglich und wichtig. Trotz den erwähnten Möglichkeiten der Fertilitätsprotektion muss berücksichtigt werden, dass das TS nicht nur eine reproduktionsmedizinisch schwierige Entität für die Fertilitätsprotektion darstellt, es ist zudem für die Schwangere mit einem hohen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko assoziiert. Die Aufklärung muss in das Beratungsgespräch integriert werden.
Tabelle 1:
Positive prädiktive Faktoren für eine Fertilitätsprotektion beim TS
1. Mosaik-Karyotyp / strukturelle Aberration des X-Chromosoms 2. Spontaner Pubertätseintritt 3. Spontane Menarche 4. Normale FSH-Konzentration i.S. 5. AMH-Konzentration i.S. deutlich über der Nachweisgrenze 6. Normaler antraler Follikel-Count (AFC)
Tabelle 2:
Strukturelle Chromosomenveränderung
Nummerische Chromosomenveränderung
Chromosomenmutationen, die mit einer Veränderung des Aufbaus eines Chromosoms einhergehen (häufig: Translokation, selten: Inversion, Deletion, Duplikation) Genommutation, die mit einer Veränderung der Anzahl Chromosomen einhergeht (Aneuploidie, Polyploidie)
Habituelle Aborte
Habituelle Aborte erleiden 1 bis 3% der Paare im reproduktionsfähigen Alter. 15 bis 20% aller Schwangerschaften enden mit einem Spontanabort, meistens im ersten Trimester, etwa die Hälfte davon aufgrund einer Chromosomenanomalie. In 95% der Fälle sind es nummerische Chromosomenveränderungen, und der Karyotyp der Eltern ist gewöhnlich unauffällig. Bei 3 bis 5% der Spontanaborte findet man jedoch strukturelle Chromosomenaberrationen, welche eine Karyotypisierung der Eltern erfordert (10) (Tabelle 2). Denn 4 bis 5% der Paare mit habituellen Aborten weisen eine balancierte Chromosomenaberration bei einem Partner auf, im Vergleich zu 0,7% der Paare ohne wiederholte Aborte (11); sie sollten über das Risiko von 1 bis 5% einer unbalancierten Aberration bei den Nachkommen mit entsprechenden Entwicklungsstörungen aufgeklärt werden (12). Die strukturellen Chromosomenveränderungen erfolgen aufgrund eines Rearrangements eines Chromosomenabschnitts, meistens im Sinne einer Translokation. Die balancierten Translokationen zeigen einen unauffälligen Phänotyp im Gegensatz zu den unbalancierten Chromosomenstörungen; die Lebendgeburtenrate ist nicht signifikant tiefer als bei Paaren mit unauffälligem Karyotyp (45–85%) (12). Eine der häufigsten strukturellen Chromosomenveränderungen ist die Robertson-Translokation. Die Prävalenz beträgt in der Gesamtbevölkerung 0,1%, bei infertilen Paaren 1%.
Robertson-Translokation Bei einer Robertson-Translokation fusionieren die langen Arme zweier akrozentrischer Chromosomen unter Verlust der kurzen Arme. Daraus resultiert ein balancierter Karyotyp mit nur 45 Chromosomen – bei einem unauffälligen Phänotyp. Bei der Gametenbildung erfolgt keine geordnete Segregation, und somit besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, Nachkommen mit Trisomie oder Monosomie zu bekommen, unabhängig vom Alter des Trägers der Translokation. Das Risiko für eine Trisomie beläuft sich auf 10 bis 15%, wenn die Mutter Trägerin ist, liegt aber nur bei 2% bei väterlicher Chromosomenaberration.
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Tabelle 3:
Genetische Abklärung bei habituellen Aborten/RIF
1. Die Karyotypisierung des Paares sollte empfohlen werden; bei Chromosomenaberrationen ist eine genetische Beratung indiziert.
2. Information des Paares, dass die Krankenkassen eventuell die Kosten der genetischen Abklärung nicht übernehmen wird.
3. Wird eine balancierte Translokation diagnostiziert, sollte die Möglichkeit IVF/PGT angesprochen werden; die aktuelle Datenlage zeigt aber keine signifikant verbesserte Lebendgeburtenrate im Vergleich zu einer Spontankonzeption.
4. Aufgrund mangelnder Evidenz kann IVF/PGS bei idiopathischen habituellen Aborten nicht empfohlen werden – ausser bei bestehender Paarsterilität.
Tabelle 4:
Häufigkeit von chromosomalen Aberrationen infertiler Männer
Chromosomale Aberration Autosomale Gonosomale
Alle Männer (%) 0,38 0,25 0,14
Bei Sterilität (%) 5,8 1,5 4,2
Empfehlung: Allen Paaren mit habituellen Aborten sollte eine zytogenetische Untersuchung empfohlen werden. Diese kann mittels einer Chromosomenanalyse beider Partner präkonzeptionell oder aus dem Abortmaterial erfolgen. Bei auffälligem Karyotyp ist eine genetische Beratung mit Erläuterung der Möglichkeiten der Pränataldiagnostik sowie der Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic testing, PGT) indiziert (Tabelle 3). Jedoch zeigen aktuelle Studien – bei Paaren mit habituellen Aborten, bei denen ein Partner eine strukturelle Chromosomenveränderung trägt – bis anhin keinen signifikanten Vorteil hinsichtlich der Lebendgeburtenrate bei Durchführung einer IVF (in-vitro-Fertilisation)/PGT der Embryonen im Vergleich zu Spontanschwangerschaften (13, 14). Auch bei idiopathischen habituellen Aborten wird IVF mit Screening der Embryonen auf Aneuploidie (PGS) aufgrund mangelnder Evidenz (noch) nicht empfohlen. Gemäss aktueller Datenlage ist IVF/PGS eine kostspielige Therapie, um die Abortrate zu senken, und die Lebendgeburtenrate lässt sich dadurch nicht signifikant steigern (15).
Rezidivierendes Implantationsversagen (RIF)
Nach drei erfolglosen Transfers eines Embryos «guter Qualität» im Rahmen einer IVF-Therapie wird von einem RIF gesprochen, in der Literatur gibt es jedoch keine einheitliche Definition. Der Prozess der Implantation setzt einen euploiden Embryo und eine rezeptitives Endometrium voraus. Das fehlende Vermögen des Embryos, sich in utero zu entwickeln und zu implantieren, ist mit anormalem genetischem «Material» assoziiert. Die Prävalenz von Chromosomenaberrationen bei RIF-Patientinnen beträgt 2 bis 10%, wobei am häufigsten eine Chromosomentranslokation gefunden wird (16). Mit der Anzahl erfolgloser Transfers steigt die Wahrscheinlichkeit eines auffälligen Karyotypen.
SCHWERPUNKT
Empfehlung: Die genetische Abklärung wird allen Patientinnen mit RIF empfohlen; vor allem Nulliparen mit Status nach Abort sollten auf ein erhöhtes Risiko einer Chromosomenanomalie hingewiesen werden. Stellt sich die Diagnose einer Chromosomenaberration, ist die Aufklärung über die Möglichkeit einer Präimplantationsdiagnostik vor einer weiteren IVF-Therapie indiziert (17) (Tabelle 3).
Androgenitales Syndrom (AGS) oder kongenitale adrenale Hyperplasie (KAH)
Das AGS ist eine autosomal-rezessive Erkrankung. Verursacht ist sie durch eine eingeschränkte oder fehlende Aktivität eines an der Kortisolbiosynthese beteiligten Enzyms in der Nebennierenrinde aufgrund einer Genmutation. Mit einer Inzidenz von etwa 1:10 000 Neugeborenen in Europa ist der 21Hydroxylasemangel infolge eines CYP21A2-Gendefekts auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 die häufigste Ursache. Im Gegensatz zum klassischen AGS wird die Diagnose des Late-onset-AGS nicht postpartum gestellt; bei 13% der betroffenen Frauen wird das Syndrom erst aufgrund einer Infertilität entdeckt (18). Die erhöhte Progesteronkonzentration bei den Frauen verändert die endometriale Rezeptivität wie auch die Tubenmotilität und führt zu Dysovulationen. Auch wenn die spontane Schwangerschaftsrate bei Late-onset-AGS > 50% ist, zeigen aktuelle Daten unter Glukokortikoidtherapie eine regrediente Hyperandrogenämie und dadurch eine Verbesserung der Dysovulationen sowie der endometrialen Funktion; mit der Behandlung erfolgt ein rascherer Schwangerschaftseintritt (19). Auch die Fehlgeburtenrate ist mit rund 25% deutlich erhöht und lässt sich durch Glukokortikoidtherapie normalisieren (20, 21).
Empfehlung: Bei Frauen mit Kinderwunsch und Hyperandrogenämie respektive Androgenisierungserscheinungen sollte die Diagnose eines Late-onset-AGS ausgeschlossen werden, da heterozygote Mutationen des CYP21A2-Gens mit einer Häufigkeit von bis zu 30% beim oben genannten Kollektiv (im Vergleich zu 2% in einer Kontrollpopulation) beschrieben werden. Nebst der Bestimmung des 17-Hydroyprogesteronwertes und des ACTH-Tests sollte eine molekulargenetische Diagnostik erfolgen. Zudem wird empfohlen, den Partner genetisch abzuklären, um das Risiko eines klassischen AGS bei den Nachkommen abzuschätzen (20). Auch Frauen mit Late-onset-AGS profitieren von einer Glukokortikoidtherapie, insbesondere solche mit einer Sterilität/Infertilität. Ziel ist das Senken der Progesteronkonzentration in der Folli-
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kelphase < 2 nmol/L. Es sollte ein nicht plazentagängiges Glukokortikoid verabreicht werden (21). Genetische Abklärung beim Mann in der Reproduktionsmedizin Allgemeines Bei neugeborenen Knaben liegt die Inzidenz für chromosomale Aberrationen bei gerade mal 0,38%. 0,25% betreffen autosomale Aberrationen, bei 0,14% liegt eine gonosomale Aberration (die Geschlechtschromosomen betreffend) vor. Jedoch ist die Inzidenz für chromosomale Aberrationen bei unfruchtbaren Männern mit einer Spermienkonzentration unter 10 Mio/ml (Norm ≥ 15 Mio./ml) um mehr als den Faktor 10 bis 15 erhöht (22). Hier liegt die Inzidenz der chromosomalen Aberrationen bei 5,8%. 1,5% der unfruchtbaren Männer haben eine Abnormalität der autosomalen Chromosomen, 4,2% der gonosomalen Chromosomen (23) (Tabelle 4). Das Risiko eines abnormalen Karyotypen steigt mit Verschlechterung des Spermiogramms. Männer mit einer Spermienkonzentration von < 10 Mio./ml haben ein 10-fach höheres Risiko für vor allem autosomale strukturelle Abnormalitäten im Vergleich zur Normalpopulation (24). Somit ist eine genetische Abklärung bei Männern mit einer Spermienkonzentration < 10 Mio./ml indiziert (25). Ebenfalls sollte eine genetische Untersuchung bei habituellen Aborten (siehe oben) oder bei einer positiven Familienanamnese für mentale Retardierung oder Malformationen diskutiert werden. Stellt sich ein Paar mit einer Sterilität in der Kinderwunschsprechstunde vor, gehört nebst einer ausführlichen Anamnese über vorbestehende Krankheiten, Voroperationen, früher gezeugten Schwangerschaften, Lifestyle, Medikamente, Substanzabusus, Sexualund Familienanamnese auch die Durchführung eines Spermiogramms zur Basisabklärung des Mannes dazu (26). Liegt im Spermiogramm eine Azoospermie vor (d. h. keine Spermien im Ejakulat nachweisbar, was in ungefähr 15% der Ejakulatanalysen in der andrologischen Sprechstunde vorkommt; 27), ist die Untersuchung durch einen Urologen obligat. Insbesondere sollte eine Hodensongrafie zur Bestimmung der Hodenvolumina und allfälliger Pathologien durchgeführt werden. Die Normwerte des Spermiogramms gemäss WHO sind in Tabelle 5 abgebildet. Unterscheidung obstruktive und nicht obstruktive Azoospermie Des Weiteren muss zwischen einer obstruktiven und einer nicht obstruktiven Azoospermie unterschieden werden. Bei einer obstruktiven Azoospermie, welche in nur ungefähr 5% der Ursachen vorliegt (28), findet die Bildung der Spermien im Hoden in ausreichender Quantität statt; aufgrund eines Verschlusses im Bereich von Nebenhoden, Samenleiter oder Prostata gelangen die Spermien jedoch nicht in das Ejakulat. Eine Obstruktion kann zusätzlich mit einer biochemischen Analyse des Seminalplasmas diagnostiziert werden. Ist die α-Glukosidase als Nebenhodenmarker erniedrigt, muss vor allem bei gleichzeitig vermindertem Ejakulatvolumen von einer Obstruktion ausgegangen werden. In der klinischen Untersuchung wird vom Urologen ebenfalls bestimmt, ob der Ductus deferens palpabel ist. Zudem wird eine Hormonanalyse (Testosteron-Gesamtwert und FSH-Wert) zur Bestimmung der gonadalen Achse angefertigt (29). Sind die Hodenvolumina sowie die Hormonanalysen im Normbereich, spricht das für eine erhaltene Spermiogenese. Die nicht obstruktive Azoospermie ist deutlich häufiger und vom klinischen Bild deutlich heterogener. Sowohl eine Beeinträchtigung der Spermatogenese als auch der endokrinen Hodenfunktion im Bereich des Hypothalamus, der Hypophyse oder auch direkt testikulär kann vorliegen. Je nach Ort der Beeinträchtigung zeigen sich klinisch verschiedene Hormonwerte und in der klinischen Untersuchung ebenfalls unterschiedliche Hodenvolumina (Tabelle 6). Klinefelter-Syndrom Die häufigste gonosomale Chromosomenaberration ist das Klinefelter-Syndrom. Sie gehört zu den nicht obstruktiven Azoospermien. Die Mutation kann als volle Ausprägung mit einem zusätzlichen X-Chromosom vorliegen (47, XXY), jedoch kommen in 20% der Fälle auch Mosaike vor (z. B. 47, XXY/46, XY). Ebenfalls existieren zusätzliche Y-Chromosomen, höhergradige X-chromosomale Aneuploidien oder strukturell veränderte X-Chromosomen. Je nach genetischer Ausprägung können betroffene Männer einen unauffälligen Phänotyp mit einer normalen Virilisierung aufweisen, oder es bestehen Zeichen der fehlenden Androgenisierung wie ein weibliches Behaarungsmuster und fehlende Ausbildung Tabelle 5: WHO-Definition Spermiogramm Unauffälliges Spermiogramm Einschränkung Anzahl der Spermien (Mio./ml) ≥ 15 Oligozoospermie Gesamtmotilität (%) ≥ 40 Asthenozoospermie Normale Formen nach Kruger (%) ≥4 Teratozoospermie GYNÄKOLOGIE 2/2020 9 Tabelle 6: Mögliche genetische Ursachen organischer Schäden bei infertilen Männern SCHWERPUNKT Anatomische Struktur Prätestikulär Testikulärer Schaden Verschluss ableitende Samenwege Funktionelle Transportstörungen Genetische Ursache Kongenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus (Kallmann-Syndrom) Klinefelter-Syndrom; AZF-Deletion Genmutation TEX 11 Kongenitale bilaterale Aplasie des Vas deferens (CBAVD) der Terminalhaare, Gynäkomastie sowie lange Arme und Beine aufgrund eines verspäteten Epiphysenverschlusses. Allen gemeinsam ist eine Hodenatrophie bei eingeschränkter oder fehlender Leydig-ZellFunktion. Laborchemisch zeigen sich erhöhte FSH-Werte bei normalem oder tiefem Gesamttestosteronspiegel. Bei 30 bis 50% der Männer mit Nachweis eines Klinefelter-Syndroms können mittels TESE (testicular sperm extraction) Spermien gewonnen werden (30). Eine Präimplantationsdiagnostik respektive eine Pränataldiagnostik sollte in dieser Konstellation aufgrund der Vererbung diskutiert werden. AZF-Deletionen Ebenfalls zu den gonosomalen Chromosomenaberrationen gehören die Y-Chromosom-Deletionen, auch AZF-Deletionen (Azoospermiefaktor) genannt. Je nach Lage der Mutation auf dem Y-Chromosom liegt eine schwere Oligozoospermie (< 5 Mio./ml) bis Azoospermie vor. Bei einem normalen Spermiogramm liegt nie eine AZF-Mutation vor (31). Bei Männern mit einer Azoospermie liegt das Risiko für eine AZF-Mutation bei 8 bis 12%, bei einer schweren Oligozoospermie bei 3 bis 7%. Finden sich im Spermiogramm mehr als 5 Millionen Spermien pro Milliliter, beläuft sich das Risiko nur noch auf 0,7%. Die häufigste AZF-Mutation ist die AZFc-Mutation, welche in 65 bis 70% der Fälle vorkommt. Die AZFaMutation, welche aufgrund einer starken Einschränkung des Spermiogramms bis zum «Sertoli-Cell-OnlySyndrom» schlechtere TESE-Resultate mit sich bringt, kommt in nur 5% der Mutationen vor. Liegt eine AZFMutation vor, wird diese auch an die männlichen Nachkommen weitervererbt, ein erhöhtes Risiko zur Entartung der Gonaden besteht jedoch nicht. Kallmann-Syndrom Neben dem Klinefelter-Syndrom und den AZF-Deletionen gibt es verschiedene X-chromosomale Defekte; der häufigste ist der idiopathische hypogonadotrope Hypogonadismus. Liegt diese isolierte GnRH-Releasing-Insuffizienz gleichzeitig mit einer Anosmie (Fehlen des Geruchssinns) vor, spricht man vom Kallmann- oder olfaktogenitalen Syndrom. Es tritt bei 1 von 8000 Knaben auf und kann auch autosomal rezessiv oder dominant vererbt werden. Die Hypogonadotropie wird mit Gabe von Gonadotropinen behandelt. «Congenital bilateral aplasia of vas deferens» (CBAVD) Sie ist die häufigste autosomal vererbte Krankheit, welche die Fertilität einschränken kann. Die CBAVD gehört zu den obstruktiven Azoospermien. Bei einer isolierten CBAVD haben die Männer in ungefähr 85% der Fälle eine Mutation des Gens CFTR (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator). Eine isolierte CBAVD ist somit eine milde Form einer zystischen Fibrose. Die Mutation ist autosomal und liegt auf dem kurzen Arm des 7. Chromosoms. Sie ist nur in homozygoter oder compound-heterozygoter Form pathogenetisch wirksam. Da die Mutation bei Personen europäischer Herkunft bei jeder 25. Person vorkommt, muss bei Nachweis einer Mutation beim Mann unbedingt auch die Partnerin abgeklärt werden. Klinisch zeigt sich eine Erhöhung der α-Glukosidase sowie ein deutlich eingeschränktes Volumen des Seminalplasmas und somit auch des Ejakulats. Zur Spermiengewinnung wird die TESE eingesetzt. Diese ist sehr oft erfolgreich, da die Spermienproduktion erhalten ist (32). Zukunftsaussichten Bei über 80% der Männer mit einer nicht obstruktiven Azoospermie ist die Ursache unbekannt. In der Diagnostik werden Exomsequenzierungen und Gesamtgenomsequenzierungen, sogenanntes «next generation sequencing (NGS)» künftig interes- sant. Sie könnten zur Identifizierung bisher nicht be- kannter genetischer Ursachen männlicher Fertilitäts- störungen führen, sind jedoch zurzeit in der Klinik noch nicht anwendbar. Bei Patienten mit meiotischem Arrest der Spermato- genese konnten X-chromosomal gebundene Muta- tionen im Testis-expressed-11-Gen (TEX11) nachge- wiesen werden. Die Bedeutung der Gene ist Gegenstand derzeitiger Untersuchungen (33). I Dr. med. Anja Fink und Dr. med. Anja Rebekka Wüest (Korrespondenzadresse) E-Mail: AnjaRebekka.Wueest@insel.ch Universitätsklinik für Frauenheilkunde Abteilung Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin 3010 Bern Interessenkonflikte: keine. 10 GYNÄKOLOGIE 2/2020 SCHWERPUNKT Quellen: 1. S2k- Leitlinie, Diagnostik und Therapie vor einer assistierten reproduktionsmedizinischen Behandlung, 2018. 2. European Society for Human Reproduktion: ESHRE Guideline: management of women with premature ovarian insufficiency. Hum Reprod 2016; 31(5): 926–993. 3. Wittenberger MD et al.: The FMR1 premutation and reproduction. Fertil Steril 2007; 87(3): 456–465. 4. Zheng J et al.: Clinical manifestation and cytogenetic analysis of 607 patients with Turner syndrome. Zhonghua Yi Xue Yi Chuan Xue Za Zhi 2017; 34: 61–64. 5. Bryman I, Sylvén L, Berntorp K, Innala E, Bergström I, Hanson C, Oxholm M, Landin-Wilhelmsen K: Pregnancy rate and outcome in Swedish women with Turner syndrome. Fertil Steril 2011; 95: 2507–10. 6. 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