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KARDIOLOGIE
Neue Lipid-Guidelines bei zu hohem Cholesterinwert
Die LDL-C-Zielwerte wurden reduziert
Die LDL-C-Werte sollten so tief wie möglich gesenkt werden. Bei Patienten mit sehr hohem kardiovaskulären Risiko beträgt der Zielwert neu 1,4 mmol/l. Das ist einer der Kernpunkte der neuen Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) zum Management der Dyslipidämie, die am diesjährigen ESC-Kongress in Paris vorgestellt wurde.
Kardiovaskuläre Erkrankungen, hauptsächlich atherosklerotischer Natur, fordern jährlich vier Millionen Tote in Europa. Dieses Risiko kann mit einer Senkung des LDL-Cholesterins (LDL-C) reduziert werden, ungeachtet des Ausgangswerts. Das bedeute, dass eine Senkung des LDL-C bei Patienten mit sehr hohem Risiko für Herzinfarkt oder Hirnschlag effektiv sei, selbst wenn sie bereits tiefe Werte hätten, erklärte Prof. Colin Baigent, Vorsitzender der Guidelines-Task-Force und Direktor der MRC Population Health Research Unit, Universität Oxford (UK). Gemäss der Kommission existiere kein unteres Limit für LDL-C, das schädlich wäre. Lipidsenkerstudien hätten gezeigt, dass die relative Risikoreduktion proportional zur absoluten LDL-C-Reduktion stehe. Damit rechtfertigte sich das Credo «je tiefer, desto besser». Der LDL-C-Spiegel könne deshalb auf einen Wert von < 1,4 mmol/l gesenkt werden (Tabelle). Eine Reduktion auf die neuen Zielwerte beziehungsweise die Halbierung des Ausgangswerts soll mit einem effizienten Einsatz der heute verfügbaren pharmakologischen Mittel wie Statine, Ezetimibe und PCSK-9-Hemmer erreicht werden. Die Intensität der Senkung hängt vom Risiko ab, unabhängig von der Risikoursache (wie z.B. Diabetes, kardiovaskuläre Ereignisse) und vom LDL-C-Ausgangswert. Vier Risikoklassen Die Neuerung in den Guidelines seit 2016 betrifft die Stratifizierung der Patienten in Risikoklassen (Abbildung). Patienten mit atherosklerotisch bedingter kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD), Diabetes mit Endorganschäden, familiärer Hypercholesterinämie (FH), schwerer chronischer Nierenerkrankung oder einem SCORE-10-Jahrerisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Risiko von > 10 Prozent werden in die Risikoklasse
Empfohlene LDL-C-Zielwerte
Risikokategorie 2016 (bisher)
Sehr hohes Risiko Hohes Risiko Moderates Risiko Tiefes Risiko
< 1,8 mmol/l oder > 50% Reduktion bei LDL-C 1,8–3,5 mmol/l < 2,6 mmol/l oder > 50% Reduktion bei LDL-C 2,6–5,2 mmol/l < 3,0 mmol/l < 3,0 mmol/l
Quelle: ESC-Guidelines (modifiziert nach [1])
2019 (neu) < 1,4 mmol/l und > 50% Reduktion
< 1,8 mmol/l und > 50% Reduktion
< 2,6 mmol/l < 3,0 mmol/l
mit sehr hohem Risiko eingeteilt. Diesen Patienten soll eine intensive LDL-C-Senkertherapie angeboten werden. In der Klasse mit hohem Risiko sind Patienten mit markant erhöhten Einzelwerten betreffend Totalcholesterin (> 8 mmol/l), LDL-C (> 4,9 mmol/l) oder einem Blutdruck von über 180/110 mmHg. Ebenso Patienten mit einer Diabeteserkrankungsdauer von ≥ 10 Jahren mit und ohne Organschäden, einer chronischen Nierenerkrankung mit einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) von 30 bis 59 ml/min/1,73 m2 oder einem SCORE-10-Jahresrisiko von 5 bis 10 Prozent. Ein mittleres Risiko haben junge Patienten mit Diabetes (Typ 1 < 35 Jahre; Typ 2 < 50 Jahre) mit einer Krankheitsdauer von < 10 Jahren ohne weitere Risikofaktoren und einem SCORE-10-Jahrerisiko zwischen 1 und 5 Prozent. Ein tiefes Risiko weisen Personen mit einem SCORE-10-Jahrerisiko von unter 1 Prozent auf.
Empfohlene Pharmakotherapie
Statine sind sehr gut verträglich. Eine wirkliche Statinintoleranz sei vergleichsweise selten, erklärte Prof. François Mach, Erstautor der Guidelines und Direktor der Klinik für Kardiologie, Universitätsspital Genf (HUG). Statine können zu einigen wenigen Nebenwirkungen führen. Das betrifft ein erhöhtes Risiko für Diabetes und sehr selten eine Myopathie. Der Nutzen einer Statintherapie überwiegt das Risiko jedoch bei Weitem, auch bei Personen mit tiefem atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Risiko. Die Therapie soll deshalb mit hoch potenten Statinen in den höchsten verträglichen Dosierungen erfolgen (Empfehlungsklasse 1, Level A). Kann damit das LDL-C-Ziel nicht erreicht werden, ist eine Kombination mit Ezetimibe empfohlen (Klasse 1, Level B). In der Primärprävention kann bei Patienten mit sehr hohem Risiko, aber ohne FH ein PCSK9-Hemmer hinzugefügt werden, wenn der Zielwert mit Statin und Ezetimibe nicht erreicht werden kann (Klasse IIIb, Level C). In der Sekundärprävention bei Patienten mit sehr hohem Risiko, die unter Statin/Ezetimibe den Zielwert nicht erreichen, ist die Zugabe eines PCSK9-Hemmers empfohlen (Klasse I, Level A). Bei Patienten mit FH mit ASCVD oder einem anderen Hauptrisikofaktor ist die Zugabe eines PCSK9-Hemmers ebenfalls empfohlen, wenn die Kombination Statin/Ezetimibe nicht ausreicht (Klasse 1, Level C). Kommen Statine wegen Unverträglichkeit in keiner Dosierung infrage, auch nicht nach einem erneuten Versuch, sollte Ezetimibe erwogen werden (Klasse IIa, Level C), eventuell mit einem zusätzlichen PCSK9-Hemmer (Klasse IIb, Level C).
ARS MEDICI DOSSIER III | 2020
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KARDIOLOGIE
3,0 mmol/l 2,6 mmol/l
& ≥ 50% Reduktion
des Ausgangswerts
1,8 mmol/l 1,4 mmol/l
• SCORE < 1%
Tief
• SCORE ≥ 1 bis < 5% • junge Patienten (Typ-1-Diabetes < 35 Jahre; Typ-2-Diabetes < 50 Jahre) mit einer Diabetes-mellitus-Erkrankungsdauer
< 10 Jahre und ohne andere Risikofaktoren
Moderat
Hoch
• SCORE ≥ 1 bis < 5% • deutlich erhöhte einzelne Risikofaktoren, insbesondere TC > 8 mmol/l oder LDL-C > 4,9 mmol/l oder Blutdruck ≥ 180 mmHg • FH ohne andere Hauptrisikofaktoren • moderate CKD (eGFR 30–59 ml/min) • Diabetes mellitus mit/ohne Endorganschäden, Diabeteserkrankungsdauer ≥ 10 Jahre oder zusätzliche Risikofaktoren
Sehr hoch
• ASCVD (klinisch/radiologisch) • SCORE ≥ 10% • FH mit ASCVD oder einem anderen Hauptrisikofaktor • schwere CKD (eGFR < 30 ml/min) • Diabetes mellitus mit Endorganschaden: ≥ 3 Hauptrisikofaktoren oder frühe Entwicklung eines Typ-1-Diabetes (> 20 Jahre)
Tief Moderat
Hoch
Sehr hoch
Abkürzungen: TC: Totalcholesterin; LDL-C: LDL-Cholesterin; FH: familiäre Hypercholesterinämie; CKD: chronische Nierenerkrankung; eGFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate; ASCVD: atherosklerotisch bedingte kardiovaskuläre Erkrankung
Abbildung: Behandlungsziele des LDL-Cholesterins (modifiziert nach [1])
Bei Hochrisikopatienten mit einer Hypertriglyzeridämie (TG > 2,3 mmol/l) sollen Statine zum Einsatz kommen (Klasse 1, Level B). Bleiben die Werte trotz Statinen auf einem Niveau zwischen 1,5 und 5,6 mmol/l, soll zusätzlich ein n-3-PUFA (Icosapent ethyl 2 × 2 g/Tag) gegeben werden (Klasse IIa, Level B).
Vorgehen bei speziellen Populationen
Bei älteren Patienten mit ASCVD ist die Statintherapie gleichermassen empfohlen wie bei jüngeren Patienten (Klasse 1, Level A). Zur Primärprävention ist sie für Patienten bis 75 Jahre empfohlen, bei über 75-Jährigen soll dagegen keine neue Statintherapie mehr begonnen werden (Klasse 1, Level A), ausser bei hohem Risiko (Klasse IIb, Level B). Besteht eine signifikante Einschränkung der Nierenfunktion oder ein Potenzial für Interaktionen, ist eine schrittweise Auftitrierung bis zum Erreichen des Behandlungsziels angezeigt (Klasse 1, Level C). Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und sehr hohem Risiko sind eine Senkung des LDL-C-Werts um mindestens 50 Prozent und ein Zielwert von < 1,4 mmol/l empfohlen (Klasse 1, Level A), bei hohem Risiko ein Zielwert von < 1,8 mmol/l (Klasse 1, Level B). Bei Typ-1-Diabetikern mit sehr hohem oder hohem Risiko sind Statine zur Risikoreduktion empfohlen. Patienten mit sehr hohem Risiko mit akutem Koronarsyndrom sollten so früh wie möglich hoch dosierte Statine erhalten, unabhängig vom LDL-C-Wert (Klasse 1, Level A). Die Werte sind vier bis sechs Wochen nach dem akuten Ereignis daraufhin zu kontrollieren, ob der LDL-C-Wert um mindestens die Hälfte gesenkt und das Ziel < 1,4 mmol/l erreicht werden konnte (Klasse IIa, Level C). Ist das nicht der Fall, ist ein Zusatz von Ezetimibe empfohlen (Klasse 1, Level B). Reicht auch das nicht aus, braucht es einen PCSK9-Hemmer (Klasse 1, Level B). Haben Patienten eine elektive oder notfallmässige perkutane Intervention vor sich, empfehlen die Guidelines eine routine-
mässige Vorbehandlung oder eine Anfangsdosis mit hoch dosierten Statinen (Klasse IIa, Level B). Patienten mit vorgängigem ischämischen Hirnschlag oder transitorischer ischämischer Attacke mit sehr hohem Risiko für ASCVD, insbesondere erneute ischämische Hirnschläge, sollten eine intensive LDL-C-Senker-Therapie erhalten (Klasse 1, Level A). Patienten mit chronischer Nierenerkrankung im Stadium 3 bis 5 haben ein hohes bis sehr hohes ASCVD-Risiko. Solange sie nicht dialyseabhängig sind, ist eine Statin/Ezetimibe-Therapie empfohlen (Klasse 1, Level A). Wird bei bestehender Lipidsenkertherapie eine Dialyse begonnen, soll die Lipidsenkung weitergeführt werden (Klasse IIa, Level C). Bei dialyseabhängigen Patienten ohne ASCVD ist ein Beginn mit Statinen dagegen nicht angezeigt (Klasse III, Level A).
Mit Bildgebung Atheroskleroselast bestimmen
Wenn bei Personen mit niedrigem oder moderatem Risiko
nicht ganz klar ist, inwieweit eine Atherosklerose besteht,
empfiehlt die ESC-Guideline, dieses Risiko neu mittels Bild-
gebung zu bestimmen. Die Plaquebelastung in der A. carotis
oder femoralis solle dabei mit Ultraschall erhoben werden,
die Koronarverkalkung bei asymptomatischen Patienten mit
tiefem bis moderatem Risiko (CAC-Score) mittels CT, er-
klärte Prof. Victoria Delgado vom Leiden University Medical
Center (NL).
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Valérie Herzog
Quelle: «New ESC-Guidelines», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2019, 31. August bis 4. September 2019 in Paris.
Referenzen: 1. Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipi-
daemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J 2019, Aug 31; doi:10.1093/eurheartj/ehz467.
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