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Schwerpunkt
Palliative Care für Kinder oder Erwachsene
Unterschiede und Gemeinsamkeiten – ein Erfahrungsbericht
Palliativmedizin ist Palliativmedizin, könnte man meinen. Weit gefehlt! In diesem Artikel werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Palliativmedizin für Kinder und Erwachsene zusammengefasst und über Erfahrungen berichtet, welche die Autorin als Palliativmedizinerin für Kinder in der Palliative Care mit Erwachsenen gemacht hat.
Von Erika Süess
Die Definition von Palliative Care ist altersunabhängig dieselbe: Der verbleibenden Lebenszeit soll möglichst viel Lebensqualität gegeben werden. Dazu gehört auch, das Betreuungssystem zu unterstützen und früher oder später den Sterbeprozess zu begleiten. Auf der Suche nach einer einheitlichen und verbindlichen Definition des palliativen Patienten wird klar, dass es diese nicht gibt. Je nach Autor variieren die Kriterien. Bei Kindern erleichtert die Einteilung lebenslimitierender Erkrankungen in die international gebräuchlichen vier Gruppen nach ACT (Association for Children with Life-Threatening or Terminal Conditions and their Families) die Einschätzung eines möglichen Verlaufs und des teilweise sehr unterschiedlichen Versorgungsbedarfs. Doch ob es sich nun um Erwachsene oder Kinder handelt – der Übergang des Perspektivenwechsels von der kurativen Therapie zur palliativen Begleitung ist immer schwierig. Patienten und ihre Familien müssen sich plötzlich mit dem Lebensende und der verbleibenden Zeit auseinandersetzen. Wir Ärzte, darin geschult, Leben zu retten und zu erhalten, können und sollen nichts anderes mehr tun, als für die Erkrankten da zu sein und Symptome zu behandeln.
Todesfälle und ihre Ursachen in der Schweiz
Gemäss Angaben des Bundesamtes für Statistik starben im Jahr 2017 in der Schweiz bei einer ständigen Wohnbevölkerung von rund 8,5 Millionen Einwohnern knapp 67 000 Personen (0,8% der Gesamtbevölkerung). Die häufigsten Ursachen aller Todesfälle waren Herz-Kreislauf- (31,4%) und onkologische Erkrankungen (25,8%). Weitere häufige Todesursachen wie Demenz, Erkrankungen der Atemwege und äussere Ursachen machten jeweils weniger als 10 Prozent der Todesfälle aus. 61 Prozent der im Jahr 2017 verstorbenen Personen waren über 80-jährig, 26 Prozent starben im Alter zwischen 65 und 79 Jahren, etwa 11 Prozent zwischen 40
und 64 Jahren. Bei 1,3 Prozent der Todesfälle handelte es
sich um junge Erwachsene zwischen 20 und 39 Jahren,
und 0,3 Prozent aller Todesfälle betrafen Kinder und
Jugendliche zwischen 1 und 19 Jahren und 0,5 Prozent
Kinder im ersten Lebensjahr.
Gemäss Angaben der PELICAN-Studie (s. auch Seite 17
in diesem Heft) sterben in der Schweiz jährlich 400 bis
500 Kinder bis zum Alter von 18 Jahren. Davon verstirbt
die Hälfte im ersten Lebensjahr und davon wiederum
40 Prozent in den ersten 4 Lebenswochen. Neugeborene
versterben an den Folgen der Frühgeburtlichkeit oder an
Fehlbildungen. Nach dem ersten Lebensjahr sind Todes-
ursachen hauptsächlich neurologisch bedingt, danach
folgen onkologische und kar-
diale Erkrankungen. Bei Schulkindern und Jugendlichen machen Unfälle beinahe die Hälfte aller Todesfälle aus.
In der Kinderpalliativmedizin betreuen wir die Patienten viel länger.
Dieses völlig unterschiedliche
Spektrum an Todesursachen in bestimmten Lebensab-
schnitten erklärt die vollkommen unterschiedlichen Erfor-
dernisse der Palliative Care für Erwachsene und Kinder.
Unterschiedlich lange Lebensphasen mit Palliative Care
Bei den Erwachsenen dauert die Lebensphase mit Palliative Care meist nur wenige Tage bis einige Monate. Bei Kindern reicht die Krankheitsdauer zwischen der Indikationsstellung für eine pädiatrische Palliative Care und dem Tod gemäss PELICAN-Studie von wenigen Stunden bis zu 14 Jahren. Am längsten nach Diagnosestellung leben Kinder mit neurologischen Krankheitsbildern. Diese Tatsache macht einen der grossen Unterschiede zwischen Palliative Care für Erwachsene und pädiatrischer Palliative Care für Kinder aus. In der Kinderpalliativmedizin betreuen wir die Patienten viel länger, zum Teil sogar so lange, bis Palliativmediziner für Erwachsene die Weiterbetreuung übernehmen. Die Transition ist in der
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Palliativmedizin wie auch in vielen anderen Gebieten der Medizin eine schwierige Phase*. Auch hier fallen junge Erwachsene oder auch Erwachsene im Berufsalter meiner Erfahrung nach immer wieder durch die Maschen des Versorgungsnetzes. Es gibt kaum Einrichtungen für dieses Lebensalter. Eine 30-jährige Patientin mit einem Hirntumor in ein Alters- und Pflegeheim verlegen zu müssen, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt, scheint mir persönlich unangemessen.
Wo wird gestorben?
Verschiedene Studien und Befragungen zeigen, dass die
meisten Menschen am liebsten zu Hause sterben möch-
ten, das aber oft nicht so ist.
Von 2006 bis 2011 traten gemäss Daten des Bundesam-
tes für Gesundheit rund 45 Prozent der Todesfälle bei
Männern im Spital ein, bei den Frauen waren es 35 Pro-
zent. Mehr Frauen
Mit spezialisierten ambulanten Palliativteams könnten viele Hospitalisationen vermieden werden.
(50%) als Männer (27%) verstarben in einem Alters- oder Pflegeheim. An anderen Orten (z. B. zu
Hause) ereigneten sich 28 Prozent der Todesfälle von
Männern, bei den Frauen waren es 15 Prozent. Je nach
Kanton bestehen allerdings grosse Unterschiede bezüg-
lich des Sterbeortes.
Die PELICAN-Studie zeigte, dass 62 Prozent der Kinder
auf einer Intensivstation, 21 Prozent auf einer anderen
Spitalabteilung und 17 Prozent zu Hause versterben.
Erwachsene versterben also deutlich häufiger in einer
gewohnten Umgebung, sei es zu Hause oder in einem
Alters- oder Pflegeheim, als Kinder.
Aus Deutschland kenne ich das Konzept der Kinderhos-
pize. Sie bieten Familien mit kranken Kindern die Mög-
lichkeit, in dieser Einrichtung gemeinsam Urlaub machen
zu können, sich als «normale» Familie zu erleben und
den Sohn oder die Tochter professionell umsorgt zu wis-
sen. Das ist sehr wichtig für die Eltern. Oft können sie nur
so das Kind in andere Obhut geben und die Zeit für sich
selbst zur Erholung nutzen. Wenn es dem Lebensende
entgegengeht, bietet sich
Die Finanzierung wichtiger Bestandteile der Palliativmedizin ist schwierig.
im Hospiz die Möglichkeit, dass das Kind in einer häuslichen Umgebung mit professioneller
Begleitung sterben kann.
Nicht immer können sich Eltern in der letzten Lebens-
phase das Versterben zu Hause gut vorstellen, auch wenn
sie es sich zu Beginn einer Erkrankung gewünscht hatten.
Eine weitere Möglichkeit sind spezialisierte ambulante
Palliativteams. Ich war ein Jahr in Deutschland als Ärztin
im SAPV-Team (spezialisierte ambulante Palliativversor-
gung) des Kinderpalliativzentrums an der Vestischen Kin-
der- und Jugendklinik in Datteln tätig. Wir versorgten
unsere kleinen Patienten in einem Radius von etwa 120
km, rund um die Uhr mit einem organisierten Pikettdienst
in einem Pflege-Arzt-Team. Das bot den Familien die
Möglichkeit, das Kind so lange wie möglich zu Hause zu
betreuen, und es verhinderte meiner Meinung nach viele
*Lesetipp: Schwerpunktausgabe der PÄDIATRIE zum Thema «Transition»:
https://www.rosenfluh.ch/paediatrie-2019-05–06
Hospitalisationen. Wenn es dem Lebensende entgegenging, war es oft möglich, dass das Kind mit professioneller Betreuung zu Hause versterben konnte.
Finanzierung als Problem
In Deutschland werden viele der anfallenden Kosten über Spenden finanziert, die aufwendig eingeworben werden müssen. Auch in der Schweiz erlebe ich immer wieder, dass Palliativmedizin insbesondere im Kinderbereich immer wieder über Spenden finanziert werden muss. Palliative Care ist ein Versorgungskonzept, aber kein Begriff der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Im Leistungskatalog nicht vorgesehene Massnahmen (z. B. psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung) werden nicht vergütet, sind aber sehr wichtige Bestandteile der Palliativmedizin. Hinzu kommt, dass die Versorgung von Kindern oft deutlich komplexer ist als die der Erwachsenen. Viele Therapierichtungen wie Logopädie, Heilpädagogik, Früherziehung, Physiotherapie, Lehrerschaft und verschiedene Subspezialitäten von Ärzten sind involviert. Ein Rundtischgespräch in der pädiatrischen Palliativmedizin dauert häufig deutlich länger als in der Erwachsenenpalliativmedizin. Muss über die Krankenkasse abgerechnet werden und überschreiten diese Rundtischgespräche die maximal vorgegebene Zeit der Ziffer «ärztliche Tätigkeit in Abwesenheit des Patienten», erfolgen diese wichtigen Gespräche letztlich in der Freizeit der behandelnden Ärzte. Bei Kindern besteht oft ein Geburtsgebrechen, welches über die Invalidenversicherung (IV) abgerechnet werden kann. Das macht die Finanzierung zum Teil einfacher, weil die IV die strikten und eng gesteckten zeitlichen Einschränkungen der Krankenversicherung nicht kennt.
Unterschiedliche Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen in der Palliative Care
Ich habe sowohl in der Kinder- als auch in der Erwachsenenpalliativmedizin Erfahrungen gesammelt. Zunächst hatte ich, wie bereits erwähnt, ein Jahr am Kinderpalliativzentrum in Datteln, Deutschland, gearbeitet. In der Schweiz war zwischenzeitlich der Schwerpunkt Palliativmedizin entstanden, für den mindestens zwei Jahre beruflicher Tätigkeit im Palliativbereich nachzuweisen sind. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz arbeitete ich zunächst sechs Monate als Oberärztin im Kinderspital Zürich als Stellvertretung einer Ärztin im Mutterschaftsurlaub. Da es mir kaum möglich erschien, die geforderte Weiterbildungszeit im Kinderpalliativbereich zu erreichen, absolviere ich nun die restliche Zeit in der Erwachsenenpalliativmedizin im Palliativzentrum Hildegard, Basel. Ich bin erstaunte und teilweise auch entsetzte Blicke gewohnt, wenn ich die Frage, was ich beruflich mache, ehrlich beantworte. Deshalb weiche ich im privaten und zum Teil auch im beruflichen Umfeld der Frage je nach Situation aus und beantworte sie mit «Kinderärztin». Daran, dass mich nun fast dieselben Blicke treffen, wenn ich Palliativmedizinern für Erwachsene erzähle, dass ich eine Palliativmedizinerin für Kinder bin, musste ich mich erst gewöhnen. Ich erlebe die palliative Begleitung von Kindern und ihren Familien meistens als sehr bereichernd. Beispielsweise erinnere ich mich an einen 10-jährigen Jungen mit einer Stoffwechselerkrankung mit Herzinsuffizienz. Er war durch seine Herzinsuffizienz so eingeschränkt, dass
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er nur noch vor seiner Spielkonsole sitzen und die Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Durch die Anpassung seiner kardialen Medikation und die Verabreichung eines Opiats gingen die Symptome rasch so weit zurück, dass er wieder zur Schule gehen und mit seinen Freunden auf dem Spielplatz spielen konnte. Das wiedererweckte Lachen, dieses trotz Krankheit sprühende Leben – das sind die Geschenke, die die Kinderpalliativmedizin für mich bereithält. Ich erlebe die Arbeit in der Kinderpalliativmedizin oft als sehr lebensnah, lebensbejahend und erfahre immer wieder Lebensfreude auch in schwierigen Situationen. Anders erlebe ich die Palliative Care für Erwachsene, die ich bis jetzt allerdings nur im stationären Bereich kenne. Die Familiensysteme scheinen mir hier kleiner. Sie bestehen zwar oft aus Lebenspartnern und Kindern, aber immer wieder treffe ich auch auf sehr vereinsamte Menschen ohne soziales Umfeld. Fördernde Therapierichtungen, wie beispielsweise die Logopädie, sind bei Erwachsenen seltener involviert. Auch wenn der Fokus bei den Erwachsenen ebenfalls auf der Lebensqualität liegt, sind die Ziele der Palliative Care bei ihnen doch andere. Oft ist es auch unsere Aufgabe, mithilfe des Sozialdienstes zu schauen, wo ein Mensch seine letzten Tage verbringen kann. So ist das Palliativzentrum Hildegard ein Spital und keine Langzeitpflegeeinrichtung, und wir müssen die Patienten in ein Altersund Pflegeheim verlegen, wenn die medizinische Betreuung nicht mehr im Vordergrund steht und der Patient auf einem gewissen Niveau stabil ist. Im Gegensatz dazu ist aus meiner Sicht der Ort der Versorgung von Kindern oft klarer, und sie wird zu Hause oder in der gewohnten Institution fortgeführt. Wenn es um das Sterben geht, geschieht das allerdings, wie die PELICAN-Studie zeigte, häufig nicht im häuslichen Setting. Die Arbeit mit Erwachsenen und Kindern scheint ähnlich und ist oft doch sehr unterschiedlich. Für mich sind es
zwei völlig verschiedene Welten, aber beide Bereiche können sehr viel voneinander lernen und profitieren. Insbesondere bei jungen Erwachsenen wäre eine enge Zusammenarbeit für eine optimale Versorgung sehr wünschenswert. Es gibt schon viele vorhandene Strukturen, die besser genutzt oder ausgebaut werden könnten – man muss nicht immer das Rad neu erfinden; trotzdem wird die Strukturarbeit zeitintensiv bleiben. Ich wünsche mir sehr, dass wir in der Schweiz und international weiter an einem guten Miteinander arbeiten, dass sich verschiedene Teams landesweit koordinieren und die Ressourcen gemeinsam nutzen, um Kräfte und Energie zu sparen. Nur so können wir uns meiner Meinung nach auch politisch mehr Gehör verschaffen: Wie kann es beispielsweise sein, dass Palliativmedizin so oft von Spenden abhängig ist, und das in der Schweiz? Mit einer guten Zusammenarbeit erlangt unser Anliegen mehr Gewicht, sodass wir besser für unsere Tätigkeit, unsere Patienten und ihr Umfeld einstehen können – für eine menschliche und professionelle Versorgung in einer für die Betroffenen schwierigen Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass diese Versorgung auch einen grossen Nutzen für die Menschen im Umfeld eines palliativ erkrankten Patienten hat. Unsere Arbeit sollte wie ein Tropfen sein, der auf eine glatte Wasseroberfläche trifft und so weite Kreise zieht.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Erika Süess Palliativzentrum Hildegard St.-Alban-Ring 151 4052 Basel E-Mail: erika.sueess@gmx.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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