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FORTBILDUNG
Schwere Depressionen: Aktuelle klinische und therapeutische Perspektiven
Psychotherapeutische, medikamentöse und somatische Behandlungsoptionen
Weltweit ist die Depression ein gravierendes Gesundheitsproblem mit hoher Prävalenz. Insbesondere schwere Depressionen beeinträchtigen den Alltag der betroffenen Patienten erheblich. Neue Erkenntnisse haben zu einer Verbesserung der Behandlungsoptionen geführt, doch bleiben in der Therapie schwerer Depressionen weiterhin Wünsche offen.
LANCET
Die schwere Depression (Major Depressive Disorder) weist eine Einjahresprävalenz von 6,6 Prozent und eine Lebenszeitprävalenz von 16,2 Prozent auf. Die schwere Depression wird bei Frauen doppelt so häufig beobachtet wie bei Männern, und sie führt zu erheblichen Beeinträchtigungen, die
Merksätze
❖ Laut einer aktuellen Studie sind die interpersonelle Psychotherapie und die kognitive Verhaltenstherapie bei Major Depression im Schnitt gleich effektiv.
❖ Die kognitive Verhaltenstherapie kann auch via Telefon oder Internet eingesetzt werden.
❖ Die problemlösungsorientierte Therapie eignet sich möglicherweise in der Primärversorgung besonders gut zur Behandlung der Depression.
❖ In einer grossen amerikanischen Studie mit depressiven Patienten, in der ein vierstufiges Behandlungsschema eingesetzt wurde, wurde eine kumulative Remissionsrate von 67 Prozent erzielt.
❖ Mit Agomelatin steht eine neue Substanz zur Behandlung der Depression zur Verfügung.
❖ Die transkranielle Magnetstimulation ist von der FDA zur Therapie der Major Depression zugelassen.
❖ Obwohl in den letzten Jahren Fortschritte erzielt wurden, gibt es keine vollkommen zufriedenstellende Therapie der schweren Depression.
denjenigen durch Angina pectoris, Diabetes oder Asthma äquivalent sind. Depressionen treten nicht selten bei Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen auf, was von Hausärzten beachtet werden sollte. Einige Risikofaktoren für das metabolische Syndrom (z.B. Adipositas) können auch das Risiko für eine Depression erhöhen; umgekehrt fördert eine Depression die Entwicklung einer Adipositas. Diese Zusammenhänge sind möglicherweise auch der Grund dafür, dass es zwischen Depression und koronarer Herzkrankheit eine deutliche Assoziation gibt. Darüber hinaus zeigen aktuelle Studien, dass eine klinische Depression das Diabetesrisiko bei älteren Menschen um 65 Prozent erhöht. Diese Studien belegen, wie wichtig es ist, Depressionen bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen zu erkennen und zu behandeln.
Neue therapeutische Entwicklungen Depressionsspezifische Psychotherapieverfahren Sowohl die medikamentöse Therapie als auch die manualorientierte depressionsspezifische Psychotherapie stellen effektive Behandlungsmethoden der unipolaren Depression dar – entweder als Monotherapie oder in Kombination. Studien weisen darauf hin, dass die interpersonelle Psychotherapie allein oder in Kombination mit einer medikamentösen Therapie in der Akutbehandlung der Depression wirksam ist. In einer klinischen Studie, an der stationär behandelte Patienten mit Depression teilnahmen, war die Ansprechrate im Vergleich zu einer alleinigen medikamentösen Behandlung höher, wenn die Patienten eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie erhielten. Die Effekte der akuten interpersonellen Psychotherapie können auch nach der Remission noch anhalten. Einige neuere europäische und amerikanische Studien stützen die akute Wirksamkeit der kognitiven Therapie und belegen, dass sie sich als Intervention zum Erreichen einer kompletten Remission und zur Reduktion des Rezidivrisikos eignet. Die Forschung weist zudem darauf hin, dass die kognitive Verhaltenstherapie auch über neue therapeutische Wege eingesetzt (z.B. via Telefon oder Internet) werden kann, die den speziellen Bedürfnissen der Primärversorgung entgegenkommen. In einer randomisierten klinischen Studie wurde die kognitive Verhaltenstherapie mit der interpersonellen Psychotherapie bei Patienten mit Major Depression verglichen. Es zeigte sich, dass die beiden Verfahren im Durchschnitt gleich effektiv waren. Doch schnitten in der Subgruppe der Patienten mit schwerer Depression (Montgomery-Åsberg-Depression Rating
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FORTBILDUNG
Suizidrisiko unter SSRI?
In den letzten Jahren wurde viel über die Sicherheit von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) diskutiert, weil in Studien mit Adoleszenten eine potenzielle Assoziation zwischen SSRI-Therapie und Suizidideationen beziehungsweise suizidalem Verhalten beschrieben wurde. Einige Studien lassen vermuten, dass Erwachsene, die mit SSRI behandelt wurden, nicht häufiger Suizidversuche unternehmen oder Suizid begehen als Erwachsene, die nicht mit einem Antidepressivum behandelt werden. Andere Studien berichten jedoch über eine geringere Rate an Suizidversuchen bei Erwachsenen, die eine Therapie mit einem SSRI – insbesondere Sertralin – begannen. Bei über 200 000 Veteranen mit Depression war die Rate der Suizidversuche nach Beginn einer SSRIBehandlung geringer als davor und auch geringer als unter anderen Antidepressiva oder ohne medikamentöse antidepressive Therapie. Dennoch sollte man trotz dieser Befunde vorsichtig sein, eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen.
Scale [MADRS] Score > 30) diejenigen besser ab, die der kognitiven Verhaltenstherapie zugeordnet worden waren: Sie wiesen im Vergleich zu den Patienten, die mit interpersoneller Psychotherapie behandelt wurden, eine bessere Ansprechrate auf, und ihr MADRS-Score besserte sich deutlicher. Für Patienten, die bereits drei oder mehr depressive Episoden durchgemacht haben, bietet die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie, die mit der Standardbehandlung kombiniert wird, einen zusätzlichen Nutzen. Die problemlösungsorientierte Therapie kann in der Depressionsbehandlung ebenso effektiv wie alternative Psychotherapieverfahren oder Antidepressiva und effektiver als Kontrolltherapien sein, und sie ist möglicherweise in der Primärversorgung besonders gut geeignet.
Antidepressive Pharmakotherapie In den USA werden Antidepressiva häufig eingesetzt. Im Jahr 2005 waren sie die in Praxen und Klinikambulanzen am häufigsten verordnete Medikamentenklasse. Die Ergebnisse der gross angelegten STAR*D-Studie (Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression) wurden im Jahr 2006 veröffentlicht. Bei der STAR*D-Studie handelt es sich um eine praktisch-klinische Studie mit breiten Einschlusskriterien, was zu einer hochrepräsentativen Stichprobe der US-amerikanischen Bevölkerung führte. Die Studie wurde sowohl in psychiatrischen als auch in Settings der Primärversorgung durchgeführt. In der STAR*D-Studie wurden bis zu vier aufeinanderfolgende Behandlungsstufen vorgesehen, wobei von einer Behandlung auf eine andere gewechselt oder aber zusätzlich ein weiteres Medikament oder kognitive Psychotherapie in Anspruch genommen werden konnte. Angestrebt wurde nicht nur ein Ansprechen auf die Behandlung, sondern eine volle Remission. Die Remissionsraten in den Stufen eins bis vier waren mit 36,8, 30,6, 13,7 beziehungsweise 13,0 enttäuschend; nach allen vier Therapiestufen wurde eine kumulative Remissionsrate von 67 Prozent erzielt. Diese Raten sind im Vergleich zu denjenigen in Wirk-
samkeitsstudien mit Antidepressiva niedrig, was darauf hinweist, dass die meisten Patienten unter Praxisbedingungen eine mehrstufige Therapie benötigen, um eine Remission zu erreichen. Weder soziodemografische noch klinische Merkmale modifizierten den Effekt verschiedener Folgetherapien, nachdem der erste Versuch einer Akutbehandlung erfolglos verlaufen war. In den ersten beiden Stadien der Akutbehandlung wurden keine Unterschiede der Behandlungsergebnisse zwischen dem psychiatrischen Setting beziehungsweise dem Setting der Primärversorgung festgestellt, was dafür spricht, dass Patienten mit weniger komplexer Depression gut von Ärzten der Primärversorgung behandelt werden können. Es wurden zahlreiche Studien durchgeführt, in denen die Kombination verschiedener Antidepressiva oder die Kombination aus Antidepressiva und Neuroleptika untersucht wurden, doch sollte man solche Kombinationen nicht unbedingt als Erstlinientherapie empfehlen. Auch scheint es eine Diskrepanz zwischen den Gepflogenheiten in der Praxis und der Evidenz für eine Kombinationstherapie zu geben. Lithiumkarbonat wird weiterhin als Augmentationsstrategie eingesetzt, und Neuroleptika der zweiten Generation wurden umfassend untersucht. Für die Behandlung der therapieresistenten Depression werden Aripiprazol, Quetiapinfumarat und die Kombination aus Olanzapin und Fluoxetin empfohlen. Eine Neuerung ist die Einführung von Agomelatin, ein Melatoninagonist und 5-HT2C-Rezeptor-Antagonist. Für Agomelatin konnte ein im Allgemeinen vorteilhaftes Sicherheitsund Wirksamkeitsprofil nachgewiesen werden. Damit steht für Patienten, die auf herkömmliche Medikamente nicht angesprochen haben oder diese nicht vertragen, eine vielversprechende Alternative zur Verfügung. Plazebokontrollierte Studien haben ergeben, dass Agomelatin sowohl in der Akutbehandlung als auch in der Erhaltungstherapie der Major Depression wirksam ist.
Neue somatische Behandlungsmöglichkeiten Zwar befindet sich die tiefe Hirnstimulation noch im frühen experimentellen Stadium und ist weder von der FDA noch von der EMA zugelassen, doch stellt sie eine vielversprechende Behandlungsoption für die therapieresistente Depression dar. Bei der tiefen Hirnstimulation werden Elektroden bilateral in das Gehirn implantiert und mit einem internen Pulsgenerator verbunden. Diese Massnahme ist reversibel, und die Stimulation kann auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden. Wahrscheinlich wirkt die tiefe Hirnstimulation, indem sie die Neurotransmission in bestimmten Hirnarealen moduliert. Die transkranielle Magnetstimulation (TMS) ist von der FDA für die Behandlung der schweren Depression zugelassen, besonders für Patienten, die auf eine medikamentöse antidepressive Behandlung nicht angesprochen haben. Zwar gilt die TMS als sicher und gut verträglich, doch kann es in seltenen Fällen zu Krampfanfällen kommen. Die TMS baut ein magnetisches Feld um das Gehirn auf. Der linke und rechte präfrontale Kortex ist ein bevorzugtes Areal für die TMS bei Depression. Einige Studien weisen darauf hin, dass die TMS zu ähnlich ausgeprägten Effekten führt wie eine Behandlung mit Antidepressiva. Doch scheint die repetitive TMS weniger wirksam zu sein als die elektrokonvulsive Therapie.
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FORTBILDUNG
Fortschritte der neurobiologischen Forschung Aktuelle Untersuchungen haben neue Erkenntnisse über die genetischen, molekularen und neurostrukturellen Grundlagen der schweren Depression gebracht. Depressionsforscher hoffen, dass es in Zukunft gelingt, Zusammenhänge zwischen Genen, Molekülen, neuralen Strukturen und Verhalten zu identifizieren und damit unser Verständnis der zugrunde liegenden Pathomechanismen zu verbessern und das Ansprechen auf die verschiedenen Behandlungsoptionen vorherzusagen. Zusammenhänge zwischen genetischen Varianten neurotropher Faktoren und unterschiedlichen Konzentrationen dieser Faktoren sowie strukturellen und funktionellen Varianten in
Hirnregionen, welche die Regulation von Stimmungen, asso-
ziiertem Verhalten und neurokognitiven Funktionen unter-
stützen, sind gut dokumentiert. Diese Varianten bewirken
möglicherweise, dass Patienten nicht auf Therapien anspre-
chen, die von einer intakten Neurokognition abhängen (wie
z.B. die kognitive Verhaltenstherapie).
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Andrea Wülker
David J Kupfer et al.: Major depressive disorder: new clinical, neurobiological, and treatment perspectives. Lancet 2012; 379:1045–1055.
Interessenlage: Einer der Autoren gibt an, Mitglied des Advisory Board eines Pharmaunternehmens zu sein. Die übrigen Autoren, darunter der Erstautor, erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
BUCHREZENSION
Diagnostik und Therapie bei Schwindel
Das Symptom Schwindel kann vielerlei Ursachen haben: eine spezifische Störung des Gleichgewichtssystem, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Durchblutungsstörungen oder auch Unfallfolgen, um nur einige der möglichen Gründe zu nennen. Das übersichtlich gestaltete und prägnant formulierte Buch «Gleichgewichtsstörungen – Diagnostik und Therapie beim Leitsymptom Schwindel» ist eine grosse Hilfe, um sich im diagnostischen Labyrinth der Abklärung von Gleichgewichtsstörungen nicht zu verirren. Nach einem einführenden Kapitel zur Neuroanatomie und -physiologie des Gleichgewichtssystems werden in zwei Kapiteln Anamnese, grundlegende und zusätzliche Untersuchungen ausführlich erläutert. Liegt dem Symptom eine Erkrankung des vestibulären Systems zugrunde, bietet das Kapitel «Erkrankungen des vestibulären Systems und ihre Therapie» einen Überblick zu den Behandlungsmöglichkeiten. Auch den therapeutischen Optionen bei sonstigen Erkrankungen mit dem Leitsymptom Schwindel ist ein Kapitel gewidmet. Hier gehen verschiedene Autoren der jeweiligen Fachrichtung unter anderem auf altersspezifische Aspekte ein (Schwindel bei Kindern oder bei alten Menschen) sowie auf die psychischen Ursachen von Schwindel, ophthalmologische Störungen und den Schwindel bei internistischen Erkrankungen. Das Kapitel zur ärztlichen Begutachtung von Gleichgewichtsstörungen ist leider nur auf die Verhältnisse in Deutschland
zugeschnitten, doch ist dies der einzige Punkt, den die Lese-
rinnen und Leser in der Schweiz vermissen dürften.
Ein Pluspunkt des Buches ist die zusätzliche Online-Angebot,
das mit einem eingedruckten, individuellen Zugangscode ver-
fügbar wird. Hier findet man eine Auswahl an Trainingsvideos,
eine Fotoanleitung für den Standard-Balance-Defizit-Test
(SBDT) und Fragebögen zum Download.
RBO❖
Arne Ernst und Dietmar Basta: Gleichgewichtsstörungen. Diagnostik und Therapie beim Leitsymptom Schwindel. Thieme Verlag Stuttgart 2011. 156 Seiten, 139 Abbildungen, 17 Tabellen, gebunden. Mit zusätzlichem Online-Angebot. 126 Fr. ISBN 978-3-13-154531-2.
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