Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
ARSENICUM
Erster!
S chon früh werden wir zum Siegen sozialisiert. «The winner takes it all», gilt bereits im Vorkindergartenalter. Deshalb brüllen schon die Kleinsten «Erster!», wenn sie durchs Ziel sackhüpfen. Trotz tapferer Teambildungsarbeit engagierter PrimarlehrerInnen werden wir unser Leben lang in Rang- und Wartelisten eingeteilt und wollen andere ausstechen, hinter uns lassen – auf Kosten der Solidarität und der Gemeinschaft. Viele verinnerlichen ihre Rangfolge, bemessen gar ihren Wert danach. An Stammtischen erzählen arthrotische Graubärte noch immer bierernst, welche Punkte sie mit ihrem Fussballdrittligisten im Teenageralter erspielten. Gebotoxte ewige Enddreissigerinnen legen Wert darauf, dass sie im Anno dazumal, welches sie nicht beziffern – vermutlich, weil es mehr als dreissig Jahre zurückliegt –, den Vize-MissTitel im Schönheitswettbewerb ihres Kantons gewonnen haben. Hochschulprofessoren bibbern um ihren «Impact Factor». Völlig egal, ob das, was sie erforscht haben, wirklich publikationswürdig ist: «Publish or perish», veröffentlichen, so viel Lärm machen, dass man gehört wird, der Lauteste, Geschwätzigste sein. Im Lebenslauf eines inzwischen pensionierten habilitierten Mediziners führte dieser alle Plätze auf, die er jemals bei Bewerbungen auf Lehrstühle erreicht hatte, so den Secundo Loco einer Schweizer Alma mater und den Duodecimo Loco einer provinziellen deutschen Universitätsstadt. Ordinarius wurde er aber nie. In den Spitälern treibt die Hierarchie bizarre Blüten: Immer mehr Zwischenstufen mit interessanten Titeln werden eingeführt. Aber wem ist klar, was ein Stv. Leitender Arzt ist, wo der Funktionsoberarzt und der «Erste Assistent» in der Hackordnung stehen, und was sie können und dürfen? Selbst beschwingte Vogelliebhaber und bodenständige Hobbygärtner sind nicht gegen Platzierungen gefeit. Nur Fliegen ist schöner, als als Nichtchinese weltweit der Fünftbeste zu sein, der chinesische Reisfinken züchtet. Und mit einer 768,5-KilogrammKürbiszüchtung, der Schweizer Bestleistung, kommen die Pfungener schon recht nahe an die 821,24 Kilo-
gramm Gewicht und 4,7 Meter Umfang, die amerikanische Pumpkin-Gärtner erreichten. Doch schmeckt das Monstrum auch? Immer häufiger frage ich mich, ob Konkurrenz und Wettstreit wirklich sinnvoll oder eher destruktiv sind. Kollegiales Streben, gemeinsam immer besser zu werden, sich dabei zu unterstützen, die Stärken und das Wissen zu poolen, sind gut. Klar besteht in Teams die Gefahr, dass es Trittbrettfahrer und Selbstverschleisser gibt, dass die Arbeit nicht optimal aufgeteilt wird und die Ergebnisse nicht exzellent sind. Aber bei Wettbewerben wird die Mehrzahl der Teilnehmer deklassiert, im schlimmsten Fall sogar sabotiert, und die Versuchung, zu betrügen, ist gross. Keine Win-win-Situation, sondern Sieg eines Einzelnen ist das Ziel. Als niedergelassener Grundversorger in einem komplexen Gesundheitssystem muss ich mich (noch) nicht absurden Konkurrenz- und Wachstumsideologien beugen. «Bester Hausarzt des Jahres»-Wahlen gibt es nicht. Wir Grundversorger werden eher als das Ärzteproletariat angesehen, als die schweigenden, schaffenden Ersthelfer an der Leidensfront, deren Arbeit zwar als unabdingbar, aber nicht als besonders preisoder pokalwürdig gilt. Noch gibt es keine Jury, die Noten für die verschiedenen Disziplinen wie Angehörige-Trösten, Akkord-Administrieren, VertrauensarztUmstimmen und so weiter vergibt, die wir Multitasker neben den eigentlichen ärztlichen Aufgaben beherrschen. Ich kann also ruhig ohne Wettbewerbsstress noch dahindöggderlen. Wahrscheinlich im unteren Mittelfeld. Ich bin im Vergleich zu meinen Kollegen einigermassen wissenschaftlich, zweckmässig und wirtschaftlich, wie mir ein Krankenversicherer schriftlich mitteilte. Die Verfolgungsjagd reisst selbst im Alter nicht ab. «Ich stehe an erster Stelle!», strahlte mein 94-jähriger Patient. «Ich bin ganz oben auf der Warteliste fürs Altersheim!» Ob er wohl realisierte, was passieren muss, damit er den Preis gewinnt? Das Zimmer, welches jetzt noch jemand bewohnt? Und dass er dann wieder in einem Wettlauf steht, doch diesmal läuft die Zeit gegen ihn, in die Richtung zu seinem letzten Kampf, den er garantiert nicht gewinnen wird.
1216 ARS MEDICI 22 ■ 2012