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FORTBILDUNG
Diagnose und Therapie des Raynaud-Phänomens
Das primäre Raynaud-Phänomen spricht meist ausreichend auf Veränderungen des Lebensstils an. Tritt es sekundär im Zusammenhang mit einer Erkrankung auf, ist deren Behandlung die wichtigste Massnahme.
BMJ
Das Raynaud-Phänomen wird durch episodische Vasospasmen und eine Ischämie der Extremitäten als Reaktion auf Kältereize oder emotionale Auslöser verursacht. Meist sind die Finger oder die Zehen und seltener die Nase, die Wangen oder die Ohren betroffen. Bei einer Raynaud-Attacke kommt es zu einem charakteristischen dreiphasigen Farbwechsel von Weiss (Ischämie) über Blau (Sauerstoffmangel) nach Rot (Wiederherstellung der Blutversorgung). Das Raynaud-Phänomen kann isoliert primär oder sekundär im Zusammenhang mit Erkrankungen auftreten. In 10 bis 20 Prozent aller Fälle stellt es die Erstmanifestation einer Bindegewebserkrankung wie einer Sklerodermie oder einer Mischkollagenose dar (Kasten 1). Das Raynaud-Phänomen wird eher durch einen plötzlichen Temperaturwechsel als durch die Kälteexposition an sich ausgelöst. Daher können Betroffene das ganze Jahr über Attacken erleiden, wenn sie zum Beispiel bei warmen Temperaturen im Freien einen klimatisierten Raum betreten oder eine kalte Milchflasche in die Hand nehmen.
Anamnese Zunächst sollte der Patient nach der Häufigkeit der Attacken, den betroffenen Extremitäten und den Farbwechseln befragt werden. Bei manchen Patienten ermöglicht ein Symptomtagebuch ein klares Bild der Erkrankung.
Merksätze
❖ Das Raynaud-Phänomen wird durch episodische Vasospasmen und eine Ischämie in den Extremitäten verursacht.
❖ Am häufigsten sind die Finger betroffen.
❖ Auslöser sind Kältereize oder emotionale Stimuli wie Stress.
❖ Das sekundäre Raynaud-Phänomen tritt meist im Zusammenhang mit Bindegewebserkrankungen auf.
Eine vollständige systemische Befragung dient der Ermittlung sekundärer Ursachen (Kasten 2). Zu den Schlüsselfragen gehören hier Erkundigungen nach dem Auftreten von Hautausschlägen, Lichtsensibilität, Migräne, Gelenkschmerzen, Geschwüren, Dysphagie oder Xerostomie. Als berufliche Einflussfaktoren können Kälteexposition und der Umgang mit vibrierenden Werkzeugen erfragt werden. Weiter sollte sich der Arzt nach der Einnahme von Medikamenten erkundigen, die zur Prädisposition beitragen oder das Raynaud-Phänomen verschlimmern können. Dazu gehören Betablocker, Chemotherapeutika, Ergot-Derivate, Amphetamine, Östrogen (Hormonersatz mit ÖstrogenMonotherapie, orale Kontrazeptiva), Clonidin (Catapresan®) und Sympathomimetika. Auch die Erfassung des Rauchstatus gehört zur Anamnese, da Rauchen das Phänomen verschlimmert.
Körperliche Untersuchung Der Umfang der körperlichen Untersuchung richtet sich nach den Ergebnissen der Anamnese. Zunächst sollten die Hände zur Evaluierung von Veränderungen der Farbe, der Nagelbetten und des Hautzustands betrachtet werden. Eine Sklerodaktylie, Flexionsdeformitäten, eine hörbare Reibung der Sehnen und eine Kalzinose weisen auf eine systemische Sklerose hin. Digitale Ulzerationen sind immer mit einem sekundären Raynaud-Phänomen verbunden. In diesen Fällen wird eine genauere Untersuchung im Hinblick auf weitere Anzeichen einer Bindegewebserkrankung durchgeführt und eine Überweisung zum Spezialisten vorgenommen. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung sollten zudem alle Gelenke des Patienten bewegt und Schmerzen oder Kontrakturen erfragt werden. Im Gesicht wird auf Ausschläge im Bereich der Wangenknochen, nicht narbige Alopezie und orale Geschwüre geachtet, die auf systemischen Lupus erythematodes hinweisen können, während eine Verengung der Gesichtshaut auf eine systemische Sklerose deutet. Trockene Haut, Teleangiektasien sowie das «Salz- und Pfeffer»-Hautbild bei Hyper- und Hypopigmentation weisen ebenfalls auf eine systemische Sklerose hin. Eine Livedo reticularis kann auf Lupus erythematodes oder ein Antiphospholipid-Syndrom hindeuten. Bei der körperlichen Untersuchung sollten auch Arrhythmien, vor allem Vorhofflimmern und Geräusche erfasst werden, die auf thromboembolische Erkrankung oder die seltene Libman-Sacks-Endokarditis hinweisen können. Eine pulmonale Fibrose legt eine systemische Sklerose nahe.
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Erkrankungen im Zusammenhang mit dem sekundären Raynaud-Phänomen (modifiziert nach Goundry et al.)
Rheumatologische Erkrankungen ❖ systemische Sklerose (Raynaud-Phänomen bei 90 Prozent
der Betroffenen) ❖ gemischte Bindegewebserkrankungen (85 Prozent) ❖ systemischer Lupus erythematodes (40 Prozent) ❖ Dermatomyositis oder Polymyositis (25 Prozent) ❖ rheumatoide Arthritis (10 Prozent) ❖ Sjögren-Syndrom ❖ Vaskulitis
Hämatologische Erkrankungen ❖ Polycythaemia rubra vera ❖ Leukämie ❖ Thrombozytose ❖ Kälte-Agglutinin-Krankheit (Mykoplasmeninfektionen) ❖ Paraproteinämien ❖ Protein-C-Mangel, Protein-S-Mangel, Antithrombin-III-Mangel ❖ Faktor-V-Leiden-Mutation ❖ Hepatitis B und C (assoziiert mit Kryoglobulinämie)
Arterielle Verschlusskrankheiten ❖ Externe neurovaskuläre Kompression, Karpaltunnelsyndrom,
Thorax-Outlet-Syndrom ❖ Thrombose ❖ Thrombangiitis obliterans (M. Bürger) ❖ Embolie ❖ Arteriosklerose
Apparative Untersuchungen Beim primären Raynaud-Phänomen ist kein routinemässiges Blutbild erforderlich. Beim Verdacht auf ein sekundäres Raynaud-Phänomen sollte dagegen ein komplettes Blutbild zur Diagnose einer Anämie oder Lymphopenie angefertigt werden, die auf eine Autoimmunerkrankung hinweisen können. Dazu gehören immunologische Untersuchungen bezüglich antinukleärer Antikörper (ANA), extrahierbarer nukleärer Antikörper (ENA), Anti-Scl-70-Antikörper, Anti-Ro-Antikörper (SS-A) und Anti-LA-Antikörper (SS-B) sowie die Untersuchung auf Entzündungsmarker wie die ErythrozytenSedimentationsrate und die Plasmaviskosität. Negative Ergebnisse können eine sekundäre Ursache des RaynaudPhänomens jedoch nicht ausschliessen. Bei Patienten mit unilateralen Zeichen sollte eine Röntgenaufnahme des Brustraums angefertigt werden, um zu klären, ob eine Zervikalrippe zur Kompression bronchialer und zephaler Gefässe führt. Beim Verdacht auf ein Thoracic-Outlet-Syndrom wird ein MRI angefertigt. Zu speziellen Untersuchungen im Hinblick auf sekundäre Ursachen des Raynaud-Phänomens gehören Infrarotthermografie, Laser-Doppler-Flowmetrie, Radiometrie und die digitale Plethysmografie. Diese Untersuchungen ermöglichen die Evaluierung von Veränderungen im Zusammenhang mit einer Sklerodermie. Die Ergebnisse werden häufig im
Zusammenhang mit einem Kältesimulationstest interpretiert. Normalerweise werden kalte Finger innerhalb von 15 Minuten wieder warm. Beim Raynaud-Syndrom dauert dieser Vorgang dagegen länger als 20 Minuten. Beim Verdacht auf eine sekundäre Erkrankung sollte zudem eine Kapillaroskopie durchgeführt werden.
Wann ist eine Überweisung erforderlich? Die meisten Patienten mit Raynaud-Syndrom können vom Hausarzt versorgt werden. Eine Überweisung (üblicherweise zum Rheumatologen) sollte bei folgenden Komplikationen erwogen werden: ❖ bei nicht eindeutiger Diagnose ❖ bei Verdacht auf eine sekundäre Ursache ❖ wenn die Ursache mit dem Beruf zusammenhängt ❖ bei Patienten unter 12 Jahren ❖ bei digitalen Ulzerationen ❖ bei unzureichender Symptomkontrolle trotz konservativen
Managements
Nichtmedikamentöse Behandlung Die meisten Patienten mit primärem Raynaud-Syndrom sprechen gut auf eine Veränderung des Lebensstils an und benötigen keine weitere Behandlung. Bei Patienten mit sekundärem Raynaud-Syndrom ist eine Behandlung der zugrunde liegenden Ursache erforderlich. Die konservative Herangehensweise zielt vor allem auf die Vermeidung der auslösenden Trigger wie Kältereize und emotionaler Stress ab. Die Häufigkeit der Attacken kann durch die Vermeidung von plötzlichen Temperaturwechseln und die Reduzierung von Kälteexpositionen verringert werden. Während einer Attacke kann durch windmühlenartiges Schwenken der Arme oder mit Hilfe von warmem Wasser eine Vasodilatation erreicht werden. Taschen sollten nicht an Henkeln getragen werden, da dies die Blutzirkulation in den Fingern beeinträchtigt. Manchen Patienten hilft auch die Reduzierung von Stress oder ein Biofeedback. Die Einstellung des Rauchens kann die Schwere der Attacken, jedoch nicht deren Häufigkeit verringern. In einer doppelblinden plazebokontrollierten Studie konnte mit Ginkgo biloba die Häufigkeit der Raynaud-Attacken um 56 Prozent und mit Plazebo um 27 Prozent reduziert werden.
Vasodilatatoren Kalziumkanalblocker: Kalziumkanalblocker werden am häufigsten zur Behandlung des Raynaud-Phänomens angewendet. Aus einer Metaanalyse geht hervor, dass Nifedipin (Adalat® und Generika) in einer Dosierung von 10 bis 20 mg dreimal täglich die Anzahl der Attacken um 2,8 bis 5 pro Woche reduzierte und die Schwere um 33 Prozent verminderte. Bei manchen Patienten sind auch länger wirksame Kalziumkanalblocker wie Amlodipin (Norvasc® und Generika) oder Diltiazem (Dilzem® und Generika) erforderlich. Allerdings kommt es hier häufig zu Nebenwirkungen wie Blutdruckabfall, Kopfschmerzen oder Tachykardie. Topische Nitrate: In einer randomisierten kontrollierten Studie mit 33 Patienten resultierte auf den Fingerrücken appliziertes Nitroglyzerin in einer Vasodilatation mit geringeren systemischen Nebenwirkungen als bei oralen Nitraten. Mit MQX-505, einer neuen Formulierung von Nitroglyzerin,
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FORTBILDUNG
Kasten 2:
Unterscheidung von primärem und sekundärem Raynaud-Phänomen (modifiziert nach Goundry et al.)
Primäres Raynaud-Phänomen ❖ jüngeres Alter (< 30, kann aber in jedem Alter auftreten) ❖ weibliches Geschlecht ❖ genetische Veranlagung (bei 30 Prozent ist auch ein Verwandter
1. Grades betroffen) ❖ keine Zeichen oder Symptome einer verursachenden Erkrankung ❖ keine Gewebenekrosen oder Gangrän ❖ normale Nagelfalzkapillaren ❖ normale Erythrozyten-Sedimentationsrate ❖ negative Antineutrophilen-Antikörper
Sekundäres Raynaud-Phänomen ❖ höheres Alter (> 30, kann aber in jedem Alter auftreten) ❖ weniger häufig (10 bis 20 Prozent) ❖ Zeichen und Symptome einer zugrunde liegenden Erkrankung ❖ gespannte Haut an den Fingern, stärkere Schmerzen ❖ digitale Ischämie (Ulzeration, Gangrän) ❖ abnormale Nagelfalzkapillaren ❖ erhöhte Erythrozyten-Sedimentationsrate ❖ positive Antineutrophilen-Antikörper oder extrahierbare nukleäre
Antikörper
konnte die Schwere der Attacken, jedoch nicht deren Anzahl reduziert werden. Insgesamt ist die Evidenz zu Nitraten beim Raynaud-Phänomen begrenzt. Prostaglandine: Die European League against Rheumatism (EULAR) empfiehlt die Behandlung mit Prostaglandinen nach einem Fehlschlag mit Kalziumkanalblockern. Die meisten Studien wurden mit intravenösem Iloprost (Ilomedin®, Ventavis®) durchgeführt. In einer doppelblinden und in einer doppelblinden randomisierten Studie wurde festgestellt, dass orale Prostaglandine weniger wirksam sind als intravenöse, mit höheren oralen Dosierungen jedoch ein Nutzen erzielt werden kann. Derzeit wird an der Wirksamkeit von Treprostinil (Remodulin®), einem Prostaglandinanalogon, in diesem Anwendungsbereich geforscht. Phosphodiesterase-5-Inhibitoren: In Studien hat sich gezeigt, dass orales Sildenafil (Revatio®, Viagra®) – nicht jedoch Tadalafil (Adcirca®, Cialis®) – die Häufigkeit und die Schwere der Attacken verringern kann. Diese Inhibitoren haben zusätzlich eine günstige Wirkung im Hinblick auf den Raynaud-Score und die Heilung von Ulzera. Der Nutzen dieser oral verfügbaren und gut verträglichen Substanzen weist darauf hin, dass sie bei schwerem und beeinträchtigendem Raynaud-Phänomen eine effektive Behandlungsoption sein könnten, zur Abklärung sind jedoch weitere Studien erforderlich.
Nifedipin. Die EULAR empfiehlt die Anwendung von Losartan, bis anhin allerdings inoffiziell aufgrund der noch fehlenden breiteren Evidenz. ACE-Hemmer: Diese Substanzen werden aufgrund des fehlenden Nutzens nicht zur Behandlung des RaynaudPhänomens empfohlen. Endothelinrezeptorantagonisten: In den Studien Randomized Placebo-controlled Investigation of Digital Ulcers in Scleroderma (RAPIDS-1 und -2) hat sich gezeigt, dass die Anzahl neu auftretender digitaler Ulzera bei Patienten mit sekundärem Raynaud-Phänomen unter der Behandlung mit Bosentan (Tracleer®) signifikant zurückging. Die EULAR empfiehlt die Anwendung von Bosentan bei refraktären Symptomen gegenüber Kalziumkanalblockern und Prostaglandinen.
Statine und Aspirin Nach der Beobachtung, dass Statine die Endothelialfunktion beeinflussen, wurde im Jahr 2008 in einer randomisierten Studie ein Vergleich von Atorvastatin (Sortis® und Generika) mit Plazebo durchgeführt. In dieser Untersuchung reduzierte das Medikament die Anzahl der digitalen Ulzera signifikant im Vergleich zur Scheinmedikation. Obwohl keine deutliche Evidenz vorliegt, wird Patienten mit Raynaud-Phänomen auch häufig die tägliche Einnahme von Aspirin verordnet.
Chirurgische Optionen
Bei einer kleinen Anzahl an Patienten mit schweren und be-
hindernden Symptomen kann auch ein chirurgischer Eingriff
in Betracht gezogen werden. Dazu gehören eine arterielle
Rekonstruktion, die periphere Sympathektomie, die Embol-
ektomie und das Debridement von Ulzera oder eine Kom-
bination dieser Verfahren. Die zervikale Sympathektomie
wird mittlerweile nicht mehr empfohlen, da aus Beobach-
tungsstudien hervorgeht, dass sie langfristig nicht effektiv
und zudem mit nicht akzeptablen Nebenwirkungen verbun-
den ist – häufig waren Fingeramputationen erforderlich. Bei
chronischer Ulzeration und kritischer digitaler Ischämie
kann ein chirurgisches Debridement die Notwendigkeit
für Amputationen verringern, wenn sich eine Osteomyelitis
entwickelt.
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Petra Stölting
Goundry Beth, Bell Laura, et al.: Diagnosis and management of raynaud’s phenomenon, BMJ 2012;344:e289
Interessenkonflikte: keine deklariert
Vasokonstriktionsinhibitoren Angiotensinrezeptorantagonisten: Die Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten Studie weisen darauf hin, dass Losartan (Cosaar® und Generika) die Häufigkeit und Schwere von Raynaud-Attacken besser reduzieren kann als
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