Transkript
Rosenbergstrasse 115
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Klage eines zügigen Autofahrers: Es gibt Leute, die fahren so langsam, die werden nicht geblitzt, sondern gemalt.
❖❖❖
Es geht uns weiterhin gut in der Schweiz. Saugut. Sogar die Zahl der Armen ist gesunken. Und das ist angesichts der Definition von «arm» nicht selbstverständlich. Als arm gelten nämlich «Personen, die nicht über die Mittel verfügen, um die für ein gesellschaftlich integriertes Leben notwendigen Güter und Dienstleistungen zu erwerben». Und was man sich leisten können sollte (Handy, Computer, TVGerät, Auto, Ferienreise, Konzertbesuch usw.), um ein «gesellschaftlich integriertes Leben» führen zu können, das sagen die Armutsforscher dann schon.
❖❖❖
Ausserdem: die Armen sind weniger arm geworden. Will heissen: der Abstand zu den Nicht-Armen hat sich verringert. Die berühmte Schere, die angeblich immer weiter aufgeht zwischen Arm und Reich, geht in der Schweiz eher zu. Das ist schön, aber natürlich kein Grund, nicht weiter Geld auszugeben für die Erforschung der Armut, schliesslich hängen viele Arbeitsplätze von Bundesangestellten und Hochschulforschern von diesen Geldern ab.
❖❖❖
Die deutsche Zeitung «Die Welt» machte sich schon 2006 lustig über die Luxusprobleme der Schweiz. Titel: «Die reichsten Armen der Welt». Eine Million Arme soll es 2006 in der Schweiz angeblich gegeben haben. Auf diese immense Zahl kam man durch einen einfachen Trick: die Soziologen
hoben die Schwelle zur Bedürftigkeit einfach um sechs Prozent an. Sie hätten die Armutsschwelle auch um 200 Franken senken können. Dann wären 80 Prozent der Armen schwupps verschwunden.
❖❖❖
Man soll sich nicht lustig machen über Armut. Aber es kann nicht schaden, sich Gedanken darüber zu machen, wer auf welche Weise davon profitiert, dass es Armut gibt, und sei sie noch so relativ. Wessen Arbeitsplatz und Verdienst davon abhängt, dass es Arme gibt, der tendiert dazu, überall Arme zu sehen und Armut und Arme (statistisch) zu produzieren. Das ist nicht verwerflich. Das ist menschlich (siehe nachfolgenden Spruch).
❖❖❖
If you only have a hammer, you tend to see every problem as a nail.
❖❖❖
Der Schweiz ungeliebtester Deutscher – ein Herr namens Steinbrück – outet sich (wenn auch nicht freiwillig) als Politiker mit Nebeneinkünften. Finanziell gesehen ist der Kanzlerkandidat in erster Linie Redner an Anlässen potenter Industrieunternehmen. Eigentlich sind seine Nebeneinkünfte demnach seine Haupteinkünfte und die Entschädigung für sein politisches Amt ist eine eher bedeutungslose Nebeneinnahme. Das macht ihn nicht unsympathisch. Es ist durchaus zu hoffen, dass solche Relationen Auswirkungen haben auf das politische Weltbild des redegewandten Sozialdemokraten. Zudem wird der Mann, so er klug ist, seine erredeten Honorare sicher und ertragswirksam anlegen. Vielleicht auf einer Schweizer Bank?
❖❖❖
Wer als sozialdemokratischer Politiker mit Vorträgen eine Million verdient, muss zudem aufpassen, dass er nicht in die Kitsch-Falle tappt. Arbeitergruss und Internationale wären bei ihm jedenfalls eher Peinlichkeiten.
❖❖❖
Es gibt auch religiösen Kitsch. Etwa wenn eine junge Schweizerin mit 18 Jahren erkennt, dass sie zur Muslima berufen ist, zum Islam konvertiert und seitdem nur noch tiefst verschleiert auf die Strasse geht. Aber selbst dieser Kitsch ist TV-würdig; die junge Frau (solches ist hinter dem Schleier zu vermuten) darf bei «Menschen bei Maischberger» jedenfalls frei ihre Präferenzen kundtun: die Scharia geht Schweizer Gesetzen allemal vor.
❖❖❖
Stellt sich die Frage: Darf heute eigentlich jeder und jede mit einem «Problem» seine/ihre krude Weltsicht vor der TV-Kamera zum Besten geben? Die Antwort: Die Chance darauf vergrössert sich jedenfalls mit Zunahme des Exotikfaktors. Nicht-Prominente mit «normalen» Vorstellungen vom Leben trifft man eher bei Coop als im Fernsehen.
❖❖❖
Und das meint Walti: Kennen Sie diese Tage, an denen man mehr erledigt hat, als man sich vorgenommen hatte und am Abend total glücklich ist darüber? Ich auch nicht.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 21 ■ 2012 1133