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EDITORIAL
Sicher kennen Sie das auch aus Ihrer Praxis: Eine besorgte Mutter sitzt mit ihrem Kind vor Ihnen, und Sie
fragen sich, ob der Kleine nun ernsthaft krank ist oder nicht. «Eigentlich nicht», sagen Ihnen die Befunde, aber irgendetwas nagt in Ihrem Innern. Ohne begründen zu können warum, haben Sie das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas Gravierendes hinter den Beschwerden stecken könnte. Also doch lieber ins Spital? Die Autoren einer kürzlich im «British Medical Journal» erschienenen Arbeit würden Ihnen jedenfalls raten, zumindest eine zweite Meinung einzuholen und den Eltern einzuschärfen, sich sofort zu melden, falls es dem Kind schlechter geht. Sie kommen in ihrer Studie zum
Ein schlechtes Gefühl notierten die Ärzte bei 120 Patienten, aber nur 21 kamen ins Spital, die meisten mit Pneumonie oder Pyelonephritis; 9 von ihnen wurden nicht gleich, sondern erst mit Verspätung eingewiesen. Die Zahlen erscheinen realistisch, denn sie liegen gut in der aus der Literatur bekannten Grössenordnung, wonach etwa 1 von 200 Kindern bei Konsultationen in der Hausarztpraxis eine schwere Erkrankung hat. Trotzdem scheint es angesichts der recht kleinen Fallzahlen zweifelhaft, ob man auf dieser Basis, wie für einen Labortest, Sensitivität (61,9%) und Spezifität (97,2%) für das ärztliche Bauchgefühl und sein Potenzial zum Aufdecken schwerer Infektionen bei Kindern ausrechnen darf, so wie das die Autoren tun. Klar ist aber: Bei einem guten Bauchgefühl ist es sehr unwahrscheinlich, eine schwere Infektion zu verpassen, die Spezifität des schlechten Gefühls ist zwar eher mittel-
Bauchgefühle
Schluss, dass ein schlechtes Bauchgefühl trotz fehlender, klarer Befunde ein zuverlässiges Alarmsignal sei, zumindest bei Infektionen. Man solle dieses Gefühl nicht ignorieren, sondern danach handeln, weil Intuition «das Potenzial hat, zwei verpasste Fälle zu verhindern» – auf Kosten von 44-mal Fehlalarm. Eine gute Relation? Eine schlechte? Das muss jeder für sich selbst entscheiden, interessant ist die Studie allemal – und sei es nur als Anlass, das eigene Verhalten zu hinterfragen. Die Studie lief wie folgt: 3981 Konsultationen in Hausarztpraxen in Belgien wurden protokolliert, wenn die Kinder mit einer seit maximal fünf Tagen bestehenden akuten Erkrankung zum Hausarzt kamen. Notiert wurden neben diversen Symptomen der klinische Gesamteindruck sowie das Bauchgefühl, und zwar bevor irgendwelche Laboruntersuchungen oder zusätzliche Tests erfolgten. Später schaute man, welche Kinder mit einer schweren Infektion ins Spital kamen und ob dies mit dem Bauchgefühl korrelierte.
mässig, aber immerhin vorhanden. Das wussten Sie schon? Gut, dann dürfen Sie sich nun umso mehr auf Ihre Intuition verlassen. Und mehr noch: Sie sollten sie nutzen, um Ihr klinisches Auge zu schärfen. Die Autoren empfehlen nämlich, bei einem schlechten Gefühl das Kind nochmals ganz genau zu untersuchen, denn oft kristallisiere sich dann doch noch ein klarer Befund heraus. Übrigens soll das unbewusste, eher vage Bauchgefühl bei jüngeren Hausärzten als Alarmsignal genauso treffsicher sein wie bei den älteren mit jahrelanger Praxiserfahrung – nur brauchen es die älteren Kollegen nicht so oft, weil sie das klinische Gesamtbild aus Erfahrung sicherer einzuschätzen wissen.
Renate Bonifer
ARS MEDICI 21 ■ 2012 1129