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STUDIE REFERIERT
Viskosupplementation bei Kniearthrose
Messbarer Effekt, aber keine klinische Relevanz
Die intraartikuläre Injektion von Hyaluronsäure soll als Ergänzung oder Ersatz der natürlichen Gelenkflüssigkeit die Beschwerden bei Kniearthrose lindern. Die Autoren einer kürzlich publizierten Metaanalyse kommen zu dem Schluss, dass diese Massnahme nur einen kleinen, klinisch nicht relevanten Nutzen bringt.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
sen wurden (z.B. Durolane®, Hyalur®, Ostenil®, Sinovial®, Suplasyn®, Synvisc® und Viscoseal®). Die Wirksamkeit der intraartikulären Hyaluronsäureinjektionen bei Kniearthrose ist umstritten. So kamen die Autoren von sechs Übersichtsarbeiten, in denen die Massnahme mit Scheininjektionen verglichen wurde, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während die Autoren von drei Reviews zu dem Schluss kamen, dass die Hyaluronsäure besser sei als Scheininjektionen, verneinten dies die Autoren der anderen drei Reviews.
Hyaluronsäure ist ein natürlicherweise in der Synovialflüssigkeit vorhandenes Polysaccharid, welches im Gelenk als «Schmiermittel» und «Stossdämpfer» fungiert. Bei Arthrosepatienten sind die synovialen Hyaluronsäuremoleküle degeneriert, das heisst, sie liegen in kleineren Bruchstücken (depolymerisiert) vor und werden auch rascher abgebaut – die schützende Funktion der «Gelenkschmiere» nimmt ab. Hyaluronsäureinjektionen sollen als Viskosupplementation Abhilfe schaffen. Zur intraartikulären Anwendung sind in der Schweiz mehrere Produkte auf dem Markt, welche nicht als Arzneimittel, sondern als Medizinprodukte zugelas-
Merksätze
❖ Bezüglich der Schmerzlinderung hat die intraartikuläre Injektion von Hyaluronsäure bei Kniearthrose eine messbare Wirkung, die klinisch jedoch als irrelevant eingestuft wird.
❖ Die Funktionsfähigkeit des Kniegelenks wird durch die Injektion nicht verbessert.
Auch nicht publizierte Studien dabei Ein Team an der Universität Bern hat nun in einer umfassenden Analyse die Ergebnisse aus 89 randomisierten Studien zur Viskosupplementation bei Kniearthrose ausgewertet. Ihre Recherche umfasste gängige Datenbanken (Medline, EMBASE, Cochrane) von 1966 bis Januar 2012 sowie Kongresspublikationen und Datenbanken zu klinischen Studien. Auch einige nicht publizierte Studien wurden berücksichtigt. Insgesamt fanden sich 89 Studien, deren Daten in 167 Publikationen dokumentiert worden waren; insgesamt lagen Daten von 12 667 Patienten vor, welche je nach dokumentierten Parametern in die Analysen zu Wirksamkeit und Sicherheit einbezogen wurden. Die meisten der Studien, nämlich 57, wurden in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, 23 in Konferenzbänden, 2 in Broschüren und 1 in einem Buchkapitel. Hinzu kamen die Resultate von 6 nicht publizierten Studien, deren Daten von den Firmen selbst, der FDA oder – in 1 Fall – vertraulich zur Verfügung gestellt wurden. In letzterem Fall wurden die Daten auch von der betreffenden Firma angefordert, die deren Herausgabe jedoch verweigerte.
Wie wurde die Wirksamkeit gemessen? Primärer Endpunkt war das Ausmass der Schmerzlinderung. Die sogenannte Effektgrösse wird aus der Differenz zwischen Ausgangs- und Endwert eines Parameters in einer Studie (z.B. Schmerzreduktion) und der Standardabweichung errechnet. Bei der Arthrose geht man von folgender Bewertung der Effektgrössen aus: Bei 0,2 bis 0,5 spricht man von einem moderaten, bei 0,7 bis 1 von einem starken spezifischen Effekt. Der Plazeboeffekt erreicht in der Regel bis 0,3 Punkte, höhere Werte können aber auch mit Plazebo vorkommen. In der vorliegenden Metaanalyse wurde für die Schmerzlinderung eine Effektgrösse von mindestens -0,37 als klinisch relevant definiert; dies entspricht einem Rückgang von 0,9 cm auf einer visuellen Analogskala zur Schmerzbeschreibung (VAS) mit insgesamt 10 cm (0 = kein Schmerz, 10 = unerträglicher Maximalschmerz). Sekundärer Endpunkt für die Wirksamkeit war die Gelenkfunktion. Bezüglich der Sicherheit war eine allfällige Entzündung im Knie nach der Injektion am wichtigsten (primärer Endpunkt), das heisst ein heisses, schmerzendes, geschwollenes Knie innert 24 bis 72 Stunden nach der Injektion. Weitere Punkte waren schwerwiegende Nebenwirkungen, Therapieabbruch wegen Nebenwirkungen, Gelenkerguss, jegliche Nebenwirkungen im betroffenen Knie und jegliche Therapieabbrüche.
Patientengruppen und Präparate Das mittlere Alter der Patienten betrug 63 Jahre (50–72 Jahre), der Frauenanteil lag je nach Studie zwischen 27 und 100 Prozent. In 27 Studien wurde der Arthrosegrad radiologisch bestimmt: Demnach wiesen im Mittel 44 Prozent der Patienten Grad 2 auf (nach Kellgren-Lawrence) und 39 Prozent den Grad 3. Das Follow-up betrug im Mittel 16 Wochen, wobei die Spannbreite sehr gross war (von 0 bis 104 Wochen). In 18 Studien kamen vernetzte Hyaluronsäurepräparate zum Einsatz, in 67 Studien nicht vernetzte und in 4 Studien beides. Das Molekulargewicht der jeweiligen Präparate ist unterschiedlich (niedrig, mittel, hoch) und verteilte sich wie folgt: Niedrig in 38 Studien, mittel beziehungsweise hoch in jeweils 17 Studien; in weiteren 5 Studien wurden
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KOMMENTAR
Dr. med. Luzi Dubs, FMH Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Winterthur
Klinische Relevanz und statistische Signifikanz
Das Geschäft mit der Angst bei der konservativen Behandlung der Kniearthrose ist gross. Patienten sind bereit, pro Knieinjektion 500 Franken oder mehr aus dem eigenen Sack zu bezahlen. Schon vor mehr als zehn Jahren gab es sehr gut gemachte, doppelblinde, randomisierte Studien, die intraartikuläre Injektionen von Hyaluron versus Kortison untersuchten. Es fand sich kein Unterschied, das Kortison war aber 20-mal billiger!
Es ist nun sehr verdienstvoll, wenn die Berner Gruppe um Peter Jüni die Weltliteratur derart professionell kritisch überprüft, dass jetzt eigentlich der Zeitpunkt gekommen sein sollte, diese teure Medikation nicht mehr durchzuführen und damit dem Patienten nicht mehr unnötige, hohe Kosten aufzubürden.
Einmal mehr hat sich eine Beobachtung bewahrheitet: Je besser die Studie gemacht wurde, umso geringer sind die Effektunterschiede. Das bedeutet, dass die gut gemachten Studien letztlich keinen klinisch relevanten und signifikanten Unterschied mehr zeigen. Es ist zwar die Rede von der Feststellung, dass die klinische Relevanz bei grösseren Fallzahlen immer kleiner geworden sei. Das klingt seltsam, denn die klinische Relevanz ist unabhängig von der Fallzahl. Durch Erhöhung der Fallzahl kann man nur die statistische Signifikanz erreichen oder erhöhen, das heisst die Wahrscheinlichkeit, dass man sich getäuscht haben könnte, nimmt bei Fallzahlerhöhung ab. In diesem Fall hängt die geringere klinische Relevanz bei Studien mit hohen Fallzahlen in erster Linie von der Qualität der Studie ab.
Die leider häufig gemachte Feststellung, dass der Publication-Bias auch in dieser Thematik virulent war, wirft einmal mehr einen Glaubwürdigkeitsschatten auf die durch die Pharmaindustrie praktizierten Gepflogenheiten. Es stellt sich zudem immer wieder die Frage, ob Metaanalysen mit Einbezug von Studien mässiger Qualität sinnvoller sind, als Rückschlüsse aus Analysen von wenigen Einzelstudien, die aber von hoher Qualität sind.
Jedenfalls: Herzlichen Dank nach Bern!
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Präparate mit verschiedenen Molekulargewichten verglichen.
Studienqualität liess häufig zu wünschen übrig Die Autoren der Metaanalyse bemängeln, dass viele Studien zur Viskosupplementation bei Kniearthrose von eher mangelhafter Qualität seien. Dies betraf sowohl die Dokumentation – so fehlten beispielsweise die Altersangaben der Patienten (in 30 der 89 Studien) oder die Angabe des Geschlechts (in 27 Studien) – als auch eine mangelhafte oder unklare Verblindung: Zwar wurde in den meisten Studien (76%) eine Scheinbehandlung durchgeführt, aber nur in 16 Studien (18%) scheint die Verblindung der Patienten adäquat gewesen zu sein, und in fast der Hälfte aller Studien (46%) wussten die den
Therapieerfolg beurteilenden Ärzte, welcher Therapiegruppe der Patient angehört hatte. Auch die Dokumentation zu allfälligen Nebenwirkungen liess häufig zu wünschen übrig. Die meisten Studien waren nicht allzu gross: Mehr als 100 Probanden pro Studienarm gab es nur in 23 der 89 Studien.
Je grösser die Studie, umso kleiner die Wirksamkeit In die Berechnung der Wirksamkeit bezüglich Schmerzlinderung gingen die Daten von 79 Studien mit 9617 Patienten ein. Es fand sich eine mittlere Effektgrösse von -0,37 (95%-Konfidenzintervall [KI]: -0,46 bis -0,28), sodass die eingangs geforderte minimale Wirksamkeitsschwelle erreicht wurde. Bei diesem Resultat blieb es auch, wenn man die Daten bezüglich Verblindung,
Anzahl der Injektionen sowie Struktur und Molekulargewichts der verwendeten Präparate betrachtete. Das Resultat war aber von der Studiengrösse abhängig: je grösser die Studie, umso kleiner die Wirksamkeit. In den grösseren Studien (mindestens 100 Probanden pro Studienarm) lag die Effektgrösse nur noch bei -0,16 (95%-KI: -0,26 bis 0,07). Dieser Effekt war zwar statistisch signifikant, klinisch jedoch irrelevant. In den nicht publizierten Studien (5 Studien mit 1149 Patienten) zeigte sich gar keine Wirksamkeit bezüglich Schmerzlinderung, während die Effektgrössen in den publizierten Studien jeweils mittel bis hoch waren; dies ist ein Hinweis auf einen potenziellen «publication bias» (negative Studien werden eher nicht zur Publikation eingereicht beziehungsweise stossen bei den Editorial Boards der Fachzeitschriften nur auf mässiges Interesse). Eine ungenügende Verblindung hatte offenbar keine durchschlagende Wirkung bezüglich der Effektgrösse: Waren die Studien ungenügend verblindet, zeigte sich zwar ein Trend zu einer höheren Effektgrösse, dieser war jedoch statistisch nicht signifikant. Für die Beurteilung des zweiten Endpunkts Gelenkfunktion waren 52 Studien mit insgesamt 7904 Patienten geeignet. Hier fand sich nur eine mittlere Effektgrösse von -0,33 (95%-KI: -0,43 bis -0,22), sodass die geforderte Wirksamkeitsschwelle nicht erreicht wurde. Betrachtete man nur die grösseren, verblindeten Studien (15 Studien mit 4296 Patienten), sank die Effektgrösse auf -0,09 (95%-KI: -0,17 bis 0).
Sicherheit Bei dem Risiko einer Entzündung im Knie nach der Injektion zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen behandelten und nicht behandelten Patienten (6 Studien mit 811 Patienten). Leicht erhöhte, statistisch signifikante Risiken fanden sich bei den schwerwiegenden Nebenwirkungen (RR: 1,41; 95%-KI: 1,02 bis 1,97), beim Therapieabbruch wegen Nebenwirkungen (RR: 1,33; 95%-KI: 1,01 bis 1,74) und bei den lokalen Nebenwirkungen (RR: 1,34; 95%-KI: 1,13 bis 1,60). Kein erhöhtes Risiko bestand bezüglich der oben genannten weiteren Sicherheitsparameter.
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Insgesamt wurde in 8 Studien von 40 Patienten mit schwerwiegenden Nebenwirkungen berichtet, 26 davon in den Viskosupplementations- und 14 Patienten in den Kontrollgruppen.
Schlussfolgerungen Die Autoren der Metaanalyse kommen zum Schluss, dass die Viskosupplementation einen kleinen, klinisch jedoch irrelevanten Nutzen bei Kniearthrose hat. Bezüglich der Kniegelenksfunktion
bringt die Injektion nichts. Hingegen wird das mit der Behandlung verbundene Nebenwirkungsrisiko als klinisch bedeutend eingestuft. Scharf kritisiert wird der offensichtliche «publication bias», da negative Studien von den Firmen nicht publiziert wurden. Da der Nutzen der intraartikulären Hyaluronsäureinjektion bei Kniegelenkarthrose nur minimal oder nicht vorhanden sei, gleichzeitig jedoch ein
Nebenwirkungsrisiko bestehe, sollte
man von dieser Therapie abraten, so
das Fazit der Autoren.
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Renate Bonifer
Rutjes AW, Juni P, da Costa BR et al.: Viscosupplementation for Osteoarthritis of the Knee: A Systematic Review and Meta-analysis. Ann Intern Med 2012; 157: 180–191.
Interessenkonflikte: Die Autoren deklarieren, dass keine Interessenkonflikte bestehen; die Studie wurde von der Arco Foundation und dem Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.
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