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EDITORIAL
Menschliche Kognitionen sind mit der Integrität des Gehirns eng verzahnt
D as menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ. Es ist ein Netzwerk, das aus zirka 80 Milliarden Nervenzellen besteht, wobei jede Nervenzelle über mindestens 10 000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen verfügt. Das befähigt den Menschen zu einem sehr differenzierten Bewusstsein und zu bemerkenswerten kognitiven Fertigkeiten. Im Kontext der modernen kognitiven Neurowissenschaften werden folgende psychische Funktionen zu den Kognitionen gezählt: Denken, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Wahrnehmung, Handlungssteuerung und Entscheidung (1). In dieser Ausgabe werden exemplarisch drei Problembereiche von kognitiven Störungen angesprochen und diskutiert: kognitive Störungen im Zusammenhang mit Depressionen, Demenzen und neurophysiologischen Biomarkern. Lorenz Dehn und Thomas Beblo beschreiben die typischen kognitiven Beeinträchtigungen, die bei Depressionen auftreten (Seite 4 ff.). Die Autoren diskutieren die häufigen Einflussfaktoren sowie die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Therapieansätze. Dabei gehen sie auch auf die für die klinische Praxis wichtige Unterscheidung zwischen subjektiv berichteten und objektiv erfassten neuropsychologischen Leistungen von depressiven Patienten ein. Thomas Jahn widmet sich in seinem Beitrag der neuropsychologischen Diagnostik von Personen mit Demenzverdacht (Seite 7 ff.). Hierbei thematisiert er die derzeit gültigen Demenzleitlinien und beschreibt vor dem Hintergrund aktueller Weiterentwicklungen sowohl medizinischer Krankheitsklassifikationssysteme als auch testpsychologischer Untersuchungsverfahren die Grundzüge einer zeitgemässen neuropsychologischen Demenzdiagnostik.
Sind Hirnfunktionen objektiv vermessbar? Während die beiden erstgenannten Autoren sich mit der klassischen psychometrisch fundierten
Messung kognitiver Funktionen auseinandersetzen, beschäftigt sich Thomas König mit den Herausforderungen, die sich mit der Nutzung von neurophysiologischen Biomarkern zur Messung von kognitiven Störungen ergeben (Seite 13 ff.). Mittlerweile gelingt es sehr gut, z.B. mit der Erfassung der Ruheaktivität des Gehirns auf gestörte Hirnfunktionen und beeinträchtigte kognitive Funktionen zu schliessen. Zudem wurden erste standardisierte neurophysiologische Testparadigmata entwickelt, anhand deren sich sowohl kognitive Funktionen als auch deren neuronale Generatoren erfassen lassen (1). Besonders fortgeschritten sind solche Untersuchungsansätze für das Gedächtnis, exekutive Funktionen und die Wahrnehmung. Diese neurophysiologischen Kennwerte sind allerdings mit einer Reihe von theoretischen Herausforderungen verbunden, die Thomas König in seinem theoretischen Beitrag herausarbeitet. Im Prinzip geht es hierbei um die Problematik des Unterscheidens zwischen der 1.- und der 3.-Person-Perspektive, was gerade in den modernen kognitiven Neurowissenschaften intensiv diskutiert wird. Ich hoffe, dass diese Ausgabe einen Einblick vermittelt, wie kognitive Störungen gemessen und konzeptualisiert werden. Viel wichtiger aber ist, dass deutlich wird, wie eng verzahnt menschliche Kognitionen mit der Integrität des Gehirns sind.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. l
Korrespondenzadresse: Prof. Lutz Jäncke Universität Zürich
Psychologisches Institut Lehrstuhl für Neuropsychologie Binzmühlestrasse 14, 8050 Zürich
E-Mail: lutz.jaencke@uzh.ch
Referenz: 1. Jäncke L: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. 2. Aufl. Hogre-
fe-Verlag, 2017.
1/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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