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Biologische Psychiatrie im Spannungsfeld von mentalen und biologischen Zugängen
Das Forschungsprogramm der biologischen Psychiatrie will mit psychischem Erleben verbundenes Leiden durch Begriffe und Konzepte erklären, die aus der Biologie kommen. Der Erfolg spricht dafür: Patienten mit schweren Störungen können dank Psychopharmaka und Interventionen auf der Ebene der Biologie heute ein einigermassen normales Leben führen. Gleichzeitig stellt sich in der Psychiatrie ein ziemlich einzigartiges Problem, mit dem sich keine der anderen medizinischen Disziplinen konfrontiert sieht: Das Verständnis von mentalen Zuständen, zu denen auch psychisches Erleben gehört, verläuft über Zugänge, die wissenschaftlich schwer zugänglich sind. Im Beitrag wird dieses Spannungsfeld beleuchtet.
Thomas König
von Thomas König
U nser Erleben und unser Verhalten lassen sich durch neurobiologisch wirksame physische Eingriffe systematisch beeinflussen. Das passiert zum Beispiel schon dann, wenn wir ein paar Gläser Wein trinken; unser Denken und unsere Stimmung verändern sich; wir tun vielleicht Dinge, die wir nüchtern kaum tun würden. Umgekehrt lassen sich für Veränderungen in unserem Erleben oft typische biologische Signaturen finden: Die Elektro-Enzephalografie (EEG) als biologischer Fingerabdruck von neuroelektrischer Aktivität des Gehirns ist zum Beispiel ein guter Indikator für verschiedene Schlafstadien, die sich parallel dazu aus der mentalen Perspektive durch sehr verschiedene psychische Zustände charakterisieren lassen (1).
Ein prinzipiell erfolgreiches Programm Wenn die Regeln bekannt wären, nach denen psychisches Erleben mit biologischen Prozessen verbunden ist, dann liessen sich mit dem Wissen und der Methodik der Biologie Möglichkeiten finden, psychisches Erleben und insbesondere mit Leid verbundenes psychisches Erleben, systematisch und in eine gewünschte Richtung zu verändern. Genau das will die biologische Psychiatrie. Der Erfolg der biologischen Psychiatrie spricht für den Wert eines solchen Forschungsprogramms: Wurden früher Patienten mit psychiatrischen Problemen häufig ein Leben lang weggesperrt, können Patienten mit schweren Störungen heute mithilfe von Interventionen auf der Ebene der Biologie ein einigermassen normales Leben führen. Diese Interventionen umfassen Psychopharmaka, aber auch die nicht invasive oder invasive Hirnstimulation und waren neben sicher ebenso relevanten Entwicklungen in Psychotherapie, Pflege und Sozialarbeit massgeblich für die Entinstitutionalisierung von psychisch Kranken.
Ein erkenntnistheoretisches Problem Gleichzeitig stellt sich in der Psychiatrie ein ziemlich einzigartiges Problem, mit dem sich keine der anderen medizinischen Disziplinen konfrontiert sieht: Das Verständnis von mentalen Zuständen, zu denen auch psychisches Erleben gehört, verläuft über Zugänge, die wissenschaftlich schwer zugänglich sind: Denn niemand anders als das Subjekt selbst kann die Wahrheit solcher Zustände feststellen (2). Trotzdem werden mentale Zustände in Begriffen beschrieben, die sich auf etwas objektiv und materiell kaum Definierbares beziehen (3). Hingegen haben biologische Begriffe wie Rezeptorbesetzung oder Aktionspotenzial an sich keine Eigenschaften, die in irgendeiner Weise dem entsprechen, wie wir unser Erleben beschreiben. Man stelle sich beispielsweise einen Spezialisten der Schmerzkunde vor, der selbst eine angeborene und vollständige Schmerzunempfindlichkeit hat. Wo und welche Art von Schmerzen der Klient hat, weiss der Experte aufgrund der Beschreibung und seines Fachwissens recht genau. Er weiss daher, was auf physiologischer Ebene im Körper stattfindet, und kann aufgrund von diesem Wissen effizient behandeln. Der Spezialist muss allerdings zugeben, dass er auf die Frage «Wissen Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass es wehtut?» nur mit einem Nein antworten kann, weil «wehtun» ihm selbst unbekannt ist (4). Das mentale Erleben von beispielsweise Schmerz scheint demnach Qualitäten zu haben, die aus den physischen Qualitäten der biologischen Vorgänge (wie Ort, Masse, Energie bestimmter Teilchen) nicht ableitbar scheinen. Und es ist auch nicht erkennbar, wo und wie in einer theoretisch vollständig beobachtbaren Kaskade von physikalisch-biologischen Ereignissen (die z.B. eine körperliche Reaktion auf einen Stimulus erklären können) diese «mentalen» Qualitäten überhaupt in das System kommen könnten (4).
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Wenn Psychiater durch Eingriffe in die Biologie mentale Zustände beeinflussen wollen, sind sie mit recht sonderbaren Fragen konfrontiert.
Die Erklärungslücke zwischen biologischen und mentalen Vorgängen Zusammenfassend scheint damit einerseits aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive das System «Mensch» im Prinzip völlig erklärbar durch die Naturgesetze: Nichts am Menschen Beobachtbares scheint im Widerspruch dazu. Jedoch ist uns allen klar, dass im Verbund mit solchen physikalisch-biologischen Prozessen ein mentales Erleben stattfindet, das sich zwar in einer sehr engen Wechselwirkung mit der physischen Welt befindet, das sich aber in Dimensionen wie «Farbigkeit», «Geschmack» oder auch «Wollen» abbildet, die gänzlich ausserhalb dessen sind, was uns physikalische Begriffe erschliessen. Damit bleibt erst einmal unklar, wie eine «Mechanik» überhaupt aussehen könnte, aufgrund deren sich eine Korrespondenz von biologischen und mentalen Vorgängen begründen liesse. Diese Feststellung schliesst, notabene, nicht aus, dass mentale Zustände eine materielle Basis haben.
Das Supervenienzprinzip als Verbindung Eine der gängigsten Sichtweisen auf diese Problematik postuliert, dass mentale Zustände auf physische Zustände sogenannt supervenieren (5). Wenn es demnach einen physischen Zustand gibt, der einen mentalen Zustand in irgendeiner Weise «materialisiert», kann sich dieser dermassen materialisierte mentale Zustand nicht ändern, ohne dass sich der physische Zustand ebenfalls ändert. Es gibt in dieser Sichtweise demnach für jeden einzelnen Fall eines mentalen Zustandes ein physisches Pendant, das gesetzmässig mit dem mentalen Zustand verbunden ist: Der physische Zustand kann nicht auftreten, ohne dass gleichzeitig der entsprechende mentale Zustand auftritt. Dieses Supervenienzprinzip ist uns allgegenwärtig: Das Vermögen in meinem Portemonnaie superveniert auf die entsprechenden Münzen und Scheine darin, weil sich das Vermögen nicht ändern kann, ohne dass sich die Münzen und Noten ändern, und ich mit den Münzen und Noten im Portemonnaie automatisch auch ein Vermögen im Portemonnaie habe. Oder ich kann sagen, das Bild über meinem Schreibtisch superveniert auf die Farbpigmente auf der Leinwand: Immer wenn die jeweiligen Farbpigmente an der entsprechenden Stelle auf einer Leinwand sind, habe ich auch dasselbe Bild, und ich kann das Bild nicht
ändern, ohne etwas an den Farbpigmenten zu ändern. Etwas anderes scheint auch für den Zusammenhang von mentalen und physischen Zuständen schwer vorstellbar, wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass das «Mentale» etwas ist, das von der physischen Welt gänzlich unabhängig ist. Diese Supervenienz von einzelnen mentalen Ereignissen auf einzelne physische Ereignisse wird als sogenannte schwache Supervenienz bezeichnet (5). Man spricht auch von einer sogenannten Token-Token-Identität von mentalen und physischen Ereignissen, und es bedeutet, dass es in jedem Einzelfall eines mentalen Zustandes einen Einzelfall eines physikalischen Zustands gibt, der den mentalen Zustand realisiert. Das hilft uns insofern weiter, als dass es erklärt, warum physische Zustände mit mentalen Zuständen überhaupt zusammenhängen und warum mentale Zustände wie der des Wollens physisch wirksam werden: Den Zusammenhang und die kausale Wirksamkeit gibt es, weil jeder mentale Zustand in irgendeiner Weise durch einen physischen Zustand realisiert wird, also jeder mentale Zustand im Einzelfall mit einem physischen Zustand identisch ist.
Brückenprinzipien als begründbare Regeln Umgekehrt fehlt das sogenannte Brückenprinzip, begründbare Regeln, die erklären, warum mentale und physische Zustände in der beobachteten Form miteinander korrespondieren. Solche Brückenprinzipien zwischen verschiedenen Beschreibungsebenen von identischen Dingen existieren für viele andere Identitäten. Wasser und H20 sind zum Bespiel identisch, und eine Person, die sich gut in der Physik auskennt, kann begründen, warum Wasser Eigenschaften wie eine bestimmte Siedetemperatur hat. Wenn solche Brückenprinzipien in einer naturgesetzmässigen Form vorhanden sind und die Gesamtheit der Eigenschaften der übergeordneten Beschreibungsebene (z.B. des Wassers) sich daraus ausreichend aus den Eigenschaften der untergeordneten Beschreibungsebene (H2O) herleiten lassen, dann spricht man von einer starken Supervenienz oder einer Type-Type-Identität. Solche umfassenden und auf starken und letztlich naturgesetzlich begründbaren Zusammenhängen basierenden Brückenprinzipien sind eine wichtige Grundlage für das wissenschaftliche Verstehen und Zueinander-in-Bezug-setzenKönnen von auf verschiedenen Ebenen beobachtbaren Phänomenen wie etwa den molekularen Eigenschaften von H2O-Molekülen und den Eigenschaften von Wasser. Und wenn wir durch systematische Eingriffe auf der unteren Ebene etwas auf der übergeordneten Ebene bewirken wollen, ist es von grossem Vorteil, wenn wir uns dabei durch solche Brückenprinzipien leiten lassen, mit denen wir die Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen ineinander überführen können. Für die Korrespondenz von mentalen mit physischen Zuständen ist überhaupt nicht klar, wie solche naturwissenschaftlichen Brückenprinzipien überhaupt aussehen könnten. Wie sollte zum Beispiel eine naturgesetzliche Erklärung aussehen, die begründen könnte, warum sich die Erregung von C-Fasern in einer Weise anfühlt, die wir als Schmerz kennen, oder warum wir elektromagnetische Strahlung im Bereich von zirka 380
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bis 750 nm als Farbe erleben. Aber ohne die Existenz solcher systematischen Brückenprinzipien, also ohne eine starke Supervenienz, ist eine systematische Untersuchung von mentalen Zuständen in Begriffen und Konzepten aus der Biologie von vornherein unmöglich.
Orientierung am Verhalten des Patienten Das Forschungsprogramm der biologischen Psychiatrie kann diesem eigentlich sehr fundamentalen Problem begegnen, indem es sich am Verhalten des Patienten orientiert (6), wobei unser Verhalten gleichzeitig und unabhängig voneinander auf der mentalen und auf der physiologischen Ebene erklärbar ist. Mental erklären wir unser Verhalten typischerweise als kognitive Vorgänge und damit durch bewusste und unbewusste mentale Zustände wie Wünsche oder Überzeugungen, verbunden mit Erleben, das diese Wünsche begründet. Wenn zum Beispiel jemand mit einer Spinnenphobie eine Spinne sieht, erlebt diese Person typischerweise Angst, was kohärenterweise den Wunsch zu fliehen begründet. Diese Form von Begründung scheint sinnvoll und vollständig, bezieht sich aber nur auf mentale Begriffe. Gleichzeitig spricht nichts dagegen, das Fluchtverhalten der Person auf einer rein biologischen Ebene erklären zu wollen, als eine zwar äusserst komplexe, aber naturgesetzlich vollständig definierte Abfolge von neurophysiologischen Vorgängen, deren Ursache das Vorhandensein einer Spinne und deren Folgen schnelle Bewegungen von der Spinne weg sind. Eine solche biologistische Erklärung scheint ebenfalls sinnvoll und vollständig, kommt nun aber interessanterweise vollständig ohne Bezugnahme auf mentale Zustände aus. Mit der Orientierung am Verhalten des Patienten bekommt das Forschungsprogramm der biologischen Psychiatrie also einen «Brückenpfeiler», zu dem sich sowohl von der mentalen als auch von der biologischen Herangehensweise die notwendigen Brückenprinzipien grundsätzlich finden lassen sollten: Verhalten ist gleichzeitig beschreibbar als Folge von kognitiv-mentalen und von physiologischen Vorgängen, was im Einzelfall eine Identität dieser kognitiv-mentalen und physiologischen Vorgänge nahelegt. Zusammen mit der sinnvollen Annahme, dass die Ursachen von Verhalten sowohl auf der mentalen als auch auf der physiologischen Erklärungs-
Merkpunkte:
● Unser Erleben und unser Verhalten lassen sich durch neurobiologisch wirksame physische Eingriffe systematisch beeinflussen.
● Die biologische Psychiatrie versucht, dieses damit verbundene Leiden systematisch in eine gewünschte Richtung zu verändern.
● Damit stellt sich die Psychiatrie allerdings einem einzigartigen Phänomen: Das Verständnis von mentalen Zuständen ist wissenschaftlich nur schwer zugänglich.
● Das Forschungsprogramm der biologischen Psychiatrie begegnet diesem fundamentalen Problem, indem es sich am Verhalten des Patienten orientiert.
ebene systematisch und gesetzmässig und vorhersagbar sind (das heisst, dass es kognitive und biologische Regeln gibt), und aufgrund der Tatsache, dass wir Verhalten (im Gegensatz zu mentalen Zuständen) systematisch beobachten können, wird es damit grundsätzlich möglich, biologische Psychiatrie gemäss den üblichen hohen Standards der Naturwissenschaften und der Medizin zu betreiben, ohne dabei den Bezug zu dem zu verlieren, was das ganze Projekt begründet: nämlich letztlich nur in mentalen Begriffen verständlich zu machendes psychisches Leiden.
Typisierung und Dimensionalisierung von psychopathologisch relevantem Verhalten Die biologische Psychiatrie muss deshalb mindestens zwei Agenden gleichzeitig führen und miteinander in Übereinstimmung bringen. Einerseits gilt es, in dem grossen Repertoire an beobachtbarem menschlichemVerhalten (von unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen, Mimik, Gestik, Sprache, praktischen Handlungen, Handlungssequenzen bis zu ganzen Handlungsnarrativen) diejenigen Typen und Dimensionen zu finden, für deren Variationen es genügend gute kausale Erklärungen in denjenigen mentalen Begriffen gibt, die einen direkten Bezug zum zu behandelnden psychischen Leiden haben. Andererseits muss diese Typisierung und Dimensionalisierung von Verhalten solcher Art sein, dass sich die dadurch erfassbaren Variationen von Verhalten gleichzeitig rein biologisch und ohne Zuhilfenahme von mit mentalen Begriffen vermischten Konzepten überzeugend erklären lassen. Wir wären sonst wieder mit «Mischkonzepten» aus biologischen und mentalen Erklärungen konfrontiert, für deren Verständnis wir wieder keine geeigneten Brückenprinzipien hätten, und würden damit einen sogenannten Kategorienfehler begehen (7). Ohne diese klare Trennung von mentalen und biologischen Erklärungen von möglicherweise letztlich ein und demselben wäre es also gar nicht sinnvoll, in einer wissenschaftlich fundierten Weise biologische Interventionen zur Behandlung von psychischen Erkrankungen entwickeln zu wollen (6). G
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. sc. nat. Thomas König Zentrum für Translationale Forschung Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universität Bern Bolligenstr. 111
3000 Bern 60 E-Mail: thomas.koenig@upd.unibe.ch
Literatur: 1. Siclari F, Baird B, Perogamvros L, Bernardi G, LaRocque JJ, Riedner B,
Tononi G: The neural correlates of dreaming. Nat Neurosci 2017 Jun; 20(6): 872–878. doi: 10.1038/nn.4545. Epub 2017 Apr 10. 2. Nagel T: What Is It Like to Be a Bat? The Philosophical Review, Vol. 83, No. 4; (Oct 1974); pp. 435–450. 3. Searle JR: Consciousness. Annual Review of Neuroscience 2000, 23: 1, 557–578. 4. Jackson F: What Mary Didn’t Know. The Journal of Philosophy, Vol. 83, No. 5; (May, 1086), pp. 291–295. 5. Kim J: (2017). Concepts of supervenience. In Supervenience. https://doi.org/10.4324/9781315242071-3. 6. Strik W, Stegmayer K, Walther S, Dierks T: Systems Neuroscience of Psychosis: Mapping Schizophrenia Symptoms onto Brain Systems. Neuropsychobiology 2017; 75: 100–116. 7. Ryle G: The Concept of Mind. London; New York: Hutchinson’s University Library, 1949.
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