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EDITORIAL
Gewusst haben wirs ja schon immer: Zu wenig Bewegung ist nicht gesund. So richtig «wissenschaftlich»
werden derlei Binsenweisheiten aber erst, wenn fleissige Statistiker irgendeinen Zahlenwert errechnen, der angibt, wie ungesund dies oder das global betrachtet ist. Glaubt man dem Zahlenzauber der Autoren einer kürzlich in «The Lancet» publizierten Arbeit (1), so sterben jährlich weltweit 5,3 Millionen «Couch Potatoes» vor Ablauf ihrer eigentlichen Lebensspanne an KHK, Diabetes, Brust- oder Kolonkrebs, weil sie sich zu wenig bewegen. Und: Die körperliche Trägheit habe mithin den gleichen lebensverkürzenden Effekt wie das Rauchen. Es sieht nicht gut aus für die Hersteller von Rolltreppen, Fernbedienungen und anderen Hilfsmitteln, die körper-
Wie ungerecht das ist, zeigt sich beispielsweise bei Diabetes. Wenn ein Dicker Altersdiabetes bekommt, ist das Urteil «selbst schuld» schnell gefällt. Vergessen wird dabei die banale Tatsache, dass zwar die meisten Typ-2Diabetiker zu dick sind, aber bei Weitem nicht alle Dicken Diabetes bekommen. Auch helfen ausgewogene Ernährung und regelmässige Bewegung eben keineswegs immer, einen Diabetes zu verhindern oder diesen zu lindern. So konnte man per Lifestyleänderung nur bei jedem zweiten prädiabetischen Studienteilnehmer (2) die Entwicklung zu einem manifesten Diabetes langfristig verhindern, wie es kürzlich es in einer Pressemitteilung der deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) hiess. In einer anderen Studie (3) ging es um sehr junge Typ-2Diabetiker, deren Blutzuckerspiegel mittels Metformin plus Lebensstiländerungen gesenkt werden sollte. Doch nur die Hälfte der jungen Patienten erreichte mit Metformin einen akzeptablen Blutzucker, und die Ände-
Selbst schuld?
licher Faulheit Vorschub leisten. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis solche Produkte auf einer schwarzen Liste landen und allenfalls noch mit Attest des Arztes genutzt werden dürfen. Sie finden das übertrieben? Mag sein, aber vor ein paar Jahren hätte auch noch keiner geglaubt, dass einmal das Rauchen auf Fährschiffen und Bahnsteigen (im Freien!) verboten werden könnte. Der Glaube an die heilbringende Macht eines notfalls gesetzlich verordneten gesunden Lebensstils ist ungebrochen und kommt nicht selten mit einem geradezu religiös anmutenden Eifer daher. Es ist kein Zufall, dass der Begriff «Sünde» fast zwangsläufig verwendet wird, wenn es beispielsweise um den Genuss von Süssigkeiten und Alkohol oder um das Rauchen geht. Doch wer von Sünde spricht, spricht immer auch von Schuld und heftet vielen kranken Menschen obendrein das Etikett «selbst schuld» an.
rung des Lebensstils brachte keine zusätzliche Besserung. Das könne nicht allein mit mangelnder Disziplin erklärt werden, betonte Prof. Andreas Fritsche, Pressesprecher der DDG. Die weitverbreitete Ansicht, solche Patienten seien ausschliesslich selbst schuld an ihrem Therapiemisserfolg, sei falsch. Ein gesunder Lebensstil ist sicher eine gute Sache, aber entsprechende Krankheiten sind nicht die unvermeidliche Konsequenz «sündigen» Verhaltens, sondern letztlich Schicksal.
Renate Bonifer
1. Lee IM et al., Lancet 2012; 380: 219–229. 2. Perreault L et al., Lancet 2012; 379 (9833): 2243–2251. 3. TODAY Study Group, Zeitler P et al., N Engl J Med 2012; 366 (24): 2247–2256.
ARS MEDICI 15 ■ 2012
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