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BERICHT
Strategien gegen die Diabetespandemie
European Diabetes Leadership Forum
European Diabetes Leadership Forum am 25. und 26. April 2012 in Kopenhagen. Veranstalter: Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), Danish Diabetes Association.
Laut Berechnungen der International Diabetes Federation (IDF) sind allein in Europa derzeit rund 35 Millionen (6,2%) Erwachsene von Diabetes betroffen (2011). Bis zum Jahr 2030 soll diese Zahl bis auf 43 Millionen ansteigen. Bei dem vom dänischen Unternehmen Novo Nordisk unterstützten European Diabetes Leadership Forum in Kopenhagen diskutierten hochrangige Fachleute aus Medizin, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft über die Möglichkeiten, der drohenden Diabetespandemie Einhalt zu gebieten.
KLAUS DUFFNER
Durch die massiven finanziellen Verwerfungen in Europa geraten die Gesundheitsbudgets vieler europäischer Länder derzeit unter enormen Druck. Die eigentlichen Herausforderungen für die bestehenden Gesundheitssysteme sind jedoch die immer älter werdende Gesellschaft und die Zunahme chronischer Erkrankungen. Vor allem die bedrohliche Zunahme des Diabetes macht derzeit Sorgen. So werden in manchen Ländern der Welt in den kommenden Jahren epidemische Ausmasse erwartet. Wie kann hier Einhalt geboten werden? Prävention, frühe Diagnose und Therapie – an jeder dieser zentralen Stell-
schrauben muss gedreht werden, so die Einschätzung der internationalen Fachleute in Kopenhagen. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und das dänische Gesundheitsministerium hatten mit Unterstützung der Firma Novo Nordisk rund 800 europäische Regierungsmitglieder, darunter die dänische Ministerpräsidentin Helle ThorningSchmidt, Vertreter des Gesundheitswesens und Repräsentanten unterschiedlicher Interessengruppen in die dänische Hauptstadt eingeladen, um Strategien zur Eindämmung der drohenden Diabeteskrise zu diskutieren.
Diabetes in Europa Derzeit (Stand 2011) leiden in Europa – bestehend aus 39 Staaten inklusive Türkei und Island – 35 Millionen Erwachsene an Diabetes (Typ 1 und Typ 2). Bis ins Jahr 2030 wird mit einer Zunahme um 23 Prozent auf 43 Millionen gerechnet. Trotz dieser gewaltigen Zahlen hat Europa – das ist allerdings ein schwacher Trost – die in den Weltregionen immer noch geringste prognostizierte Steigerung der Blutzuckerkrankheit. Ein Blick auf die «Diabeteskarte» zeigt, dass innerhalb Europas die Prävalenzen von Land zu Land stark differieren. Während Albanien eine Präva-
Drachenspringbrunnen vor dem Rathaus im Zentrum Kopenhagens
(Alle Fotos: K. Duffner)
nehmen eine mittlere Stellung ein. Auch die Kosten unterscheiden sich enorm: In Mazedonien betragen die Gesundheitsausgaben für Diabetes lediglich 312 Euro pro Person und Jahr, in Norwegen 6896 Euro. Insgesamt bezahlen die Europäer für die Behandlung und das Management des Diabetes und seiner Folgekomplikationen derzeit jährlich 89 Milliarden Euro (ohne die Kosten für Arbeits- und Produktionsverluste). Für die nahe Zu-
«Nichts ist trauriger als die steigende Rate übergewichtiger Kinder.»
lenz von nur 2,8 Prozent aufzuweisen hat, liegt sie in Portugal, dem am stärksten betroffenen Land, bei 9,8 Prozent, gefolgt von Polen (9,2%) oder der Türkei (8,1%). Deutschland (5,5%), Frankreich (5,6%), Italien (5,3%), Grossbritannien (5,4%), Dänemark (5,7%) oder die Niederlande (5,4%)
kunft wird mit 100 Milliarden Euro pro Jahr gerechnet. Allein aus volkswirtschaftlichen Gründen könne es sich daher kein Land leisten, den Anstieg der Diabeteszahlen zu ignorieren, warnte der stellvertretende Generalsekretär der OECD Yves Leterme. Nichtstun sei für jede Volkswirtschaft schlicht zu teuer.
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Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan in Kopenhagen
Übergewichtige Kinder – Diabetiker von morgen Übergewicht ist ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung von Diabetes. Es sei «nichts trauriger als die steigende Rate übergewichtiger Kinder», klagte Zsuzsanna Jakab, Direktorin von WHO Europe. Tatsächlich leidet schon heute – quer durch Europa – ein Fünftel bis ein Drittel aller Kinder an Übergewicht. Jedes Jahr kommen rund 400 000 hinzu. So steigt in Ländern wie Belgien oder Slowenien, wo entsprechende Daten genau nach Jahrgängen erfasst werden, der Anteil übergewichtiger Knaben mit jedem Lebensjahr. Während bei den sechsjährigen belgischen Knaben 19,3 Prozent an Übergewicht leiden, sind es bei den neunjährigen schon 27,4 Prozent. In Slowenien erhöht sich die Rate der dicken Buben von 28 Prozent bei den Sechsjährigen sukzessive auf 35,2 Prozent bei den Neunjährigen. Auch in den anderen Mittelmeerländern schleppen auffällig viele männliche Kinder zu viele Kilos
mit sich herum: Nach einer OECDSchätzung aus dem Jahr 2007 sind bei den Sechs- bis Neunjährigen in Griechenland 45 Prozent (Mädchen 37%), Spanien 33 Prozent (Mädchen 23%) oder Italien 32 Prozent (Mädchen 31%) betroffen. Auf der anderen Seite neigen in den nordeuropäischen Ländern etwas mehr die Mädchen zu Übergewicht: Island 26 Prozent (Knaben 22%), Schweden 20 Prozent (Knaben 17%) oder Dänemark 15 Prozent (Knaben 14%). Die Schweiz steht in der OECD-Statistik in beiden Geschlechtern mit 17 Prozent Übergewicht bei den Buben und 13 Prozent bei den Mädchen noch relativ gut da.
«Dritte Welt» nicht vergessen Der Höhepunkt der Veranstaltung in Kopenhagen war der mit Spannung erwartete Vortrag des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Während Erkrankungen wie HIV, Malaria oder Tuberkulose global langsam auf dem Rückzug seien, so Anan, scheine die Diabetespandemie zu explodieren. So werde bis ins Jahr 2030 jeder zehnte Mensch an Diabetes leiden. Die in den nächsten 20 Jahren anfallenden Kosten aller nicht ansteckenden Erkrankungen (non communicable diseases, NCD) – vor allem Diabetes, Krebs, Herz- und Gefässerkrankungen, chronische Lungenerkrankungen – würden sich nach Berechnungen der Harvard University auf die aberwitzige Zahl von 47 Billionen US-Dollar addieren. Dabei sind zunehmend Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen betroffen. Beispielsweise liege die Diabetesinzidenz in Indien bereits heute über der vieler europäischer Staaten und wachse in einem alarmierenden Ausmass, so Anan. Zudem würden in den ärmeren Ländern auffällig viele jüngere Menschen an NCD leiden. Tatsächlich sterben in Sierra Leone 58 Prozent der Menschen vor dem 60. Lebensjahr an NCD – in Dänemark im Vergleich dazu nur 9 Prozent. «Durch diese Entwicklung werden die in den vergangenen Jahren geschaffenen sozialen und ökonomischen Fortschritte zunehmend bedroht, da die häufig noch jungen Gesundheitssysteme der dritten Welt dem enormen finanziellen und sozialen Druck nicht gewachsen sind», sagte der Friedensnobelpreisträger von 2001.
Allerdings gibt es durchaus auch positive Beispiele. So habe die erfolgreiche Zusammenarbeit von Wissenschaft, Regierungen, Industrie und privaten Organisationen dazu beigetragen, sowohl Tuberkulose als auch Malaria zurückzudrängen. Auch die Ausbreitung von HIV und anderen Infektionskrankheiten konnte in vielen Ländern gestoppt werden. Allerdings seien für Krankheiten wie Diabetes noch gewaltige Anstrengungen notwendig. Dabei spielten die Industrieländer eine Schlüsselrolle, so die Einschätzung von Anan, «auch wenn sie derzeit ebenfalls unter starkem Druck stehen». Trotzdem: «Wir können nicht die Ärmsten und Verletzlichsten auf unserem Planeten den Preis für die Exzesse und Fehler zahlen lassen, die sie gar nicht zu verantworten haben.» Es sei ein Vertrauensbruch und zudem sehr kurzsichtig, wenn die gegenwärtige finanzielle Krise als Entschuldigung genommen würde, die versprochene Hilfe den ärmeren Ländern zu verweigern.
Junk Food auch in der Dritten Welt Ob in den Entwicklungs- oder Industrieländern: Es sind oft soziale Determinanten, die zur Zunahme des Diabetes beitragen. Der Zugang zu gesunder Nahrung, zu regelmässigem Sport und Bewegung ist häufig von der gesellschaftlichen Schicht abhängig, der die jeweiligen Bevölkerungsgruppen angehören, gab Lars Rebien Sörensen, Präsident und CEO der Firma Novo Nordisk zu bedenken. Gerade das diabetesfördernde Junk Food – das sich übrigens auch in der Dritten Welt rasant ausbreitet, wie Kofi Anan mit Bedauern anmerkte – ist in tieferen sozialen Schichten sehr beliebt. Seine Heimat, so ein griechischer Teilnehmer während der Diskussion, sei doch eigentlich immer für eine ausgewogene «Mittelmeerdiät» mit Fisch, Gemüse, Olivenöl und Früchten bekannt gewesen. Die im Vergleich zum europäischen Durchschnitt fast doppelt so hohe Fettleibigkeit bei griechischen Kindern zeige jedoch, wie schnell sich unter dem Einfluss von Fastfood und Cola die Verhaltensweisen ändern.
Fettsteuer auf ungesunde Lebensmittel In manchen Ländern wurde auf diese Entwicklung bereits reagiert. So erhob
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man in Dänemark auf fetthaltige Nahrungsmittel Ende 2011 eine Steuer. Egal, ob Butter, Milch, Fleisch, Pizza oder Fertiggerichte: pro Kilogramm gesättigter Fettsäuren werden nun 16 Kronen (Fr. 2,60) fällig. Prinzipiell sei es jedoch besser, mit den grossen Nahrungsmittelkonzernen zu sprechen, als auf Konfrontation mit ihnen zu gehen, so Lars Rebien Sörensen. Der Kampf, der mit einer Vielzahl präventiver Mittel gegen Diabetes geführt werden müsse, sei eine Anstrengung, die letztlich auch die wirtschaftliche
Schneller reagieren durch mehr Information Überhaupt geht Dänemark mit lokalen, regionalen und nationalen Antidiabeteskampagnen und einem nationalen Diabetesaktionsplan mit gutem Beispiel voran, freute sich Henrik Nedergaard, CEO der dänischen Diabetesgesellschaft. In dem skandinavischen Land soll mit einer speziellen Software (Sentinel Data Capture) die Verfügbarkeit wichtiger Diagnose- und Therapiedaten sichergestellt und damit die Arbeit von Allgemeinpraktikern er-
«Wir können nicht die Ärmsten und Verletzlichsten auf unserem Planeten den Preis für die Exzesse und Fehler zahlen lassen, die sie gar nicht zu verantworten haben.»
Wettbewerbsfähigkeit der Länder erhalte. Immerhin seien in manchen Ländern schon Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise konnte in Irland, Grossbritannien oder Dänemark die weitere Ausbreitung des Diabetes gestoppt werden.
leichtert werden. Auf die Datenbank haben nur die betroffenen Patienten und deren Hausärzte Zugriff. In ihr wird zum Beispiel der aktuelle Status zu HbA1c, Blutdruck, Lipdspiegel, BodyMass-Index (BMI), Rauchen oder körperlicher Verfassung der Patienten bereitgestellt. In wöchentlichen «Qualitätsreports» wird dann auf Veränderungen aufmerksam gemacht, um rechtzeitig Gegenmassnahmen einleiten zu können.
Viele Menschen in Europa wissen gar nichts von ihrem hohem Diabetesrisko
Unbekanntes Diabetesrisiko Neben einer adäquaten Therapie stehen Prävention und die frühe Diagnostik im Fokus der Gesundheitsexperten. So kann das Risiko, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, für Menschen mit gestörter Glukosetoleranz durch pharmakologische Interventionen um 31 Prozent und durch Lebensstilmodifikationen um 58 Prozent verringert werden. Das Problem dabei: Viele der geschätzt 42 Millionen Menschen (rund 9,5% der europäischen Gesamtpopulation) mit gestörter Glukosetoleranz wissen überhaupt nichts von ihrem Risiko. So haben 26 Prozent aller Deutschen mit hohem Diabetesrisiko noch nie eine Blutglukosemessung durchführen lassen. Ausserdem wurde festgestellt, dass 38 Prozent der Hochrisikopersonen niemals geglaubt hätten, überhaupt gefährdet zu sein. In Frankreich wusste knapp die Hälfte der Diabetespatienten vor der Diagnose nichts von einem Risiko. Auch den
12 Prozent Italienern, 8 Prozent Nie-
derländern und 14 Prozent Spaniern
mit hohem Diabetesrisiko war in
73 Prozent, 68 Prozent beziehungs-
weise 70 Prozent der Fälle nichts von
einer Gefährdung bekannt. In der Tür-
kei zeigten sich 49 Prozent der Hoch-
risikopersonen davon überzeugt, dass
sie im Laufe des Lebens niemals Diabe-
tes entwickeln. Schliesslich glaubten
20 Prozent der Briten, dass Diabetes
mit einem Stigma behaftet sei, und
10 Prozent der Polen, dass es sich dabei
um eine ansteckende (!) Krankheit
handle.
Um solche erschreckenden Informa-
tionsdefizite zu beseitigen, so die Exper-
ten, müssten die Bevölkerung und vor
allem die Risikogruppen im Rahmen
regionaler und nationaler Diabetespro-
gramme noch stärker aufgeklärt wer-
den. So wird geschätzt, 58 Prozent der
Hochrisikopersonen vor einem Aus-
bruch des Typ-2-Diabetes bewahren zu
können – unter der Voraussetzung, dass
entsprechende Präventionsmassnahmen
durchgeführt werden. Zudem kann
durch eine frühe Diagnose und Thera-
pie die Progression der Krankheit zu-
mindest verlangsamt werden. Die kom-
menden Jahre werden zeigen, ob die in
Kopenhagen ausgegebenen Appelle tat-
sächlich Früchte tragen.
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Klaus Duffner
Der Bericht entstand mit Unterstützung der Firma Novo Nordisk. Auf den Inhalt des Textes nahm die Firma keinen Einfluss.
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