Transkript
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Eichhörnchen – die Kobolde des Waldes
Flinke Kletterer mit buschigem Schwanz
Das Eichhörnchen gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Wildtieren
Von Heini Hofmann
per, dem leichten Knochenbau, den sehr muskulösen Hinter- und den äusserst geschickten
unseres Landes. Erstaunlich, dass es
Vorderbeinen mit langen, gebogenen Krallen
dennoch zu den wenig erforschten Vertretern der
an Zehen und Fingern machen die Eichkatzen zu wahren Klet-
heimischen Fauna zählt.
terkünstlern, die sich nur selten am Boden aufhalten (ausser
in Pärken, wo sie als zahme Tiere beim Futterbetteln atypi-
Sein Bekanntheitsgrad hat vierfachen Grund: recht häufiges
sches Verhalten zeigen).
Vorkommen, auffällig possierliches Benehmen, kein allzu
grosser Respekt vor dem Menschen (wie Schwalbe, Amsel,
Steuer, Balance und Signal
Spatz und Ratte) und ein Tagesablauf, der etwa dem unsri-
Wie es beim Menschen eine Hamolstellung, so gibt es beim
gen entspricht, sodass man diesen Waldkobold auch zu
Eichhörnchen eine Kalenderblattpose: aufrecht sitzend, ma-
Gesicht bekommt, einfacher jedenfalls als extreme Kultur-
nierlich eine Haselnuss oder einen Tannzapfen in den Vor-
flüchter oder gar nachtaktive Tiere.
derpfoten und den buschigen Schwanz – einem Sonnen-
schirm gleich – S-förmig über den Rücken geschlagen. Die
Sommersiesta ja, Winterschlaf nein
alten Griechen nannten diese lebende Statuette «Skiouros»
Eichhörnchen sind ausgesprochene Tagtiere mit gewöhnlich
(= der sich mit dem Schwanz Schattengebende). Diese poe-
zwei Aktivitätsphasen: Beim Morgengrauen werden sie mun-
tische Umschreibung blieb im Gattungsnamen (Sciurus vul-
ter, über Mittag halten sie Siesta, am Nachmittag sind sie
garis) bis heute erhalten.
wieder aktiv, und vor Sonnenuntergang gehen sie schlafen.
Jedoch: Das Schattenspenden ist wohl die unwichtigste Auf-
Im Herbst verkürzt sich ihre Mittagsruhe und entfällt
gabe dieses mächtigen Schwanzes. In erster Linie dient er
schliesslich ganz, sodass beide Aktivitätsphasen zu einer
als Steuerruder bei weiten Sprüngen und als Balancier-
verschmelzen, die mit fortschreitendem Einwintern noch
stange beim Klettern oder als optischer Signalgeber bei der
schrumpft und sich auf den späteren Morgen beschränkt.
Balz (Liebesvorspiel) und schliesslich als Kälteschutz im
Entgegen weitverbreiteter Meinung macht das Eichhörnchen
Winter. Ein weiteres Typikum sind die adretten Haarbüschel
– im Gegensatz zu dem ihm verwandten Murmeltier – keinen
auf den Ohren. Ähnliche Ohrpinsel weist unter den einheimi-
Winterschlaf. Allerdings schränkt es seine Aktivität in der
schen Wildtieren nur noch der Luchs auf.
kalten Jahreszeit stark ein und verlässt das Nest erst spät-
morgens für kurze Zeit. Dabei verrichtet es nur das Unver-
meidliche: Nahrungssuche und Notdurft. Schnee und tiefe Temperaturen allein schrecken es nicht zurück, doch meidet
Trittsiegel und Fährte
es stürmische und niederschlagsreiche Schlechtwetter-
perioden.
Zum Klettern geboren Studien an Eichhörnchen in freier Wildbahn sind deshalb nicht einfach, weil sich die Tiere meist unbeobachtbar in Baumkronen aufhalten und Männchen und Weibchen bezüglich Grösse, Aussehen, Färbung und Gewicht schwer zu unterscheiden sind. Eindrücklich ist ihre Anpassung ans Leben auf den Bäumen. Die anatomischen Proportionen mit dem geschmeidigen Kör-
rechter Vorderfuss
rechter Hinterfuss
mit vier schlanken Zehen mit fünf schlanken Zehen
Eichhörnchenspur: Fortbewegung am Boden immer in
Sprüngen (Hinterfüsse seitlich
vor den Vorderfüssen)
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Es gibt rote und braun bis schwarz gefärbte Eichhörnchen, jedoch alle mit weissem Bauch. Rötliche Spielarten kommen vor allem in Niederungen vor, die dunklen in höheren Lagen. (Bilder: Aita Gross)
Die Roten und die Schwarzen Auf dem besagten Kalenderbild prangt meist ein fuchsrotes Eichhörnchen. In Wirklichkeit variiert die Färbung von Rot über Braun bis Schwarz, jedoch stets mit weisser Körperunterseite. Im Flachland überwiegt die rote, im hügeligen und Bergland dagegen die dunkle Varietät. Zudem wird die Färbung durch zweimaligen Haarwechsel im Frühling und Herbst beeinflusst. Beim Übergang vom Sommer- zum Winterfell verändern sich nicht nur Länge und Dichte der Haare, sondern es treten vermehrt weissgraue Haare auf, wodurch die Färbung gedämpft wird, sodass rote Tiere grauer und braun-schwarze heller erscheinen, mit silbergrauen Zonen besonders an den Flanken. Das Langhaar an Ohrbüscheln und Schwanz dagegen wird nur einmal im Jahr im Anschluss an den Frühlingshaarwechsel des Körperfells gewechselt.
Ihr Heim – das Kugelnest Das Wohngebiet eines Männchens ist rund zehn Hektaren, dasjenige eines Weibchens etwa halb so gross. Ungefähr in dessen Zentrum befindet sich das Nest, fachsprachlich der Kobel, von leicht abgeflachter Kugelgestalt, mit einem äusseren Durchmesser von zwanzig bis fünfzig Zentimetern, meist in einer starken Astgabelung direkt am Stamm und fünf bis zehn Meter über dem Boden. Die Nestkugel besteht aus einem Zweiggeflecht und ist innen mit Gras, Moos und Baumbast ausgepolstert. Die Nesthöhle weist einen Durchmesser von zehn bis zwanzig Zentimetern auf und ist durch ein fünf Zentimeter weites Schlupfloch zugänglich. Der Bau eines solchen Nestes dauert wenige Tage. Meist besitzt ein Tier neben dem Hauptnest noch Reservenester, die als Unterschlupf dienen bei Störungen rund um den Haupkobel oder auf der Futtersuche.
Frassspuren an Fichtenzapfen – wer war’s?
Eine ausgefaserte Zapfenspindel besagt, dass die Schuppen ab-
gerissen wurden – vom Eichhörnchen.
Sind die Schuppen dicht und sauber über der Spindel abgenagt,
war es die Maus.
Ist der Zapfen zerhackt und zerzaust und sind die Schuppen ausgedreht, stammen die Spuren aus der Spechtschmiede.
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Rabiate Hochzeitssitten Eichhörnchen gelten als nichtsoziale Tiere, die als Einzelgänger leben, mit wenig Kontakt zu Artgenossen. Jedes erwachsene Tier hat sein eigenes Nest, das es gegen andere verteidigt. Dieses Verhalten ändert sich erst zur Paarungszeit. Wenn der Winter das Zepter nicht mehr fest in der Hand hält, wird der Wald zum Schauplatz der verrückten Eichhörnchenhochzeit. Zuerst verjagt das Weibchen das werbende Männchen, dann flieht es vor ihm, was zu wilden Verfolgungsjagden während mehrerer Tage führt, bis sich das Weibchen in seinem Hauptnest begatten lässt. Nach erfolgter Paarung verjagt das Weibchen erneut das Männchen, und beide leben wieder getrennt.
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Eichkätzchen (hier bloss wenige Tage alt) kommen als Nesthocker zur Welt, blind und nackt. (Bild: Robert Zwahlen)
Rosa, nackt und blind Nach 38 Tagen Tragzeit werfen jüngere Weibchen einmal im Jahr zwei bis drei, ältere oft zweimal jährlich drei bis fünf Junge, sodass Nachwuchs von Ende Februar bis Ende August eintreffen kann. Eichkätzchen kommen als ausgesprochene Nesthocker zur Welt, rosafarben, nackt, blind, kaum sechs Zentimeter lang und knapp zehn Gramm schwer. Nach ein paar Tagen beginnen sie sich zu färben; eine komplette Jugendbehaarung tragen sie nicht vor zwei Wochen, und die Augen öffnen sich erst nach rund einem Monat. Zirka sechs Wochen alt, verlassen die munzigen, jetzt über hundert Gramm schweren Eichkätzchen das Nest, trinken aber noch bei der Mutter (rund neun Wochen lang). Von ihr lernen sie auch, was essbar ist, indem sie sich Nahrungsbrocken aus ihrem Maul angeln. Auf ihren Ausflügen erkunden
Biologische Nussknacker-Suite
Auch Nussknacken will gelernt sein! Jungen, unerfahrenen Eichhörnchen gelingt dies erst nach mühsamen Versuchen. Erwachsene dagegen gehen gezielt vor: Dem Faserverlauf der Nussschale folgend nagen sie zuerst eine Rille. Wenn an deren tiefster Stelle ein Loch entsteht, führen sie dort die unteren Schneidezähne ein und sprengen – die Kerbwirkung ausnützend – die Schale mit einer Hebelbewegung, indem sie den Kopf ruckartig hochreissen.
Bildfolge v.l.n.r.: Haselnuss, profimässig geöffnet von erwachsenem Eichhörnchen, ungezielt bearbeitet von unerfahrenem Eichkätzchen, säuberlich aufgenagt von Waldmaus und kräftig aufgehackt vom Specht.
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sie den Baum, auf dem sie geboren sind, die benachbarten Bäume und schliesslich das ganze Revier. Dann überlässt die Mutter die Jungen dem Schicksal. Mit etwa sieben Monaten sind sie erwachsen, und mit acht bis zehn Monaten sind junge Weibchen bereits geschlechtsreif, werfen aber gewöhnlich erst im zweiten Lebensjahr.
Überleben ist Glückssache Die scheinbar grosse Nachwuchsrate der Eichhörnchen ist notwendig, weil nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Jungen ein Jahr alt wird und offenbar weniger als ein Prozent (!) aller Tiere fünf Lebensjahre erreicht, wobei die «Erzfeinde» Baummarder und Habicht regulierend, aber nicht dezimierend wirken. Gravierender sind menschengemachte Umweltveränderungen und – heutzutage – die Verkehrstoten! Als geschützte Tierart werden die Waldkobolde in der Schweiz nicht bejagt. Der optimale Lebensraum für Eichhörnchen ist ein Mischwald mit engem Kronenschluss und dichter Strauchschicht. Entmischte, unterholzarme, in Parzellen zerschnittene Waldungen bieten kaum mehr eine Lebensgrundlage. Wichtig ist das Vorhandensein verschieden alter Waldbäume; denn Samen (Zapfen) werden erst nach zehn oder mehr Jahren getragen und nur in unregelmässigen Abständen von mehreren Jahren. Arten- und Altersmonokulturen können zu eigentlichen Hungerfallen werden.
Notvorräte: geplanter Zufall
Es gibt kaum etwas im Wald, was Eichhörnchen nicht nutzen:
Magenuntersuchungen aus dem Mittelland zeigen, dass
ganzjährig an erster Stelle Samen (Zapfen) von Kiefern und
Fichten stehen, Ende Sommer ergänzt durch Buchnüsse, im
Winter und Frühling aufgebessert durch Knospen und Blüten
der Nadelhölzer. Auf dem Menüplan stehen aber auch Bee-
ren, Haselnüsse, Pilze, Blätter und Wurzeln, ja selbst Amei-
senpuppen, Käfer, Insekten aller Art, selten sogar Vogeleier
oder Jungvögel.
Im Herbst, wenn das Nahrungsangebot gross ist, legen die
Eichhörnchen fleissig Futtervorräte an, durch Vergraben in
Wurzelnähe oder Lagern in Baumhöhlen. Da sie sich all diese
Verstecke nicht merken können, suchen sie im Winter an
solch typischen Stellen nach dem Zufallsprinzip, werden mal
fündig, mal nicht, wodurch sie nebenbei zur Samenverbrei-
tung beitragen.
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Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
Einstiegsbild unter Titel: René-Pierre Bille
Zeichnungen in den Kästen: EM