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Schwerpunkt
«Früh das Fenster in die Zukunft aufmachen»
Elsbeth Müller-Kägi, Pflegeexpertin APN, gehört zum Behandlungsteam für Hämophiliepatienten am Universitäts-Kinderspital Zürich. Wir sprachen mit ihr über Transitionsaspekte, die nicht nur bei Jugendlichen mit Hämophilie wichtig sind.
Elsbeth Müller-Kägi Pflegeexpertin APN Universitäts-Kinderspital Zürich, Eleonorenstiftung
Frau Müller-Kägi, Sie empfehlen, dass bei der Transition gezielt auf einen «Kulturunterschied» vorbereitet werden muss. Was ist damit gemeint? Elsbeth Müller-Kägi: Wir sind in der Pädiatrie sehr umsorgend. Die Eltern und das Kind müssen im Verlauf lernen, dass sich das ändert. Als Pflegeexpertin ist es mein Ziel, das Kind in die Lage zu versetzen, dass es sich selbst um sich kümmert. Der Jugendliche muss für sich selbst sprechen können und seine Bedürfnisse in der Erwachsenenmedizin aktiv äussern. Das ist in der Pädiatrie anders. Generell reden wir viel mit den Eltern, und das Kind sitzt dabei und sagt eher wenig. Das ändert sich mit dem Übergang in die Erwachsenenmedizin vollständig. Auch auf dem Notfall ist es in der Pädiatrie anders als in der Erwachsenenmedizin. Ich möchte behaupten, dass man dort auch manchmal ein unbequemer, sehr fordernder Patient sein muss, um zu bekommen, was man braucht. Auch das ist ein grosser Unterschied.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Vorbereitung auf die Transition? Müller-Kägi: Ich fange gezielt damit an, wenn das Kind um die 12 Jahre alt ist. Entscheidend ist aber nicht nur das biologische Alter, sondern die Reife des Kindes. Wenn es so weit ist, sage ich ihm, dass ich beim nächsten Termin gern einmal mit ihm allein sprechen möchte.
Der Jugendliche muss für sich selbst sprechen können und seine Bedürfnisse in der Erwachsenenmedizin aktiv äussern.
Das ist ein wichtiger Schritt. Meistens sind der Jugendliche und seine Eltern in der Hämophiliesprechstunde dann noch gemeinsam beim Arzt. In meinem Teil der Sprechstunde beginne ich aber bereits, mit ihm allein zu sprechen. Formal gilt ein Jugendlicher in der Medizin als erwachsen, wenn er 16 Jahre als ist. Chronisch Kranke dürfen wir in der Pädiatrie aber länger betreuen. Mit 16 kann
man den Transfer bei einem Hämophiliepatienten noch nicht machen, weil man keine Chance hat, das notwendige Wissen bis dahin ausreichend zu vermitteln. Das klappt allenfalls nur bei ganz wenigen Familien, in denen die Eltern dieses Wissen dem Kind korrekt erklären können. Ich finde es optimal, wenn der definitive Transfer erst zum Zeitpunkt der Volljährigkeit stattfindet, weil der Jugendliche dann einfach reifer ist, also um den 18. Geburtstag herum. Ich finde es aber wichtig, dass man früh das Fenster in die Zukunft aufmacht. Das bedeutet, bereits im Vorschulalter mit den Eltern zu besprechen, dass wir in der Pädiatrie nicht ewig für sie da sein werden. Es bedeutet auch, neue Schritte anzukündigen, zum Beispiel: «Ich möchte mit ihrem Kind das nächste Mal allein reden, ist das in Ordnung für Sie?»
Gibt es spezielle Transitionsaspekte bei Hämophiliepatienten? Müller-Kägi: Es verhält sich recht ähnlich wie bei einem Diabetiker, nur muss dieser täglich auf seine Therapie achten, während das ein Hämophiler nicht muss. Bei einer Hämophilie ist das Besondere, dass die Krankheit im Alltag mitunter vergessen wird. Der Jugendliche muss aber wissen: Wenn ich eine Blutung habe, muss ich richtig reagieren! Ich finde es anspruchsvoll, diese Aufmerksamkeit zu stärken, gerade wenn bei einer milden Hämophilie im normalen Alltag sozusagen nie etwas passiert, die Gefahr aber trotzdem immer besteht. Das ist das Minimum, das diese Jugendlichen verstanden haben sollten. Das Problem ist, dass sich die 12- bis 16-Jährigen oft nicht so sehr dafür interessieren und das alles für unnötig halten, weil sie ja «nichts» haben. Das wird erst besser, wenn sie etwa 18 Jahre alt sind.
Sie haben eine Checkliste zur Transition erarbeitet. Wie sieht die aus? Müller-Kägi: Als ich 2010 mit meiner Arbeit im Hämophilieteam begann, gab es noch keinen definierten Transitionsprozess. Die Jugendlichen, die damals im entsprechenden Alter waren, wussten zum Teil nicht
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einmal, was sie eigentlich haben. So erklärte mir beispielsweise ein 18-Jähriger, dass Hämophilie irgendetwas mit den weissen Blutkörperchen zu tun habe. Ich habe damals eine Checkliste zur Vorbereitung des Transfers erstellt. Sie beginnt mit der Frage, ob der Jugendliche seine Krankheit versteht und weiss, was im Notfall zu tun ist. Danach folgen weitere Fragen, wie zum Beispiel nach seiner Fähigkeit, selbst Termine und Medikamentenverordnungen zu organisieren. Mithilfe einer weiteren Checkliste werden organisatorische Punkte abgehakt. Wir möchten künftig auf das sogenannte Ready-Steady-Go-Konzept umsteigen (siehe Kasten) und unsere Checklisten dabei integrieren. Ready-Steady-Go bezieht sich auf das Ampelsystem Rot-Gelb-Grün. Zusätzlich gibt es ein blaues Hello-Formular, das die Erwachsenenmediziner bei der ersten Konsultation gut als Einstieg verwenden können, weil die Jugendlichen diese Form bereits kennen. Abgefragt werden immer die gleichen Themenbereiche, aber die Fragen werden mit dem Alter umfassender. So steht zum Beispiel im roten Ready-Formular: «Ich kann meinen Gesundheitszustand beschreiben.» Im Steady-Formular steht: «Ich verstehe die medizinischen Begriffe und Abläufe, welche für meine Erkrankung relevant sind.» Im Go-Formular steht dann: «Ich bin sicher im Wissen um meine Krankheit und im Umgang damit.» Der Jugendliche kann dabei immer «Ja» oder «Ich möchte Rat/Hilfe zu diesem Punkt» ankreuzen, und es gibt noch ein Feld für Kommentare. Ich schaue mir die ausgefüllten Fragebögen an und spreche mit dem Jugendlichen darüber. Die Jugendlichen sind sehr ehrlich, ausser bei der Selbstüberschätzung, wenn es um ihre Hämophilie geht. Ich bin immer wieder überrascht, wie ehrlich sie sind, und ich lerne sehr viel von ihnen.
Wie läuft der Übergang ins USZ konkret ab? Müller-Kägi: Wenn es möglich ist, gehen wir im Vorfeld des Transfers einmal gemeinsam mit dem Jugendlichen ans USZ. Es ist mir wichtig, dass er den Erwachsenenhämatologen auch einmal sieht. Damit sich die Eltern nicht ausgeschlossen fühlen, gehe ich mit ihnen, wenn das Kind um die 13 Jahre alt ist, einmal ins Unispital und zeige ihnen, wo ihr Kind später betreut werden wird. Es ist organisatorisch zwar nicht immer möglich, dass jemand vom Behandlungsteam dort ist, aber es gibt eine Fototafel, und sie sehen einmal den Weg auf die Station. Wenn der Jugendliche zum letzten Mal bei uns ist, gehe ich mit ihm noch einmal ans USZ; dabei ist er in der Regel alleine ohne Eltern. Er bekommt einen Flyer zum Übertritt in die Hämophilie-Sprechstunde des USZ mit allen notwendigen Angaben.
Kasten:
Ready, Steady, Go
Das Ready-Steady-Go-Konzept ist ein Projekt des National Health Service (NHS), des staatlichen Gesundheitssystems in Grossbritannien und Nordirland. Es wurde am Children’s Hospital Southhampton von Dr. med. Arvind Nagra und seinem Team entwickelt. Fragebögen, Broschüren und weitere Informationen sind in englischer Sprache verfügbar unter: https://www.rosenfluh.ch/qr/ready-steady-go
Die jugendlichen Hämophiliepatienten scheinen
mir sehr gut umsorgt beim Übergang...
Müller-Kägi: Schon, aber die Zeit zwischen unserem
Adieu und dem ersten Termin in der Hämatolo-
gie-Sprechstunde am USZ ist trotzdem sehr heikel. Das
ist eine Zeit, in der die Patienten sozusagen zwischen
den Stühlen stehen. Darum dürfen sie sich bei Proble-
men bei uns melden, bis sie zum ersten Mal dort auf-
geboten sind. Manchmal dauert es leider recht lange,
bis sie dort ihren ersten Termin bekommen.
Notfalls können wir
schon einmal ein Reisedokument oder Material abgeben, aber die Jugendlichen müssen
Man muss den Jugendlichen den Wechsel als Chance verkaufen.
lernen, sich vertrauens-
voll auf das neue Team einzulassen. Es ist nicht gut,
wenn ich die Tür immer offen halte. Es sei denn, es ist
ein Notfall.
Viele Kinderärzte sagen, dass ihre Jugendlichen oft gar nicht von ihnen wegwollten. Was würden sie den Pädiatern raten? Müller-Kägi: Man muss den Jugendlichen den Wechsel als Chance verkaufen. Es ist ein Schritt, um mehr über das eigene Leben zu bestimmen, aber eben auch um mehr Verantwortung zu tragen. Das geht Hand in Hand. Natürlich sollte man ein wenig schauen, wie es um die Bereitschaft des Jugendlichen zum Wechsel steht: Hat der Jugendliche ein wirklich gutes Gefühl dabei? Dieses Gefühl kann man auf einer Skala von 1 bis 10 einschätzen lassen, und es sollte schon bei 7 bis 10 liegen.
Frau Müller-Kägi, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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