Transkript
«Es ist ein Dschungel»
Juristische und finanzielle Fragen der Transition
Schwerpunkt
Wenn ein Kind mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung ins Jugendund Erwachsenenalter kommt, ändern sich auch viele juristische und finanzielle Aspekte. Wir sprachen mit Martin Boltshauser, Advokat und Leiter Rechtsdienst Procap, über wichtige Punkte, auf die man dabei achten sollte.
Ab dem 20. Lebensjahr ist die Krankenkasse für die Kostenübernahme medizinischer Massnahmen, wie zum Beispiel Physiooder Ergotherapie, zuständig, nicht mehr die IV. Ist das aus Ihrer Sicht ein Problem? Martin Boltshauser: Die Krankenkassen überprüfen generell stärker, ob etwas notwendig ist oder nicht. Wir erachten das zwar als ein Problem, aber nicht als ein extrem grosses. Letztlich zahlen die Krankenkassen die notwendigen Massnahmen. Für die Familie entsteht wegen des Selbstbehalts allerdings ein höherer finanzieller Aufwand. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern, sobald die Krankenkasse für die Kosten zuständig ist. Ich verstehe gut, dass das Vorgehen der Krankenkassen aus der Sicht der Ärzte ärgerlich sein kann. Sie fühlen sich stärker überprüft und müssen zum Beispiel für die Physiotherapie alle sechs Monate eine neue Verordnung ausstellen, während das bei der IV nur einmal im Jahr notwendig ist. In diesem Sinne ist es mit der IV noch etwas einfacher. Es ist aber damit zu rechnen, dass sich die IV in der Zukunft in diesem Sinn an die Krankenversicherungen anpassen und ähnlich restriktiv sein wird.
Worauf muss man bei Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die IV achten? Boltshauser: Die IV zahlt hier nur für Massnahmen bei Geburtsgebrechen. Die Erkrankung muss auf der Liste der Geburtsgebrechen stehen. Es mag Krankheiten geben, die dort eigentlich auch stehen müssten, aber mit dieser vielleicht an sich logischen Argumentation kommt man juristisch nicht weiter. Wenn die Erkrankung nicht auf der Liste steht, ist die IV nicht zuständig, sondern die Krankenkasse. Es ist sehr wichtig, die jeweiligen Fristen einzuhalten und Krankheiten rechtzeitig zu melden. So erlebe ich es immer wieder, dass beispielsweise ein Asperger-Syndrom bei einem Kind mit 11 Jahren diagnostiziert wird. Für die Anerkennung als Geburtsgebrechen hätte die Diagnose aber bereits spätestens im Alter von 5 Jahren erfolgen müssen. Ärzte sagen dann, das sei doch nicht richtig. Als Jurist muss ihnen aber sagen: «Die Fristen sind halt a bgelaufen.» Ein weiterer Punkt ist der Widerspruch bei Ablehnung von Kostenübernahmen durch die IV. Wenn man von der IV eine Ablehnung bekommt und diese nicht fristgerecht anficht, hat man sie automatisch akzeptiert.
Was ändert sich mit dem Erwachsenenalter bezüglich Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag, Assistenzbeitrag und Ergänzungsleistung? Boltshauser: Es ändert sich sehr viel, besonders zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr. Wir bieten dazu eine Beratung an, und haben die wichtigsten Punkte auf einer Checkliste zusammengefasst (siehe Seite 10). Die Hilflosenentschädigung wird ab dem 18. Geburtstag monatlich und nicht mehr tageweise ausbezahlt. Das ist eine Erleichterung. Aber die Revision zum 18. Geburtstag hat viele heikle Aspekte, und man muss genau hinschauen. Der Intensivpflegezuschlag, den es bis zu diesem Zeitpunkt gibt, endet von Gesetzes wegen mit 18 Jahren. Dafür beginnt mit 18 Jahren, falls eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt nicht möglich ist, häufig eine IV-Rente plus Ergänzungsleistung. Wenn man einen jungen Erwachsenen zuhause pflegt, kann man das über die Ergänzungsleistung zumindest theoretisch mitfinanzieren. Der Assistenzbeitrag läuft weiter, wenn man ihn bereits vor dem 18. Geburtstag hatte. Wenn man ihn noch nicht hatte, kann man ihn auch erst ab 18 Jahren anmelden, aber dann gelten andere Voraussetzungen. Erwachsene erhalten den Assistenzbeitrag nämlich nur, wenn sie eine gewisse Selbständigkeit aufweisen. Kinder hingegen bekommen den Assistenzbeitrag auch wenn sie schwer behindert sind, und zwar dann, wenn sie einen Intensivpflegezuschlag von mindestens 6 Stunden erhalten. Das ist eine Sondernorm, die schwerbehinderte Kinder betrifft. Sofern sie nicht in einem Heim leben, erhalten diese Kinder den Assistenzbeitrag auch nach dem 18. Geburtstag weiterhin, obwohl, wie gesagt, dieser bei einem Neuantrag nach dem 18. Geburtstag nur für behinderte Erwachsene mit einer gewissen Selbstständigkeit gezahlt wird. Darum ist es sehr wichtig, dass man vor dem 18. Geburts-
Martin Boltshauser Leiter Rechtsdienst Procap
Es geht um eine gerechte Abwicklung der IV-Leistungen.
tag mit den Eltern und dem betroffenen Jugendlichen abklärt, ob ein Assistenzbeitrag noch möglich ist. Wenn man ihn für ein schwerbehindertes Kind vor dem 18. Geburtstag nicht anmeldet, dann bekommt man ihn danach nicht mehr. Das ist eine enorm wichtige Altersschwelle.
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Kommt es häufig vor, dass Eltern, Betroffene und Kinderärzte nicht an solche Fristen denken? Boltshauser: Ja, vor allem dann, wenn sie das Zusammenspiel der verschiedenen Leistungen nicht kennen: Hilflosenentschädigung, Intensivpflegezuschlag, Assistenzbeitrag – das kennt man vielleicht vom Begriff her, aber die wenigsten Eltern wissen, wie diese Leistungen zusammenspielen, und das wissen auch die wenigsten Kinderärzte.
Ein Beispiel bitte! Boltshauser: Nehmen wir einmal an, eine Familie mit einem schwerbehinderten Kind erhält eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag von 4 Stunden. Das Kind ist 15 Jahre alt, und es geht ihm schlecht. Dann muss man prüfen, ob der Intensivpflegezuschlag auf 6 Stunden oder mehr erhöht werden kann, um den Assistenzbeitrag rechtzeitig anzumelden, der dann auch im Erwachsenenalter weiterhin gezahlt wird. Wenn das Kind erst einmal 18 Jahre alt ist, ist diese Türe zu. Es geht
Wenn man Anträge nicht rechtzeitig stellt oder das Kreuz bei der Anmeldung falsch setzt, ist das so, wie wenn man einen Penalty im Fussball vergibt.
nicht darum, dass die IV unnötig Geld ausgibt, sondern dass die Beteiligten rechtzeitig entscheiden können, ob sie die bestehenden Möglichkeiten nutzen wollen.
Werden Zuwendungen wie die Hilflosenentschädigung auf die IV-Rente angerechnet? Boltshauser: Nein, die Hilflosenentschädigung läuft weiter. Zur IV-Rente gibt es Ergänzungsleistungen. Die IVRente wird nur gekürzt, wenn man mehr als 30 Prozent arbeitet, beziehungsweise gesünder wird und mehr verdient. Grundsätzlich ist die IV-Rente aber etwas Neues, und sie kappt keine anderen Leistungen.
Wie verhält es sich mit der Hilflosenentschädigung, die es für Erwachsene zur lebenspraktischen Begleitung geben kann? Boltshauser: Wenn ein Jugendlicher bereits zuvor eine Hilflosenentschädigung erhielt, muss man bei einem Antrag auf Hilflosenentschädigung wegen lebenspraktischer Begleitung für das Erwachsenenalter aufpassen, denn dabei handelt es sich um die unterste Stufe der Hilflosenentschädigung, zurzeit also 474.– Franken im Monat. Für Jugendliche, die beispielsweise bereits eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades haben, spielt das in aller Regel keine Rolle. Es passiert leider immer wieder, dass eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades von der IV zurückgestuft wird auf einen leichten Grad, weil die Eltern Fehler beim Ausfüllen der Revision zum 18. Geburtstag machen. Der Begriff «lebenspraktische Begleitung» tönt ja erst einmal gut. Darauf fallen viele Antragsteller herein, weil sie gar nicht wissen, was «lebenspraktische Begleitung» ist, der Begriff aber gut klingt. Wenn die Eltern beim Ausfüllen darum nur das Kreuz bei der lebenspraktischen Begleitung machen und all die anderen notwendigen Hilfeleistungen nicht mehr korrekt angeben, wie zum Beispiel
indirekte Hilfe beim Aufstehen oder indirekte Hilfe beim Essen, stuft die IV die Hilflosenentschädigung zurück – und das ist extrem schlecht. Ich möchte aber auch betonen, dass die Hilflosenentschädigung wegen lebenspraktischer Begleitung aber auch eine gute Leistung ist. Sie ist aber hauptsächlich für Menschen mit psychischer Behinderung gedacht, die keine körperlichen Behinderungen haben. Die klassische Hilflosenentschädigung hingegen ist auf körperliche Behinderungen ausgerichtet.
Wer also bereits vor dem 18. Geburtstag einen mittleren Grad der Hilflosenentschädigung hat, macht bei der lebenspraktischen Begleitung besser kein Kreuz, weil er sich damit letztlich schlechter stellen würde? Boltshauser: Man muss in der Revision schauen, ob wirklich nur lebenspraktische Begleitung notwendig ist oder ob die bisher bestandene Hilflosigkeit weiterhin besteht. Wenn diese weiterhin besteht, darf man keinesfalls nur die lebenspraktische Begleitung ankreuzen und die anderen Punkte gar nicht mehr richtig ausfüllen. Im Worst Case fällt man dann von einer mittleren auf eine leichte Hilflosenentschädigung, und die Eltern wissen gar nicht warum. Betroffene kommen dann zu uns, damit wir ihnen helfen, das wieder rückgängig zu machen. Dann müssen wir ihnen aber sagen, dass sie das genauso angekreuzt haben und man nicht ohne Not behaupten kann, es sei aus Versehen falsch gewesen. Das würde quasi bedeuten, man sei beim Ausfüllen der Formulare urteilsunfähig gewesen. Man ist letztlich selbst dafür verantwortlich, welche Felder man ankreuzt.
Das Ausfüllen von Formularen ist demnach eine Wissenschaft für sich, oder? Boltshauser: Wenn man Anträge nicht rechtzeitig stellt oder das Kreuz bei der Anmeldung falsch setzt, ist das so, wie wenn man einen Penalty im Fussball vergibt. Ich finde es schlimm, wenn finanzielle Probleme entstehen und man nachträglich bemerkt, dass das nicht nötig gewesen wäre. Eigentlich hätte das die Krankenkasse, die IV oder wer auch immer gezahlt. Man hätte einen Assistenzbeitrag anmelden können, wenn man rechtzeitig daran gedacht hätte, oder man hätte schon lange eine Hilflosenentschädigung anmelden beziehungsweise eine Revision beantragen können. Das Ganze ist ein Dschungel mit unzähligen Lianen, die quer über den Weg hängen.
Was könnte man konkret tun? Boltshauser: Wenn das Kind sehr schwer behindert ist, kommen die meisten Eltern, die sich alleine durch diesen Dschungel kämpfen, mit etwas Glück auch alleine durch, auch wenn es mit Beratung natürlich leichter ist. Ganz schwierig ist es aber bei den Kindern, die auf der Kippe stehen: Bekommen sie eine Hilflosenentschädigung? Reicht es für den Intensivpflegezuschlag auf 6 Stunden? Haben sie einen Anspruch auf einen Assistenzbeitrag? In all den vielen Fällen, bei denen die Antworten auf solche Fragen nicht von vorneherein klar sind, ist die Beratung besonders wichtig. Darum empfehle ich den Kinderärzten, die Familien zu einer Beratungsstelle zu schicken, zum Beispiel zu Procap. Wir bieten so genannte Dauermandate an, das heisst wir
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vertreten Kind und Familie vom Beratungsbeginn bis ins Alter von 22 Jahren, bis der Übergang abgeschlossen ist. Wir vertreten sie, achten auf die Einhaltung wichtiger Fristen und geben Antworten auf die vielen Fragen, die sich im Lauf der Zeit stellen. Auch die Ärzte unserer Klienten mit Dauermandaten können davon profitieren. So bemerkt man häufig, dass Ärzte ihre Formulare und Arztbriefe am späten Abend erledigen. Nach einem langen Arbeitstag in der Praxis müssen sie sich also noch einmal hinsetzen und Berichte schreiben. Das dass keine Freude macht, verstehe ich absolut, und dass dabei Fehler passieren, ist kein Wunder. Bei Familien mit einem Dauermandat kann uns der Arzt seine Berichte erst einmal schicken, damit wir sie gemeinsam anschauen können – natürlich immer unter der Bedingung, dass es korrekt ist. Das ist mir wichtig: Es geht nicht ums Optimum, sondern es geht um eine gerechte Abwicklung der IV-Leistungen.
Was kostet die Beratung beziehungsweise das Dauermandat? Boltshauser: Wer zu Procap in die Beratung kommt, muss Mitglied werden. Falls er bereits über ein Jahr Mitglied ist, kostet die Beratung nichts. Die einmalige Beitrittsgebühr beträgt 400.– Franken in der Stadt und 300.– Franken in den ländlichen Regionen. Hinzu kommt ein jährlicher Mitgliederbeitrag, der zwischen 60.– und 100.– Franken liegt, je nach Sektion. Das Dauermandat verursacht keine zusätzlichen Kosten. Dann übernehmen wir die Vertretung, die Post kommt zu uns. Wir begleiten die Familie lange, mitunter über gut zwei Jahrzehnte. Darum kennen wir den jeweiligen Fall sehr gut und versuchen auch, uns mit dem behandelnden Kinderarzt zu vernetzen.
Herr Boltshauser, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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