Transkript
Foto: vh
BERICHT
Fahreignungsbeurteilung bei Senioren
Zweifel an der Fahreignung – was tun?
Eine Fahreignungsbeurteilung kann für die «Prüflinge» gravierende Konsequenzen haben, je nachdem, was der Arzt auf dem Formular ankreuzt. Klare Befunde sollten klar kommuniziert und unklare Befunde erst durch weitere nicht amtliche Untersuchungen weiter abgeklärt werden. Tipps dazu gab Dr. Matthias Pfäffli, Institut für Rechtsmedizin, Bern, Vorsitzender der Sektion Verkehrsmedizin der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin, am Schweizerischen Jahreskongress der Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) in Basel.
Senioren müssen seit Anfang 2019 neu erst ab
dem 75. Lebensjahr eine Stufe-1-Untersuchung
durchführen lassen. Besteht ein Verdacht auf
Demenz, sollte die Fahreignung abgelehnt und
der Prüfling zur weiteren Abklärung in eine Me-
mory Clinic, zur neuropsychologischen Abklä-
rung oder zur verkehrsmedizinischen Beurtei-
lung weitergewiesen werden. Das ist
beispielsweise der Fall, wenn beim Mini-Men-
Dr. Matthias Pfäffli
tal-Test weniger als 21 Punkte erreicht werden oder wenn beim Trail-Making-Test B 5 Minu-
ten nicht ausreichen. Braucht der Kandidat dagegen mehr als
3 Minuten, kann dies ein Hinweis auf kognitive Defizite sein.
Verhaltensauffälligkeiten, wie beispielsweise Uneinsichtigkeit
hinsichtlich der eigenen Defizite oder soziale Hinweise wie
Unterstützung bei den basalen Aktivitäten des täglichen Le-
bens, sollten diesen Verdacht ebenfalls wecken (Kasten).
Wenn gesunde Hochbetagte den Trail-Making-Test B nicht
mehr in der geforderten Zeit absolvieren können, ist auch bei
ihnen die Fahreignung nicht mehr gegeben, da nach Einschät-
zung von Pfäffli offensichtlich eine physiologische Grenze
erreicht ist. Man sollte dem Kandidaten den negativen Ent-
scheid mitteilen und ihm die Möglichkeit aufzeigen, dass er
dagegen Einspruch erheben könne, sobald das Amt für Ver-
kehrssicherheit sich bei ihm gemeldet habe, so der Rechts-
mediziner.
Verkehrsrelevante kognitive Defizite und Red Flags bei Senioren
� Mini Mental Status-Test: < 21 Punkte � Uhrentest: < 6 Punkte � Trail-Making-Test A: > 80 Sekunden � Trail-Making-Test B: > 180 Sekunden Red Flags: � Mini-Mental-Status-Test: < 21 Punkte: Fahreignung nicht gegeben � Trail-Making -est B: > 180 Sekunden: Verdacht auf kognitive Defizite;
> 300 Sekunden: Fahreignung nicht gegeben � Verhaltensauffälligkeiten: verminderte Selbstkontrolle, Enthem-
mung, Uneinsichtigkeit, Störung der Planungsfähigkeit � soziale Hinweise: Unterstützung in den basalen Aktivitäten des
täglichen Lebens.
Quelle: Dr. Matthias Pfäffli, IRM Bern, SGAIM Basel 2019
Entscheidet man sich für eine Fahrerlaubnis mit Beschränkung, beispielsweise nur tagsüber oder für eine bestimmte Strecke oder einen Umkreis (Rayon), hat dies eine ärztlich begleitete Kontrollfahrt zur Folge, bei deren Nichtbestehen keine Wiederholungsmöglichkeit besteht und der Führerausweis sofort eingezogen wird. Die begleitete Kontrollfahrt erfolgt mit einem Verkehrsmediziner (Stufe 4), denn auch das Fahren auf beschränkten Strecken oder zu bestimmten Tageszeiten erfordert Leistungsreserven für gewisse Verkehrssituationen wie beispielsweise einen Hund oder ein Kind, der oder das auf die Strasse rennt. Die Kontrollfahrt sei für den Prüfling kostenpflichtig und schlage mit mindestens 1300 Franken zu Buche, so Pfäffli. Ist eine Fahrberatung bei einem Fahrlehrer eine Option? «Eher nein», erklärte der Verkehrsmediziner. Die Beurteilung des Fahrlehrers betreffe die Fahrkompetenz in Bezug auf die Verkehrsregeln. Die im Raum stehende medizinische Frage einer Fahreignung könne durch Fahrlehrer oder Fahrberater jedoch nicht beantwortet werden. Eine positive Beurteilung durch den Fahrlehrer kann eine negative Beurteilung eines Verkehrsmediziners nicht ausschliessen, aber zu herben Enttäuschungen führen. Möchte oder kann man die Fahreignung nicht selber abschliessend beurteilen, ist es am besten, die Fahreignung durch eine Memory Clinic abklären zu lassen (günstige Variante) oder auf dem Formular «unklares Ergebnis, weitere Abklärungen angezeigt» anzukreuzen. Je nach Kanton folgt dann eine Stufe-3- oder Stufe-4-Abklärung mit Kostenfolge.
Sind Schlafmittel und Alkohol ein Problem?
Der Schlafmittelgebrauch ist bei Senioren verbreitet. Je nach Art des Schlafmittels ist die Fahreignung jedoch beeinträchtigt. Auch das «Gläschen Schnaps am Abend» kann proble-
Neu seit 2019
� Stufe-1-Untersuchungen ab dem 75. Lebensjahr � «Graubereich» für Sehschärfe abgeschafft � bestkorrigierter Visus abgeschafft � Richtlinien zur Fahreignung bei kardiovaskulären
Erkrankungen der SGK und SGRM
Quelle: Dr. Matthias Pfäffli, IRM Bern, SGAIM Basel 2019
764
ARS MEDICI 22 | 2019
BERICHT
Risikostufen für die Fahreignung bei Diabetes mellitus
Medikamente
fehlende Hypoglykämie-
wahrnehmung
schwere Hypoglykämie
in den letzten 2 Jahren
kein
• kein Insulin
nein
Risiko
• keine Sulfonylharnstoffe
• keine Glinide
tiefes
• analoges Basalinsulin allein 1 x/Tag nein
Risiko
• Gliclazid
• Glinide
• keine Kombination dieser
Behandlungsmöglichkeiten
erhöhtes • Insulin (kein analoges Basalinsulin
nein
Risiko
oder analoges Basalinsulin 1 x/Tag
in Kombination mit anderen
hypoglykämen Substanzen)
• Sulfonylharnstoffe (ausser Gliclazid)
hohes • Behandlung mit tiefem Risiko
ja
Risiko
oder erhöhtem Risiko
Quelle: Dr. Matthias Pfäffli, IRM Bern, SGAIM Basel 2019
Auflagen
keine
• regelmässige Kontrolle und Behandlung • Merkblatt für Diabetiker • keine Blutzuckermessungen vor Fahrantritt
• regelmässige Kontrolle und Behandlung • Merkblatt für Diabetiker
• regelmässige Kontrolle und Behandlung • Merkblatt für Diabetiker • Insulinpumpe oder 6–8 Blutzuckermessungen täglich
Quelle: «Fahreignungsabklärung», Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 5. bis 7. Juni 2019 in Basel.
matisch werden. Bei leicht erhöhten Leberwerten sollte man an einen allfälligen Alkoholabusus denken, so Pfäffli. Verkehrsmedizinisch sollten keine Abhängigkeit und kein verkehrsrelevanter Missbrauch vorliegen (Mindestanforderungen Anhang 1 VZV). Ein verkehrsmedizinisch relevanter Missbrauch besteht bei Einfluss der fraglichen Substanz während der Fahrt. Trinkt jemand viel, fährt aber nie alkoholisiert, ist es verkehrsmedizinisch nicht relevant. Die weitere Abklärung eines Alkoholproblems liegt daher im Ermessen des behandelnden Arztes. Die Abhängigkeit (ICD-10) von Hypnotika, die auch bei einer Low-dose-Abhängigkeit von Benzodiazepinen oder Z-Hypnotika gegeben ist und sehr häufig vorkommt, hat per Gesetz dagegen zwingend eine negative Fahreignungsbeurteilung zur Folge. Die Patienten bei der Verschreibung von Hypnotika über die Fahreignungsbeeinträchtigung aufzuklären, ist daher Pflicht. Eine Meldepflicht besteht dagegen nur im Rahmen der Stufe-1-Untersuchung, bei der die ärztlichen Beobachtungen gemeldet werden müssen, sonst nicht.
Merkblätter und Richtlinien betreffend Fahreignung
https://www.rosenfluh.ch/qr/verkehrsmedizin
Richtlinien der SGED bei Diabetes mellitus
https://www.rosenfluh.ch/qr/diabetes-richtlinien
Beurteilung nicht immer einfach
Bei klaren Defiziten, wie beispielsweise bei stark einge-
schränktem Sehvermögen oder klaren kognitiven Einschrän-
kungen (z.B. TMT B > 7 min), sollte die negative Beurteilung
durch den Hausarzt klar kommuniziert werden. Dieser Ent-
scheid kann bei der nächsten Instanz durch den Patienten
angefochten werden, wenn er nicht einverstanden ist.
Eine Weiterweisung zur «Beurteilung durch einen Arzt nach
Artikel 5abis VZV» generiert jedoch nur Kosten und falsche
Hoffnungen für den Patienten und selten einen Wissenszu-
wachs.
Ist die Sachlage nicht so klar, kann konsiliarisch beim Augen-
arzt, beim Neurologen, beim Schlafmediziner oder bei einer
Memory-Clinic Unterstützung angefordert werden. Ebenso
besteht in vielen Kantonen die Möglichkeit, bei der Stu-
fe-4-Untersuchungsstelle nachzufragen.
Bei Patienten mit Diabetes mellitus müssen für eine Fahreig-
nung bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Die Blutzu-
ckereinstellung muss stabil sein, ohne gehäufte Hypoglyk-
ämien Grad II/III oder Hypoglykämiewahrnehmungsstörung
in den letzten zwei Jahren. Die Auflagen wie beispielsweise
Blutzuckermessen und das Setzen von Injektionen muss der
Patient selbständig einhalten können. Es dürfen keine ver-
kehrsrelevanten diabetischen Spätfolgen wie auch keine we-
sentliche Hyperglykämie vorhanden sein (Link). Je nach
Therapie sind spezielle Auflagen zu erfüllen (Tabelle). Bei
Patienten mit diabetischen Retinopathien und erfolgter
Laserkoagulation sei es wichtig, das Gesichtsfeld beim Oph-
thalmologen überprüfen zu lassen, so der abschliessende Tipp
des Rechtsmediziners. Denn häufig lasse die Einschränkung
eine Fahreignung nicht mehr zu.
s
Valérie Herzog
ARS MEDICI 22 | 2019
765