Transkript
Nervenultraschall in der Diagnostik von Nervenverletzungen
FORTBILDUNG
Nervenverletzungen sind im Gesamtbild der Unfallverletzungen eher selten. Aufgrund der resultierenden Arbeitseinschränkungen vor allem bei persistierenden Verletzungen sind sie jedoch mit hohen Folgekosten verbunden. Spontanheilungen sind nur bei leichtgradigen Verletzungen zu erwarten. Höhergradige Verletzungen (Sunderland Grad IV und V) sind per se nicht mit einer Spontanregeneration vereinbar, sondern müssen operativ rekonstruiert werden. Auch hier gilt: «Time is nerve.» Ein komplett durchtrennter Nerv muss innerhalb 48 Stunden readaptiert werden, um relevante Folgeschäden zu vermeiden. Insofern ist eine Frühdiagnostik essenziell. Der Nervenultraschall hat in den letzten Jahren einen wichtigen Platz im Management von Nervenverletzungen erobert. Diese kurze Zusammenstellung soll einen Überblick über den Einsatz des Nervenultraschalls bei der Diagnostik, der Prognoseeinschätzung und dem «Follow-up» von Nervenverletzungen liefern.
Anne-Kathrin Peyer Kauffmann
Einar Wilder-Smith
von Anne-Kathrin Peyer Kauffmann und Einar Wilder-Smith*
Pathophysiologische Grundlagen
B efasst man sich mit der Versorgung von Verletzungen peripherer Nerven, so kommt man um die histoanatomische Einteilung der Schweregrade, die Seddon 1943 begründete (1) und Sunderland 1951 erweiterte (2), nicht herum. Je nach Ausmass der Verletzung liegt «nur» ein (komplett reversibler) Leitungsblock vor (Neurapraxie, Sunderland Grad I), oder die Axonen und deren Hüllstrukturen sind in unterschiedlichem Ausmass geschädigt (Axonotmesis und Neurotmesis, Sunderland Grad II–V). Klinisch sind die Verletzungen, falls eine vollständige Parese vorliegt, nicht zu unterscheiden. Elektrophysiologisch kann zumindest frühestens nach zwei Wochen eine Neurapraxie von einer Axonotmesis abgegrenzt werden. Ob es sich allerdings um eine niedriggradige Axonotmesis mit gutem Erholungspotenzial oder aber um eine höhergradige Verletzung handelt, kann uns die Elektrophysiologie nicht beantworten. Höhergradige Verletzungen (Sunderland Grad IV und V) sind nicht oder nur mit einer eingeschränkten Regeneration vereinbar, da der Nerv entweder in seiner Gesamtheit (Neuronotmesis, Sunderland Grad V) oder einzelne Faszikel eines Nervs durchtrennt sind. Ein komplett durchtrennter Nerv sollte entweder primär oder aber innerhalb 48 Stunden adaptiert werden (3). Der kritische Zeitpunkt, bis zu dem eine Rekonstruktion eines teilgeschädigten Nervs durchgeführt werden muss, liegt bei drei Monaten (4). Einerseits muss also sehr früh nach einer Verletzung (< 24–48 h)
* Neurologische Klinik, Inselspital Bern
eine schwerstgradige Verletzung (Neurotmesis, komplette Durchtrennung) zweifelsfrei erkannt werden. Ebenso muss innerhalb von drei Monaten die Entscheidung für oder gegen eine operative Exploration mit Rekonstruktionsbereitschaft getroffen werden, sollte eine zufriedenstellende Regeneration ausbleiben. In beiden Entscheidungsschritten ist der Ultraschall zu einem unverzichtbaren Instrument geworden.
Revolution der Technik War es vor knapp 20 Jahren noch schwierig, mit der zur Verfügung stehenden Technik einen Nerv in seiner Weichteilumgebung sonografisch darzustellen (5), hat die Entwicklung von hochfrequenten Sonden den Durchbruch in der Nervendarstellung gebracht. Die aktuell gebräuchlichen Sonden im Frequenzbereich von 18, 22 bis 24 MHz ermöglichen die Darstellung bis auf Faszikelebene. Auch kann die Frage nach der Integrität des Epineuriums beantwortet werden.
Was kann der Ultraschall? Da uns weder die Klinik noch die Elektrophysiologie innerhalb der ersten zwei Wochen eine Antwort auf die Frage nach erhaltener Kontinuität beantworten kann, sind wir auf bildgebende Verfahren angewiesen. Im CT kommen die Nerven nicht oder nur in einer weitaus ungenügenden Auflösung zur Darstellung. Die Verfügbarkeiten (gerade in Notfallsituation) von MR-(Magnetresonanz-)Scannern sind eingeschränkt, auch ist die Bildgebung durch möglicherweise eingebrachtes Osteosynthesematerial eingeschränkt, und die räumliche Auflösung der im Einsatz stehenden Scanner ist im Vergleich zum Ultraschall geringer (6). Anhand der hier aufgeführten Beispiele soll der Einsatz des Ultraschalls in der Versorgung der peripheren Nervenverletzungen aufgezeigt werden.
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FORTBILDUNG
Abbildung 1: Komplette Nervendurchtrennung: Neurotmesis. 57-jährige Frau zwei Monate nach Polytrauma mit komplettem distalem Ulnarisausfall. Die Sonografie zeigt eine Neurotmesis des Ulnaris mit beidseits retrahierten Faszikeln (transparente rosa Fläche) innerhalb des Epineuriums (weisse Linie). Die Distanz zwischen den Nervenendigungen betrug 3 cm.
AB
Abbildung 2: Nervus radialis läuft über Knochenfragmente im Sulcus. 16-jähriger Polytraumapatient nach Fahrradsturz mit Humerusfraktur und inkompletter Fallhand. Der Nervus radialis touchiert im Sulcus einen Knochensporn, der mit der Austrittsstelle einer früheren Schraube korreliert (Pfeil in A). Hier ist er hypoechogen geschwollen (Transversalschnitt A). Im Längschnitt B zeigt sich das Epineurium unterbrochen (**), die Faszikel sind in ihrer Kontinuität jedoch erhalten. Neun Monate nach Trauma hat sich die Kraft bis zum Kraftgrad M4/5 gebessert. a A. brachialis profunda, * Septum intermusculare laterale.
Kontinuität ja oder nein? Die Schalluntersuchung im frisch traumatisierten oder operierten Gewebe ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht einfach. Trotzdem lässt sich in den meisten Fällen die Frage nach einer vorhandenen Kontinuität beantworten (7). Ist ein Nerv durchtrennt, ziehen sich die Nervenendigungen zurück, und es bilden sich Neurome des proximalen und auch des distalen Stumpfes. Abbildung 1 zeigt die blind endenden Nervenstumpfe eines komplett durchtrennten Ulnarisnervs bei einer 57-jährigen Frau zwei Monate nach Polytrauma. In der neurologischen Erstbeurteilung, die ohne Ultraschall erfolgte, wurde der komplette Ulnarisausfall als Axonotmesis niedriger Stufe fehlinterpretiert. Erst die ausbleibende Regeneration führte zu der Frage nach möglicher Diskontinuität und Durchführung eines Nervenultraschalls.
Bezug zu Knochen und/oder Osteosynthesematerial Eine häufige traumatische Nervenverletzung ist die Verletzung des N. radialis bei Humerusschaftfrakturen. Hier verläuft der Nerv über eine Strecke von mehreren Zentimetern direkt auf dem Knochen im Sulcus radialis.
Primär durch die Fraktur bedingt, kommt es in bis zu 12 Prozent der Fälle zu einer Verletzung (8). Iatrogen variiert die Verletzungsrate von 3 bis 16 Prozent (7). Es ist also wichtig, den Nerv sowohl in unmittelbarer Nähe zum Knochen als auch zum Osteosynthesematerial darstellen zu können. Der grosse Impedanzunterschied von Weichteilen und Knochen respektive Osteosynthesematerial führt zur kompletten Reflexion der Ultraschallwellen und daraus resultierendem hyperechogenem Rand mit darunterliegendem Schallschatten, was auf dem Bild unverkennbar ist. Auch kleine Knochenfragmente lassen sich meist gut darstellen, ebenfalls deren Beziehung zu den vorbeiziehenden Nerven (Abbildung 2). Zur genauen räumlichen Darstellung sind Schnitte in zwei Ebenen von Vorteil. Die dynamische Untersuchung mit dem Ultraschall erlaubt es zusätzlich, die Gleitfähigkeit des Nervs im Narbengewebe zu untersuchen. Dazu muss die Extremität passiv bewegt werden, oder aber der Patient wird aufgefordert, seine Extremität zu bewegen (6). Abbildung 3 zeigt den Bezug von Osteosynthesematerial zum Nerv. In Abbildung 3A ist die faszikuläre Struktur des vorverlagerten N. ulnaris einer 28-jährigen Patientin
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Abbildung 3: Bezug zum Osteosynthesematerial.
A: 28-jährige Patientin mit suprakondylärer Humerusfraktur und inkomplettem Ulnarisausfall nach Vorverlagerung des N. ulnaris und Osteosynthese. Der N. ulnaris zeigt eine gut erhaltene faszikuläre Struktur und genügend Abstand zur Platte.
B: 86-jährige Patientin mit distaler Humerusfraktur und Plattenosteosynthese. In der Untersuchung beschreibt der N. radialis einen aussergewöhnlichen ventralen Verlauf am distalen Oberarm und verschwindet auf Höhe des Sulcus unter der Platte.
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Abbildung 4: Partielles Neuroma in continuitatem. 7-jähriger Junge mit suprakondylärer Humerusfraktur und komplettem distalem Ulnarisausfall. A Gekreuzte Spickdraht-Osteosynthese. B Longitudinalschnitt des Ulnaris zeigt acht Wochen postraumatisch eine rundliche hypoechogene Läsion (Kreis) mit Diskontinuität der Faszikel (Pfeile: Epicondylus medialis humeri). C Intraoperatives Bild dokumentiert intra- und epineurale Durchtrittsstelle eines Spickdrahtes.
gut erhalten, und der Abstand zu der Platte wie auch zu der fixierenden Schraube gegeben. Eine Revision war nicht nötig, und die Heilung verlief spontan und rasch. Im Gegensatz dazu kommt bei der 85-jährigen Patientin mit distaler Humerusfraktur in Abbildung 3B der N. radialis, nach einem ungewöhnlich ventral gelegenen Verlauf am distalen Oberarm, auf Höhe des Sulcus unter der Platte zu liegen. Zur genauen räumlichen Darstellung des Nervs und dessen Bezug zum Osteosynthesematerial ist ein dynamisches Schallen aus unterschiedlichen Winkeln wie auch der prompte Vergleich mit den Röntgenaufnahmen notwendig, was sich zeitintensiv gestalten kann. In diesem Fall führte der Ultraschallbefund zur offenen Revision, wo sich die Fixierung des Radialishauptstammes unter der Platte bestätigte. Es erfolgte die Befreiung des kontusionierten Nervs ohne zusätzliche Interpostion eines Transplantats oder Naht der geschädigten Faszikel. Sechs Monate danach zeigte sich myografisch Aktivität im Brachioradialis und weitere drei Monate später auch in der distalen Radialismuskulatur (Fingerextensoren).
Nervenverletzungen bei Kindern Bei Kindern gestaltet sich die apparative Untersuchung des peripheren Nervensystems als Herausforderung. In der Regel wird ein Elektromyogramm (EMG) oder die Elektroneurografie (ENG) von Kleinkindern nicht toleriert. Die suprakondyläre Humerusfraktur ist die häufigste Fraktur bei Kindern und hat ihren Inzidenzgipfel im Alter von 5 bis 8 Jahren (9). Je nach Dislokationsgrad wird diese meist geschlossen reponiert und mittels gekreuzten Spickdrähten versorgt. Allerdings wird hier die Rate an iatrogenen Ulnarisläsionen mit bis zu 20 Prozent beziffert (10). Abbildung 4A zeigt die Versorgung einer suprakondylären Humerusfraktur eines siebenjährigen Knaben mittels gekreuzten Spickdrähten. Er stellte sich zwei Monate nach Trauma und sechs Wochen nach Entfernung der Drähte mit einer Krallenhand und komplettem distalem Ulnarisausfall vor. Sonografisch konnte die Kontinuität des Nervs klar bewiesen werden. Es zeigte sich jedoch eine spindelförmige Auftreibung mit diskontinuierlichen Einzelfaszikeln im Längsschnitt (Abbildung 4B). Dieses Bild entspricht einem partiellen Neuroma in
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continuitatem, Sunderland Grad IV, das einer operativen Revision bedarf. Intraoperativ konnte die epi- und intraneurale Durchtrittstelle eines Spickdrahts dargestellt werden (Abbildung 4C); ein Metallsplitter wurde entfernt und zwei diskontinuierliche Faszikel adaptiert. Nach nun zwölf Monaten ist der Knabe im Alltag auch als Fussballtorwart beschwerdefrei, einzig in der konfrontativen Kraftprüfung lässt sich noch ein leichtes Defizit eruieren (M 5-/5).
Ausblick
Der Nervenultraschall ist in der Beurteilung von Nerven-
verletzungen zu einem unverzichtbaren Werkzeug
geworden. Er ersetzt die elektrophysiologische Unter-
suchung nicht, sondern ist eine Ergänzung, die ent-
scheidende Zusatzinformationen liefert. Eine optimale
Versorgung von Nervenverletzungen ist nur durch eine
interdisziplinäre Teamarbeit von Orthopäden, Kinder-
chirurgen, Handchirurgen, Neurologen und Ergothera-
peuten möglich. In diesem Team spielt der Nerven-
ultraschall eine wichtige Rolle.
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Merkpunkte:
● Der Nervenultraschall ist ein unverzichtbares Instrument in der alltäglichen Diagnostik und dem Follow-up von peripheren Nervenverletzungen.
● Er ist kein Ersatz für die elektrophysiologische Untersuchung, sondern eine Ergänzung.
● Die Untersuchung ist nicht invasiv, schmerzfrei und kostengünstig.
● Bei der Untersuchung von Kindern ist er unerlässlich.
● Der Nervenultraschall vermag höhergradige Nervenverletzungen (Sunderland Grad IV und V), die operativ versorgt werden müssen, früh posttraumatisch zu erkennen.
Korrespondenz:
Dr. Anne-Kathrin Peyer Kauffmann
MD PhD, Oberärztin
Neurozentrum
Luzerner Kantonsspital
Neurozentrum
Spitalstrasse
6000 Luzern 16
E-Mail: Anne-Kathrin.Peyer@luks.ch
Wir danken Dr. med. univ. Stephan Mittas, Oberarzt Neurozentrum, Luzerner Kantonsspital, für das US-Bild in Abbildung 1 und Dr. med. Urs Hug, Chefarzt Handchirurgie, Luzerner Kantonsspital, für die intraoperative Aufnahme in Abbildung 4.
Bildrechte Abbildungen 2 und 3: Dr. Anne-Kathrin Peyer Kauffmann
Literatur: 1. Seddon HJ: Peripheral Nerve Injuries. Glasg Med J. 1943 Mar; 139(3):
61–75. 2. Sunderland SA: Classification of peripheral nerve injuries producing
loss of function. Brain J Neurol. 1951 Dec; 74(4): 491–516. 3. Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie. 005/010 S3-Leitlinie: Ver-
sorgung peripherer Nervenverletzungen. AWMF; 2013. Available from: https: //www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/005-010.html 4. Jonsson S, Wiberg R, McGrath AM, Novikov LN, Wiberg M, Novikova LN et al.: Effect of Delayed Peripheral Nerve Repair on Nerve Regeneration, Schwann Cell Function and Target Muscle Recovery. PLoS ONE. 2013 Feb 7; 8(2). 5. Bodner G, Buchberger W, Schocke M, Bale R, Huber B, Harpf C et al.: Radial Nerve Palsy Associated with Humeral Shaft Fracture: Evaluation with US-Initial Experience. Radiology. 2001 Jun 1; 219(3): 811– 816. 6. Nazarian LN: The Top 10 Reasons Musculoskeletal Sonography Is an Important Complementary or Alternative Technique to MRI. Am J Roentgenol. 2008 Jun 1; 190(6): 1621–1626. 7. Liechti R, Mittas S, Lorenzana D, Peyer A-K, Wilder-Smith E, Link B-C et al.: Evaluation of radial nerve continuity early after humeral shaft fracture fixation using high-resolution nerve ultrasonography: a pilot study of feasibility. J Shoulder Elbow Surg. 2019 Jun 1; 28(6): 1033– 1039. 8. Shao YC, Harwood P, Grotz MRW, Limb D, Giannoudis PV: Radial nerve palsy associated with fractures of the shaft of the humerus. J Bone Joint Surg Br. 2005 Dec 1; 87-B(12): 1647–1652. 9. Saeed W, Waseem M: Fracture, Elbow. In: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2017. 10. Eberl R, Eder C, Smolle E, Weinberg AM, Hoellwarth ME, Singer G: Iatrogenic ulnar nerve injury after pin fixation and after antegrade nailing of supracondylar humeral fractures in children. Acta Orthop. 2011 Oct; 82(5): 606–609.
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