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STUDIE REFERIERT
Hypertonie, Diabetes und kardiovaskuläres Risiko
Auch sehr niedrige Blutdruckwerte sind gefährlich
In einer Sekundäranalyse zweier grosser Studien waren nicht nur hohe, sondern auch besonders niedrige Blutdruckwerte bei Diabetikern und Nichtdiabetikern mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Endpunkte und den Tod verbunden. Somit könnte eine Festlegung von Blutdruckuntergrenzen sinnvoll sein. Bei den Diabetikern waren die kardiovaskulären Risiken über das gesamte Spektrum der Blutdruckwerte hinweg höher als bei den Nichtdiabetikern.
European Heart Journal
In älteren Guidelines werden für den systolischen Blutdruck (systolic blood pressure, SBP) Zielwerte < 140 mmHg und für den diastolischen Blutdruck (diasystolic blood pressure, DBP) Zielwerte < 90 mmHg empfohlen. Entsprechend den neuesten Richtlinien der American Heart Association (AHA) und der European Society of Cardiology (ESC) sollten sogar noch niedrigere Werte angestrebt werden. Der Nutzen dieser intensiven Blutdruckkontrolle wird allerdings kontrovers diskutiert. Diabetes und Hypertonie gehören zu den bedeutsamsten Risikofaktoren für kardiovaskuläre (CV-)Ereignisse und treten häufig gemeinsam auf. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, ob sich die BP-assoziierten CV-Risiken bei Patienten mit und ohne Diabetes unterscheiden und welche Zielwerte bei der jeweiligen Personengruppe mit den geringsten Risiken verbunden sind. Sekundäranalyse von ONTARGET und TRANSCEND Anhand einer Sekundäranalyse der Studien ONTARGET (The Ongoing Telmisartan Alone and in Combination with Ramipril Global Endpoint Trial) und TRANSCEND (Telmisartan Randomised Assessment Study in ACE Intolerant Subjects with Cardiavascular Disease) untersuchten Michael Böhm von der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes (Deutschland) und seine Arbeitsgruppe nun das BP-assoziierte CV-Risiko bei 11 487 Diabetespatienten und 19 450 Nichtdiabetikern über das gesamte Spektrum der in den Studien erreichten SBP- und DBP-Werte (1). Die Teilnehmer beider Studien wiesen eine koronare Herzkrankheit (KHK) oder eine periphere arterielle Erkrankung auf oder hatten bereits eine transitorische ischämische Attacke oder einen Schlaganfall erlitten. Die Studienmedikation beinhaltete Ramipril (Triatec® und Generika), Telmisartan (z.B. Kinzal®, Micardis® und Generika) oder eine Kombination beider Medikamente. Die durchschnittliche Followup-Dauer betrug 56 Monate. Als primären Endpunkt ihrer Sekundäranalyse definierten Böhm und sein Team eine Kombination aus CV-bedingtem Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall und herzinsuffizienzbedingter Hospitalisierung. Als Referenzgruppe dienten Nichtdiabetiker mit SBP-Werten von 120 bis < 140 mmHg und DBP-Werten von 70 bis < 80 mmHg. Höhere Ereignisraten bei Diabetikern ... Bei den Diabetespatienten waren die Ereignisraten über das gesamte Spektrum der SBP- und DBP-Werte hinweg höher als bei den Nichtdiabetikern (p < 0,0001). SBP-Werte ≥ 160 mmHg waren im Vergleich zu denen der Referenzgruppe mit einem erhöhten Risiko für den primären Endpunkt verbunden. Bei Diabetespatienten betrug die adjustierte Hazard Ratio (HR) 2,31 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,93– 2,76), bei Nichtdiabetikern lag sie bei 1,66 (1,36–2,02). Auch bei hohen DBP-Werten ≥ 90 mmHg beobachteten die Wissenschaftler bei allen Patienten ein erhöhtes Risiko für den primären Endpunkt. Bei den Diabetespatienten betrug die adjustierte HR 2,32 (1,91– 2,82), bei den Nichtdiabetikern lag sie bei 1,61 (1,35–1,93). ... auch bei niedrigeren Werten SBP-Werte < 120 mmHg waren bei Diabetespatienten mit einem erhöhten Risiko für den kombinierten Endpunkt assoziiert (HR: 1,53 [1,27–1,85]). Des Weiteren waren diese Werte bei allen Patienten mit einem erhöhten Risiko für den CV-bedingten Tod und die Gesamtsterblichkeit verbunden. Auch bei DBP-Werten < 70 mmHg wurde bei allen Patienten ein erhöhtes Risiko für den kombinierten Endpunkt beobachtet. Bei den Diabetespatienten lag die HR bei 1,77 (1,51–2,06), bei den Nichtdiabetikern betrug sie 1,30 (1,16–1,46). Blutdruckuntergrenzen definieren Böhm und seine Kollegen gelangten zu dem Schluss, dass zwischen den in ONTARGET und TRANSCEND erreichten SBP- und DBP-Werten und dem CV-Risiko ein nicht linearer Zusammenhang besteht. Das geringste CV-Risiko wurde bei SBP-Werten von 120 bis < 140 mmHg und DBP-Werten von 70 bis < 80 mmHg beobachtet. Die neuen Guidelines der AHA und der ESC empfehlen für Hochrisikopatienten SBP/DBP-Ziele von ≤ 130/80 mmHg. Bei Anstreben dieser Werte könnte es jedoch zu einer Absenkung in Bereiche kommen, die wieder mit ARS MEDICI 21 | 2019 715 STUDIE REFERIERT einem erhöhten CV-Risiko verbunden sind, geben Böhm und sein Team zu bedenken. Ihrer Ansicht nach sollte deshalb künftig bei der Erarbeitung von Richtlinien über die Einführung von BP-Untergrenzen für Patienten mit hohem CV-Risiko und – angesichts der höheren Ereignisraten – speziell für Diabetiker nachgedacht werden. Kommentar Im begleitenden Editorial (2) zeigen Marwan Saad von der University of Arkansas for Medical Sciences (USA) und seine Arbeitsgruppe auf, dass eine zu intensive BP-Senkung mit einer Be- einträchtigung des koronaren Flusses verbunden sein kann. Dies gilt vor allem für Patienten mit KHK oder für ältere Personen mit erhöhter arteriel- ler Steifheit. Deshalb raten die Kom- mentatoren dazu, die Empfehlungen der Fachgesellschaften vorsichtig um- zusetzen und bei der Bestimmung der BP-Zielwerte auch das Alter und in- dividuelle Risikofaktoren wie Diabetes oder chronische Nierenerkrankungen zu berücksichtigen. PSs Quellen: 1. Böhm M et al.: Cardiovascular outcomes and achieved blood pressure in patients with and without diabetes at high cardiovascular risk. Eur Heart J 2019; 40: 2032–2043. 2. Saad M et al.: Blood pressure target in diabetics: How low is too low? Eur Heart J 2019; 40(25): 2044–2046. Interessenlage: 8 der 14 Autoren der referierten Studie haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. Die weiteren 6 deklarieren keine Interessenkonflikte. Einer der Kommentatoren war als Berater für verschiedene Pharmaunternehmen tätig, die anderen 3 erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. 716 ARS MEDICI 21 | 2019