Transkript
ROUNDTABLE
Depression in der Hausarztpraxis (Teil 2)
Eine gute Patientenedukation ist wichtig
Depressive haben eine erhöhte kardiale Mortalität und Morbidität, wie auch Herz-Kreislauf-Krankheiten umgekehrt zu Depressionen führen – dessen sollten sich auch die Kardiologen bewusst sein. Denn nur etwa 50 Prozent der Betroffenen mit einer Depression suchen ärztliche Hilfe und lassen sich behandeln. Nicht immer präsentieren sie dabei psychische Beschwerden, erinnerten die Experten im ersten Teil unseres Roundtables. Wie geht es bei einem Verdacht auf Depression dann weiter? Ein Hausarzt, zwei Psychiater und ein Patientenvertreter diskutieren ihre Erfahrungen.
Ars Medici: Lassen Sie uns zunächst einmal versuchen zu definieren, wann eine Behandlung als erfolgreich gelten darf. Welche Kriterien sind Ihnen dabei besonders wichtig? PD Dr. Rico Nil: Aus Sicht der Betroffenen ist es wichtig, die Situation ganzheitlich zu betrachten, also nicht nur einzelne Symptome zu bekämpfen, sondern bis zur «Recovery» zu behandeln – das heisst bis zur möglichst guten Wiederherstellung der Funktionalität –, sodass auch die Arbeitsaufnahme wieder möglich ist. Menschen, die arbeiten, haben noch einen gewissen Schutz, das zeigt auch der Obsan-Bericht. Arbeitslosigkeit hingegen ist ein Risiko für sich. Wichtig ist auch, dass die Betroffenen heute lernen müssen, mit gewissen Einschränkungen zurechtzukommen, um ein lebenswertes Leben führen zu können.
Aus Sicht der Betroffenen ist es wichtig, die Situation ganzheitlich zu betrachten, also nicht nur einzelne Symptome zu bekämpfen, sondern bis zur «Recovery» zu behandeln.
PD Dr. Dr. Ulrich Hemmeter: Das gilt ja nicht nur für die Depression, sondern auch für andere chronische Krankheiten. Das Ziel ist, die Patienten so zu stabilisieren, dass das Leben wieder lebenswert ist – auch wenn das natürlich sehr subjektiv ist. Grundsätzlich hat man bei einer Depression die Chance, alle Symptome erfolgreich zu behandeln. Man muss also eine Restitutio ad integrum anstreben, auch wenn zirka 30 Prozent aller Verläufe chronisch sind. Die Frage ist: Wie sieht das Leben dann aus, und wie steht es um die Stabilität? Nur weil die Symptome weg sind, sind nämlich nicht alle Patienten zwingend auch stabil. Es bleibt oft eine gewisse Vulnerabilität. Wenn depressive Patienten an den Arbeitsplatz zurückkehren, ist es eben anders als nach einem Beinbruch; es gibt Stressfaktoren, die die Belastbarkeit zusätzlich einschränken. Aber selbst wenn eine Depression chronisch wird, kann man noch eine gewisse Zufriedenheit
mit dem Leben anstreben und erreichen. Nur sieht die Therapie dann vielleicht ein wenig anders aus. Man muss dann mit den Patienten daran arbeiten, dass sie sich mit ihren Einschränkungen in ihrem Umfeld bestmöglich zurechtfinden. Das kann in der Konsequenz auch zu einem Arbeitsplatzwechsel führen, vielleicht auch an einen betreuten Arbeitsplatz. Wenn Patienten erst einmal über einen längeren Zeitraum invalidisiert sind, haben sie wesentlich geringere Chancen, sich wieder in einen normalen Arbeitsprozess einzugliedern, selbst wenn die Symptome wieder verschwunden sind. Prof. Henning Wormstall: Zweifellos ist die Fähigkeit, im Alltagsleben wieder zurechtzukommen, ein wichtiger Erfolgsparameter. Um beurteilen zu können, in welchem Ausmass das gelingt, arbeite ich mit dem ICD-10. Da sind Kriterien für eine leichte sowie für eine mittelschwere oder eine schwere Depression aufgelistet. Mithilfe dieser Kriterien lässt sich eine Besserung erkennen. Aber selbstverständlich sagt mir auch die direkte Beobachtung der Patienten, ob es ihnen besser geht: Wie bewegen sie sich beim Hereinkommen? Was für eine Körperhaltung haben sie? Wie ist die Stimmung? Wie ist der Blickkontakt? Ausserdem gibt es verschiedene Fragebögen, die bei der Einschätzung helfen. Hemmeter: Für den Arzt kann es auch ein Erfolg sein, wenn ein Patient, der über Wochen depressiv ist, ohne dass sich etwas ändert, auf einmal doch noch auf die Therapie anspricht. Es gibt aber immer auch Patienten mit einer schweren Depression, das heisst mit einem Hamilton-Score über 30, die zwar auf die Therapie ansprechen – der Schlaf wird besser, sie sind morgens wieder aktiver, gehen hinaus, der Score sinkt um ein Drittel – und trotzdem äussern, es habe sich nichts verändert. Meiner Erfahrung nach muss der Hamilton-Score unter zirka 16 Punkte fallen, bis die Patienten angeben, eine Besserung zu empfinden. Dann ist nicht mehr viel depressive Symptomatik vorhanden, aber dieses Phänomen hängt eben direkt mit der Depressivität zusammen: Man sieht alles grauer, als es eigentlich ist. Nil: Dass die Besserung auf der Skala so gross sein muss, bis der Patient subjektiv eine Besserung verspürt, ist schon sehr eindrücklich.
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Fotos: vh
PD Dr. med. Dr. phil. dipl. Psych. Ulrich Hemmeter, Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie St. Gallen, Vorstandsmitglied der SGAD
PD Dr. sc. nat. ETH Rico Nil, Past-Präsident Equilibrium – Verein zur Bewältigung von Depressionen
Dr. med. Stefan Rennhard, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, Hausarztpraxis Niederhasli ZH, Vorstandsmitglied der SGAD
Prof. Dr. med. Henning Wormstall, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH Schaffhausen
Wormstall: Im Einzelfall kann ein Therapieerfolg auch darin bestehen, dass der Patient nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurück will, sondern neue Perspektiven entwickelt. Wobei ich eher versuche, während des stationären Aufenthaltes grosse Änderungen wie eine Trennung oder eine Kündigung zu vermeiden. Dr. Stefan Rennhard: Richtig, man muss den Patienten sagen, dass es Teil der Krankheit ist, dass sie keine Perspektive und keinen Ausweg sehen. Deshalb sollte man in dieser Phase keine wichtigen Entscheidungen treffen, sondern erst wenn man wieder stabilisiert ist. Häufig sind es im Übrigen die Angehörigen, die eine Verbesserung zuerst bemerken.
Fühle ich mich wohl dabei, wenn ich das mit dem Patienten selber angehe, oder würde ich diese Aufgabe lieber delegieren? ... Nur nichts machen ist das Gefährliche!
Wenn die Diagnose Depression im Raum steht, wie ist dann das weitere Vorgehen? Rennhard: Es gibt verschiedene Möglichkeiten und hängt sicherlich zunächst vom Schweregrad der Symptomatik ab, von der Patientenpräferenz, aber auch von den Präferenzen des Hausarztes. Eine entscheidende Frage ist: Fühle ich mich wohl dabei, wenn ich das mit dem Patienten selber angehe, oder würde ich diese Aufgabe lieber delegieren? Für Kollegen, die andere Interessen haben oder in der Weiterbildung keine psychiatrische Erfahrung sammeln konnten, ist es völlig in Ordnung, die Patienten weiterzuschicken. Nur nichts machen ist das Gefährliche! Hemmeter: Für die Diagnose einer depressiven Episode massgebend sind die ICD-10-Kriterien. Rennhard: Ich arbeite mit Text- beziehungsweise Diagnosebausteinen, wie ich sie für viele verschiedene Situationen habe. Das Abarbeiten einer Checkliste hilft, nichts zu vergessen. Primär lasse ich die Patienten erzählen und kann dann nachschauen, was nicht besprochen wurde. Zum Beispiel darf
man das Thema Suizidalität nicht vergessen. Und wenn die Diagnosekriterien erfüllt sind, nehme ich mir heraus, mit dem Patienten die Diagnose und die Behandlungsoptionen zu besprechen. Allein aus Ressourcengründen können wir nicht alle Patienten zum Psychiater schicken. Wormstall: Bei leichten Depressionen gibt es die Option des «watchful waiting», das heisst, erst einmal ohne Medikamente den Kontakt zu halten und zu überlegen, wann eine psychotherapeutische, eine psychopharmakologische oder eine kombinierte Therapie beginnen sollte. In der Realität wird meist relativ rasch ein Antidepressivum eingesetzt. Hierzu hätte ich eine Bitte an die Hausärzte: Häufig kommen dabei Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zum Einsatz. Wenn sich die Symptomatik dadurch nicht bessert, sollte in einem nächsten Schritt der Psychiater beigezogen werden. Hemmeter: Man muss immer den individuellen Fall ansehen. Wenn man ausreichend Zeit hat und keine schwerwiegenden sozialen Folgen drohen, kann man auch in der Hausarztpraxis ein zweites Medikament oder eine Kombination probieren. Es gibt ja derart viele depressive Patienten, dass der grössere Teil in der Hausarztpraxis betreut werden muss. Wenn der Patient allerdings noch arbeitet, die Depressivität nicht besser wird und eine längere Krankschreibung oder gar Invalidität drohen, dann sollte man, um eine fatale Entwicklung zu unterbrechen, den Psychiater möglichst schnell hinzuziehen – mit dem Ziel einer intensiven Psychotherapie plus optimaler Medikation.
Wie lang ist denn die Wartezeit bis zum Beginn einer Psychotherapie? Hemmeter: Das ist derzeit ein grosses Thema und vor allem regional sehr unterschiedlich; in den ländlichen Regionen ist das ein grösseres Problem als in den grösseren Städten. Wir versuchen es mit ergänzenden institutionellen Ambulatorien mit geringerer Wartezeit. Problematisch bleibt die Situation vor allem bei Kindern und Jugendlichen oder auch bei Älteren, da gibt es zu wenig Angebote im niedergelassenen Bereich. Rennhard: Aus hausärztlicher Sicht ist das grösste Problem die Dauer bis zum Erstkontakt beim Spezialisten. Wenn ich jemanden mit einer schwierigen Depression zum Psychiater schicke, würde ich mir sehr wünschen, dass nicht Wochen bis zum
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Erstkontakt vergehen. Ich könnte mir ein Zwei-Phasen-Modell vorstellen, mit einem raschen und kurzen ersten Kontakt mit Blick auf die wichtigsten Dinge, vielleicht auch eine Anpassung der Medikation, und alles andere kommt nachher. Hemmeter: Das ist schwierig. Wir versuchen das in St. Gallen mit den Krisenambulanzen aufzufangen, aber das ist – aufgrund der Vorhalteleistungen – natürlich teuer und geht nur bis zu einem gewissen Grad. Wir bemühen uns um eine kontinuierliche Weiterversorgung in den Ambulatorien oder bei den Niedergelassenen. Im Thurgau sind die niedergelassenen Psychiater in die Notfallversorgung eingebunden, dadurch ist zum einen die Akutversorgung besser und der Kontakt zu Psychiatern ein wenig enger, das wird recht geschätzt, ist aber auch noch nicht optimal.
Es gibt keine andere Erkrankung, bei der man sagt: «Sie sind zwar leicht erkältet, aber wir warten erst einmal eine Weile.» Für mich gehört das zur Stigmatisierung.
Rennhard: Bei den Notfällen mit Spitaleinweisung haben wir einen guten Entlastungsservice. Gibt es direkt keinen Platz, bemüht sich das Spital darum, eine Lösung zu finden. Das ist eine enorme Entlastung – mit einer vollen Sprechstunde herumtelefonieren zu müssen, ist ein Albtraum. Etwas Analoges für die subakuten Fälle wäre eine grosse Hilfe. Ein System, das innerhalb einer Woche einen Erstkontakt zu einem niedergelassenen Psychiater ermöglicht, der vielleicht auch die Weiterbetreuung übernehmen könnte. Wormstall: Das ist ein Problem, denn psychiatrische Behandlungen dauern ja oftmals länger. Und je mehr Patienten ich weiterbetreue von denen, die ich notfallmässig sehe, desto schneller ist mein Kontingent voll. Dann habe ich nur noch ganz wenige Stunden, um kurzfristig jemanden zu sehen. Nil: Ich tue mich schwer mit der Wartezeit bei leichten Depressionen. Meistens dauert es ja sowieso schon eine Weile, bis ein Patient sich endlich überwindet, einen Arzt aufzusuchen. Es gibt keine andere Erkrankung, bei der man sagt: «Sie sind zwar leicht erkältet, aber wir warten erst einmal eine Weile.» Für mich gehört das zur Stigmatisierung. Ich verstehe nicht, dass das sogar in den Behandlungsrichtlinien steht. Für die Betroffenen und die Angehörigen ist das furchtbar.
Ist aus Patientenperspektive eine Diagnose hilfreich, oder wird es dann erst recht schwierig? Nil: Da gibt es wohl beide Fälle. Im positiven Falle kann die Diagnose eine enorme Entlastung sein. Die Krankheit hat endlich einen Namen, und wir glauben, was der Arzt sagt, nämlich dass es eine behandelbare Krankheit ist. Im negativen Fall hingegen dominieren die Ängste; dann ist alles unheimlich und schwammig, und das Bedrohliche steht im Vordergrund.
wähnt, dass der Austausch mit dem Arbeitgeber eher früher als später erfolgen sollte. Es gibt sehr gute Arbeitgeber und Human-Resources-Abteilungen, mit denen das Gespräch gesucht werden sollte. Aber es gibt auch Betriebe, in denen man das nicht versteht und die Kommunikation kontraproduktiv ist. Da sollte man sich eher bedeckt halten und es bei einer Krankschreibung belassen. Hemmeter: Das ist immer eine Einzelfallentscheidung, die viel Sensibilität erfordert. Man muss auf den Patienten hören und versuchen herauszufinden, wie unterstützend der Arbeitgeber ist oder wie es mit der Wertschätzung aussieht. Es hängt auch von der beruflichen Situation ab. Wenn diese schwierig ist und es keine Alternative gibt, muss man versuchen, den Patienten so zu stabilisieren, dass er die Situation wieder aushalten kann. Aber ich habe auch sehr verständnisvolle Arbeitgeber erlebt, die extrem hilfreich waren und zum Gespräch gekommen sind und die Patienten unterstützt haben, bis sie wieder dauerhaft arbeitsfähig waren. Wormstall: Um einer Stigmatisierung vorzubeugen, haben wir in der Klinik versucht, eine möglichst neutrale Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen, sei es von der Klinik allgemein oder sogar vom Hausarzt. Rennhard: Die Wahl des Vokabulars halte ich für sehr wichtig, wenn es um den Arbeitgeber geht. Unter dem Begriff Burn-out – was ja keine ICD-Diagnose ist – können sich leistungsorientierte Personen im Management wahrscheinlich eher etwas vorstellen als unter einer Depression, und die Bewertung ist eine andere. Bei beiden braucht es einen sanften Einstieg und Aufmerksamkeit. Für den Betrieb macht die Bezeichnung der Krankheit am Ende keinen grossen Unterschied, aber für den Patienten spielt das Etikett eine wichtige Rolle. Nil: Das könnte vielleicht zur Entstigmatisierung beitragen ...
Kommen wir zur Therapie. Wo sehen Sie da grosse Herausforderungen – und Schwierigkeiten? Nil: Eine gute Patientenedukation ist extrem wichtig, denn bei depressiven Patienten wird mit der Zeit die Compliance häufig sehr schlecht, wie Studien zeigen. Wenn es nach einigen Monaten besser geht, setzen viele die Medikamente einfach ab. Wichtig ist auch eine unvoreingenommene Offenheit gegenüber allen evidenzbasierten Behandlungsoptionen.
Auf Seiten der Ärzte oder auf Seiten der Patienten? Nil: Auf beiden Seiten, aber vor allem auch auf Seiten der Patienten. Es findet sich da viel Sturheit. Manche möchten ihre Medikamente nicht mehr nehmen, wenn einmal Nebenwirkungen aufgetreten sind, andere möchten ihre Medikamente unbedingt ganz rasch wieder absetzen. Das ist aber nicht immer sinnvoll, und deshalb frage ich schon mal nach, was den Patienten denn wichtiger ist: keine Medikamente mehr nehmen zu müssen oder eine Besserung von Symptomen und Beschwerden. Und überhaupt: Warum sie denn etwas ändern möchten, wo es ihnen jetzt doch wieder gut gehe. Es ist einfach wichtig, dass die Patienten akzeptieren, dass die Behandlung länger dauern kann.
Inwieweit kann und sollte der Arbeitgeber eingebunden werden, wenn es um die Arbeitsfähigkeit geht? Nil: Das ist sehr unterschiedlich. Im Obsan-Bericht wird er-
Das ist sicher auch ein wichtiger Punkt im Rahmen der ärztlichen Aufklärung ... Nil: Im Zusammenhang mit den Medikamenten gibt es viele
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Befürchtungen: vor allem, sie machten abhängig oder schränkten kognitiv ein. Hier muss man gut informieren, um die Ängste zu nehmen. Hemmeter: Die kognitive Einschränkung ist oft eher eine Folge der Erkrankung als eine der Behandlung – das sollte stärker berücksichtigt werden. Wormstall: Die Therapie der Depression ist letztendlich ein Baukastensystem. Dazu zählen die diversen Gesprächstherapieformen und parallel dazu natürlich die medikamentöse Einstellung. Hierfür gibt es sehr gute Leitlinien, die S3-Leitlinien etwa wie auch die Schweizer Richtlinien. Aber auch Tageslicht und Sport können Therapieoptionen darstellen. Rennhard: Die Patientenorganisationen haben eine ganz entscheidende Position. Zu einer guten Aufklärung sollte es gehören, die Patienten zu ermutigen, sich bei ihnen zu melden. Unsere Konzepte kollidieren ja manchmal mit den Vorstellungen der Patienten. Solche Frontbildungen aufzuweichen, um vorbehaltlos zu schauen, was helfen könnte, ist eine wichtige Aufgabe der Patientenorganisationen. Jemand, der die Krankheit selber erlebt hat, geniesst ein ganz anderes Vertrauen als jemand, der nur darüber gelernt hat.
Die kognitive Einschränkung ist oft eher eine Folge der Erkrankung als der Behandlung – das sollte stärker berücksichtigt werden.
Nil: Dieses Ziel versuche ich zu implementieren. Ich habe oft gestaunt, wie viel Selbststigmatisierung man bei den Betroffenen beobachten kann. Die Depression ist eine Erkrankung, die den ganzen Menschen erfasst – von Kopf bis Fuss, Körper, Geist, Seele, alles ... Entsprechend komplex und ganzheitlich sollten daher auch die Bemühungen sein, etwas dagegen zu unternehmen. Darum plädiere ich für Offenheit. Wormstall: Hilfreich ist es, «Spielregeln» zu formulieren und allfällige Nebenwirkungen eines Medikaments anzusprechen und zu erklären. Der Patient muss wissen, dass der Arzt ein Therapiekonzept hat und um Nebenwirkungen wie etwa Übelkeit bei SSRI weiss und sie anspricht. Dazu gehört auch die Definition des Wortes «häufig»; in der Praxis bedeutet das in der Regel «einer von zehn bis einer von hundert». So können die Patienten leichter sagen: Es hat mich nicht getroffen. Nil: Ich provoziere manchmal, indem ich sage, mein Antidepressivum sei für mich wie ein Nahrungsergänzungsmittel oder Vitamin. Mit dem gehe es mir gut, und deshalb hätte ich keinen Grund, etwas zu ändern. Wormstall: Ich vergleiche die Therapie manchmal mit der eines Diabetikers – der setzt das Insulin auch nicht einfach ab. Hemmeter: Das ist eine gute Idee. Zum einen wegen der Bedeutung des Insulins als medikamentös notwendige Behandlung und zum anderen, weil der Diabetiker genau wie der Depressive sein Verhalten der Krankheit anpassen muss. Beide müssen ein Medikament nehmen, um die labile Stoffwechsellage auszugleichen. Rennhard: Eine der wichtigsten Botschaften an den Patienten ist, dass die Wirkung der Medikamente meist verzögert einsetzt. Er muss wissen, dass er – ausser vielleicht beim Schlafen unter sedierenden Antidepressiva – zunächst eventuell
nur die Nebenwirkungen spürt und die Wirkung später eintritt.
Welche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Therapie
sollten im Rahmen unserer Serie behandelt werden?
Hemmeter: Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass es bei
einer Depression nicht reicht, den Patienten lehrbuchmässig
aufzuklären. Man muss ihn führen. Das Schwierige daran ist,
dass die Patienten in einer schweren Depression negative Ge-
danken und Ideen haben, die letzten Endes nicht mit dem
Therapiekonzept des Arztes kompatibel sind. Eigentlich muss
man der negativen Einstellung widersprechen und die Bezie-
hung trotzdem aufrechterhalten.
Wichtig ist der kognitive Aspekt. Dazu fällt mir ein Extremfall
ein: Ich musste einen Patienten mit schwerer Depression in
die Klinik einweisen, wo zusätzlich eine Krebserkrankung
diagnostiziert wurde. Der Patient wollte sich daraufhin um-
gehend mit der Hilfe von Exit suizidieren, was innerhalb
kürzester Zeit möglich gewesen wäre. Wir konnten das dann
hinauszögern und weiter behandeln, und am Ende erreichte
er eine Vollremission und führt heute trotz Tumorerkrankung
wieder ein zufriedenes Leben ohne Depression. Er ist immer
noch bei mir in Behandlung und froh, dass er sich damals
nicht suizidiert hat. Letztlich birgt die Patientenführung aber
immer auch die Gefahr eines Beziehungsabbruchs, wenn man
zu rigoros versucht, die eigenen Therapievorstellungen durch-
zusetzen.
Rennhard: Wir sollten vielleicht viel öfter Geschichten erzäh-
len. Da haben wir Ärzte den Patienten gegenüber möglicher-
weise zu viele Hemmungen. Wir lieben doch alle Fallberichte,
und wenn man über ein positives Beispiel berichten kann oder
der Patient es sogar selber erzählt, bedeutet das einen riesigen
Vertrauensgewinn. Und Beziehung und Vertrauen sind
schliesslich die Basis von allem, was wir mit den Patienten zu
schaffen versuchen.
Die Thematik der evidenzbasierten Medizin beinhaltet die
Gefahr, dass wir die Beziehung zu Geschichten verlieren und
uns nicht mehr trauen, sie zu erzählen, sondern stattdessen
sagen: «Es gibt da Metaanalysen ...» Das interessiert den
Patienten wahrscheinlich nicht. Natürlich müssen wir die
Zahlen kennen und statistisch basierte Empfehlungen abge-
ben, aber für den Patienten zählen Geschichten viel mehr.
Nil: Die evidenzbasierte Medizin hat schon ihren Stellenwert.
Aber es gibt auch eine persönliche Evidenz, die, wie ich finde,
durchaus ihren Platz haben darf. Jeder Therapeut sollte zwei,
drei Geschichten haben, die er erzählen kann, auch wenn sie
nicht genau nach Lehrbuch gelaufen sind.
Hemmeter: Die evidenzbasierten Methoden sind gut unter-
sucht und statistisch abgesichert. Man weiss, dass sie bei
vielen Patienten funktionieren, sie bieten eine gewisse Sicher-
heit, und man sollte deshalb damit beginnen. Aber wenn man
an Grenzen stösst, muss man die Situation individuell be-
trachten und kreativ überlegen, was man auch noch unter-
nehmen könnte. Es gibt wirksame Therapiemethoden, die
einfach nicht in ausreichendem Ausmass untersucht sind, weil
keine Anreize dafür bestehen. Jeder Patient hat das Recht,
dass der Arzt alles Mögliche unternimmt, wovon er profitie-
ren kann und was ihm nicht schadet.
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Das Gespräch wurde von Dr. med. Christine Mücke moderiert.
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