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FORTBILDUNG
Diagnose und Therapie des Juckreizes
Chronischer Juckreiz kann die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Bevor man mit Laboruntersuchungen oder bildgebenden Verfahren beginnt, sollte eine sorgfältige Anamnese im Hinblick auf den Beginn und den Verlauf des Juckreizes sowie zur medizinischen Vorgeschichte und zur Einnahme von Medikamenten durchgeführt werden. Bei der Therapie wird eine lokale und systemische Vorgehensweise in drei Stufen empfohlen.
grosser Bedeutung bei der Evaluierung des chronischen Pruritus. Zu den wichtigsten Laboruntersuchungen gehören ein Blutbild und ein Differenzialblutbild sowie – wenn erforderlich – diverse weitere Werte wie Bilirubin, Zink oder Vitamin B12. Zu den diagnostischen Basisverfahren gehören eine Hautbiopsie und eine direkte Immunfluoreszenz. Als bildgebende Basisverfahren werden eine Röntgenaufnahme des Brustraums und eine Ultraschalluntersuchung des Bauchraums empfohlen. Weitergehende Untersuchungen können eine Computertomografie oder ein MRI-Scan zur Identifizierung eines Tumors als Ursache des Juckreizes sein.
CURRENT OPINION IN ALLERGY AND CLINICAL IMMUNOLOGY
Juckreiz gehört zu den quälendsten Symptomen bei zahlreichen Hauterkrankungen, Allergien und anderen systemischen Erkrankungen. Ebenso wie Schmerz kann akuter Juckreiz eine Warnfunktion ausüben, indem er veranlasst, dass schädliche Substanzen rasch von der Haut entfernt werden. Bei chronischem Juckreiz ist diese Warnfunktion jedoch nicht mehr gegeben. Entsprechend dem International Forum for the Study of Itch wird ein Juckreiz als chronisch definiert, wenn er 6 Wochen oder länger andauert.
Diagnose Die Ursachenidentifizierung eines chronischen Juckreizes stellt eine grosse Herausforderung dar. Bevor man mit Laboruntersuchungen oder bildgebenden Verfahren beginnt, sollte eine sorgfältige Anamnese im Hinblick auf den Beginn und den Verlauf des Juckreizes sowie zur medizinischen Vorgeschichte und zur Einnahme von Medikamenten durchgeführt werden (Tabelle 1). Eine gründliche Untersuchung inklusive der Haut und der Lymphknoten ist ebenfalls von
Merksätze
❖ Zur stufenweisen Therapie von chronischem Juckreiz stehen lokale und systemische Optionen zur Verfügung.
❖ Zu neuen Behandlungsoptionen gehören der Neurokinin-1Rezeptorantagonist Aprepitant und der Kappa-Opioid-Antagonist Nalfurafin.
Therapie in Stufen Bei der Behandlung von chronischem Juckreiz wird eine Vorgehensweise in 3 Stufen empfohlen (Tabelle 2). Trockene Haut ist ein bedeutender Faktor im Zusammenhang mit Juckreiz. Daher sollte mit einer Feuchtigkeitstherapie begonnen werden. Medikamente wie Betablocker oder Allopurinol sowie psychogene Faktoren, aber auch scharfe Gewürze, Alkohol und heisse Getränke können den Juckreiz verstärken und sollten daher im ersten Schritt vermieden werden.
Lokale Behandlungsmöglichkeiten Kratzläsionen können auf Stufe 1 mit klassischen dermatologischen Behandlungsoptionen wie juckreizstillenden Substanzen, topischen Kortikosteroiden, Polidocanol, Harnstoff oder Menthol behandelt werden. Stufe 2 beinhaltet die Behandlung der Ursache. In Therapiestufe 3 werden chronische lokale Kratzläsionen wie Lichen simplex, Prurigo Nodularis (z.B. mit Capsaicin-haltiger Creme) behandelt. CalcineurinInhibitoren wie Tacrolimus (Protopic® und Generika) und Pimecrolimus (Elidel®) bei atopischer Dermatitis, Prurigo, chronisch irritierenden Hand-Ekzemen und genitalem Juckreiz gehören ebenfalls zur Stufe 3. Aus der Behandlung von Patienten mit atopischer Dermatitis ist zudem ersichtlich, dass chronischer Juckreiz auch mit topischen CannabinoidAgonisten behandelt werden kann. Bei einigen Patienten ist eine Kombination einer topischen und einer systemischen Behandlung erforderlich, zum einen gegen den Juckreiz, zum anderen gegen Kratzläsionen. Ganzkörper-Phototherapien mit UVA-oder UVB-Strahlung gehören zur dritten Therapiestufe und können einzeln oder in Kombination angewendet werden. UV-Therapien können bei Patienten hilfreich sein, bei denen Kontraindikationen gegenüber systemischen Substanzen bestehen (z.B. im letzten Abschnitt einer Schwangerschaft) sowie bei älteren Patienten oder wenn andere Behandlungsoptionen fehlgeschlagen sind.
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Tabelle 1:
Schrittweise diagnostische Herangehensweise zur Evaluierung von Patienten mit chronischem Juckreiz
Anamnese klinische Untersuchung Laboruntersuchungen
diagnostische Verfahren bildgebende Verfahren
Beginn und Verlauf des Juckreizes, Hautschädigungen und deren Verlauf, bekannte systemische Erkrankungen Dermografismus und Allergien, Prädisposition für atopische Dermatitis, medizinische Vorgeschichte, Medikamenteneinnahme, familiäre Geschichte
Basis: körperliche Untersuchung inklusive Lymphknoten, Untersuchung der Haut, Dermografie
Weitergehende Untersuchungen: internistische, neurologische, psychosomatische, gynäkologische oder urologische Untersuchung
Basis: Elektrolyte, Erythrozyten-Sedimentationsrate, Blutbild, Differenzialblutbild, Gesamtprotein, Proteinelektrophorese, Eisenstoffwechsel, Blutglukose, Harnsäure, Harnstoff, Kreatinin, Lebertransaminasen, Bilirubin, alkalische Phosphatase, hepatische Serologie, Schilddrüsenfunktionstest, Gesamt-IgG, prostataspezifisches Antigen (PSA), Urinstatus, fäkaler okkulter Bluttest.
Weiterführende Bestimmungen und Untersuchungen (Beispiele): Folsäure, Zink, Vitamin B12, antimitochondriale Antikörper, Immunglobuline, indirekte Immunfluoreszenz, Schilddrüsen-Antikörper, Parathyroidhormon-Spiegel, Parathormon, Porphyrin, Untersuchung des Knochenmarks
Hautbiopsie (Histologie, direkte Immunfluoreszenz): bei Hautläsionen, die nicht anhand klinischer Kriterien klassifiziert werden können, Durchführung einer zusätzlichen Hautbiopsie, Atemtest auf Helicobacter pylori, Laktose-H2-Atemtest, Endoskopie, Biopsie
Basis: Röntgenaufnahme des Brustraums, Ultraschall des Bauchraums
Weiterführend: CT-Scan oder MRI-Scan speziell zur Identifizierung von Tumoren und bei neuropathischem Juckreiz, Ultraschall der Lymphknoten
Tabelle 2:
Stufenweise Herangehensweise bei der Behandlung von Patienten mit chronischem Juckreiz
Stufe 1
Stufe 2 Stufe 3
unterstützende Behandlung auf jeder Stufe
Feuchtigkeitsbehandlung der Haut Vermeidung von Trigger-Faktoren Erste symptomatische Therapie: Nicht sedierende H1-Antihistaminika (manchmal ist Hochdosieren erforderlich) topische Kortikosteroide
symptomatische Behandlung entsprechend der Ursache
Bei unklarer Ursache oder unzureichendem Ansprechen auf die Massnahmen der Stufe 2: symptomatische topische und/oder systemische Therapie. Dazu gehören beispielsweise Capsaicin, Calcineurinhemmer, Cannabinoid-Agonisten, Naltrexon, Gabapentin, UV-Behandlung, Immunsuppressiva (Ciclosporin[Sandimmun®]), Antidepressiva
multidisziplinäre Behandlung der Ursache
Basis: Bei Schlafstörungen: sedierende H1-Antihistaminika, Beruhigungsmittel, trizyklische Antidepressiva oder Neuroleptika Psychosomatische Behandlung: z.B. ein Training bei automatisierten Kratzgewohnheiten Bei erosiven Kratzläsionen: desinfizierende Massnahmen, z.B. Polihexanid (Lavasept®), lokale Applikation von Steroiden
Bei Patienten, die Calcineurinhemmer anwenden, wird von UV-Strahlung abgeraten.
Systemische Behandlungsmöglichkeiten Die neueren nicht sedierenden H1-Antihistaminika sind bei chronischem Juckreiz aufgrund ihrer guten Wirksamkeit und Verträglichkeit eine beliebte Behandlungsoption. Sie gehören zu Stufe 1. Bei Patienten mit chronischer Urtikaria wird in den neuesten Richtlinien der European Academy of Allergy
and Clinical Immunology eine Hochdosierung der nicht sedierenden Antihistaminika bis zur vierfachen Dosis empfohlen. Dies könnte bei anderen juckenden Hauterkrankungen ebenfalls angebracht sein. Da moderne Antihistaminika – zumindest in höheren Dosierungen – auch das Ausmass der Degranulation und der Freisetzung anderer juckreizfördernder Mediatoren durch die Mastzellen reduzieren können, könnte dies die juckreizstillende Wirkung noch weiter verstärken.
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Die meisten anderen derzeit empfohlenen systemischen Behandlungsoptionen zielen auf das zentrale Nervensystem ab. So haben sich in der klinischen Praxis zum Beispiel Antikonvulsiva wie Gabapentin (Neurontin® oder Generika) und Pregabalin (Lyrica®) als wirksam zur Behandlung von Pruritus erwiesen. Sie gehören zu Stufe 3. Der genaue Wirkmechanismus dieser Substanzen in diesem Anwendungsbereich ist nicht bekannt. Zu weiteren Behandlungsoptionen der Stufe 3 gehören auch Agonisten oder Antagonisten des Opioidsystems wie Naltrexon (Naltrexin®). Dabei handelt es sich um einen oralen Opioidrezeptor-Antagonisten mit einer lang wirksamen selektiven Blockade des µ-Opiat-Rezeptors. Naltrexon hat sich in Fallstudien und kontrollierten Studien bei Patienten mit Nierenerkrankungen und verschiedenen dermatologischen Erkrankungen als wirksam zur Linderung von Juckreiz erwiesen. Seit langem werden auch verschiedene Antidepressiva zur Behandlung von chronischem Juckreiz als Optionen der Stufe 3 angewendet. Die juckreizstillende Wirkung der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Paroxetin (Deroxat® und Generika) und Sertralin (Zoloft® und Generika) wurde in zahlreichen Studien und Kasuistiken bei Patienten mit Polycythaemia vera sowie bei somatoformem, paraneoplastischem und cholestatischem Pruritus dokumentiert. Mirtazapin (Remeron®), ein tetrazyklisches Antidepressivum mit zusätzlicher antihistaminischer H1- und serotonerger Wirkung hat eine erfolgreiche juckreizstillende Wirkung
bei idiopathischem Pruritus, Cholestase, Urämie und neoplastisch induziertem Pruritus gezeigt. Das trizyklische Antidepressivum Doxepin (Sinquan®) kann topisch und systemisch zur Induzierung zusätzlicher antihistaminer und anticholinerger Effekte angewendet werden.
Neue Behandlungsoptionen Im Tiermodell haben sich anti-IL-31, Neurokinin-1-Rezeptorantagonisten und H4-Rezeptorantagonisten als wirksam in der Behandlung von Juckreiz erwiesen. Bei Menschen wurden diese Substanzen bislang lediglich in einzelnen Kasuistiken und kleinen Fallserien untersucht. Hier kontrollierte der Neurokinin-1-Rezeptorantagonist Aprepitant (nur als Antiemetikum im AK der Schweiz) schweren therapierefraktären Juckreiz bei drei Patienten mit Sézary-Syndrom und unterband zudem den Juckreiz bei 20 Patienten mit atopischer Diathese, Prurigo nodularis und Juckreiz systemischen Ursprungs. Der Kappa-Opioid-Antagonist Nalfurafin (nicht im AK der Schweiz) erwies sich in einer randomisierten plazebokontrollierten Phase-III-Studie mit 337 Patienten, die an Hämodialyse-bedingtem Juckreiz litten, als sehr wirksam. ❖
Petra Stölting
Raab Ulrike, Ständer Sonja, Metz Martin: Pathophysiology of itch and new treatment, Curr Opin Allergy Clin Immunol. 2011; 11(5): 420–427.
Interessenkonflikte: Keine deklariert.
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