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FORTBILDUNG
Nutzen und Risiken von Antidementiva
Bei Alzheimer-Demenz sind Acteylcholinesterasehemmer indiziert
Acetylcholinesterasehemmer (AH) gelten heute bei der Alzheimer-Demenz als Medikamente der ersten Wahl. Ihre Wirksamkeit auf geistige Leistungsfähigkeit, Alltagsfertigkeiten und Verhaltensstörungen ist gut nachgewiesen. Bei anderen Demenzformen ist die Studienlage nicht so eindeutig. Grundsätzlich sollte man sich bei der Auswahl des AH an den Neben- und Wechselwirkungen orientieren, da sich die Substanzen in ihrer Wirksamkeit kaum unterscheiden.
Georg Adler
Vor einem Behandlungsbeginn mit AH muss die Diagnose einer Alzheimer-Demenz vorliegen. Zunächst ist das Demenzsyndrom mit alltagsrelevanter Störung von Gedächtnis und geistiger Leistungsfähigkeit festzustellen, und danach sind andere Ursachen auszuschliessen. Zu den erforderlichen Diagnostikverfahren gehört auch die bildgebende Untersuchung des Gehirns. Es entspricht der heutigen Versorgungspraxis, dass die Mehrzahl der Patienten mit Alzheimer-, vaskulärer oder gemischter Demenz vom Hausarzt behandelt wird.
Wirkungen und Nebenwirkungen
Die S3-Leitlinie «Demenzen» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfehlen AH bei Alzheimer-Demenz (Kasten 1) (1). Diese seien «wirksam in Hinsicht auf die Fähigkeit zur Verrichtung von Alltagsaktivitäten, auf die Besserung kognitiver Funktionen und auf den ärztlichen Ge-
MERKSÄTZE
� Vor einem Behandlungsbeginn mit Acetylcholinesterasehemmern (AH) muss die Diagnose einer Alzheimer-Demenz vorliegen.
� Es ist ratsam, bei der Verordnung von Antidementiva individuell zwischen Nutzen und Risiken abzuwägen und vor allem bei körperlicher Multimorbidität, Gebrechlichkeit und Polypharmazie vorsichtig zu sein.
� Trotz des Nebenwirkungspotenzials der AH sollte man Alzheimer-Patienten eine Behandlung mit diesen Antidementiva nicht ohne gute Gründe vorenthalten.
� Bei der Auswahl des AH sollte man sich primär am Nebenund Wechselwirkungsprofil orientieren.
samteindruck bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz». Neue Erkenntnisse zur Verträglichkeit der AH gibt es aus VigiBase, der Pharmakovigilanzdatenbank der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie sammelte zwischen 1998 und 2013 über 40 000 Nebenwirkungsmeldungen (adverse drug reactions, ADR) unter AH (2). Dabei war die Verteilung der Nebenwirkungen über die drei untersuchten AH (Donepezil [Aricept® und Generika], Galantamin [Reminyl® und Generika], Rivastigmin [Exelon® und Generika]) gleichmässig und entsprach in etwa ihren Verordnungsanteilen. Eine Besonderheit waren Hautreaktionen unter Rivastigmin seit Einführung des Pflasters mit dieser Substanz 2008. Über 70 Prozent der ADR wurden als ernsthaft eingeordnet, das heisst, sie waren tödlich oder lebensbedrohlich, erforderten eine stationäre Behandlung oder deren Verlängerung, führten zu anhaltender oder vorübergehend starker Beeinträchtigung oder lösten andere medizinische Massnahmen aus. Häufiger als anhand der Zulassungsstudien zu erwarten, wurden kardiovaskuläre Nebenwirkungen berichtet, die mit der cholinergen Wirkung der AH in Zusammenhang stehen, also AV-Block, Linksschenkelblock, Bradykardie oder Synkopen. Vor einer AH-Behandlung empfiehlt sich deshalb ein EKG, unter Umständen auch mit weiteren Kontrollen im Verlauf. Zudem traten Beschwerden im Zusammenhang mit vermehrter Magensäuresekretion, Urininkontinenz, Tremor oder Krampfanfälle auf. Als auslösende Faktoren erwiesen sich körperliche Multimorbidität und Polypharmazie. Etwa ein Drittel der Nebenwirkungen von AH geht auf Arzneimittelwechselwirkungen zurück. Deshalb ist es ratsam, individuell zwischen Nutzen und Risiken abzuwägen und vor allem bei körperlicher Multimorbidität, Gebrechlichkeit und Polypharmazie vorsichtig zu sein. In den Studien, in denen man AH kontrolliert absetzte, zeigten sich aber auch eine Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit und eine Zunahme der Verhaltensstörungen (3). Alzheimer-Patienten sollte man daher eine Behandlung mit AH nicht ohne gute Gründe vorenthalten.
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Kasten:
Empfehlungen zu Acetylcholinesterasehemmern (AH) gemäss S3-Leitlinie «Demenzen» (1)
� Die höchste verträgliche Dosis ist anzustreben.
� Man soll sich bei der Auswahl des AH primär am Neben- und Wechselwirkungsprofil orientieren, da keine ausreichenden Hinweise für klinisch relevante Unterschiede in der Wirksamkeit der verfügbaren Substanzen vorliegen.
� Die Umstellung auf einen anderen AH ist zu erwägen, wenn Zweifel an einem günstigen Verhältnis von Nutzen zu Nebenwirkungen auftreten.
� Ein AH ist bei guter Verträglichkeit im leichten bis mittleren Stadium fortlaufend zu geben.
� Die Behandlung mit einem AH ist auch bei Progredienz ins mittlere bis schwere Krankheitsstadium fortzuführen, da das Absetzen des AH mit einem Risiko für klinische Verschlechterung assoziiert ist. Ein Absetzversuch soll nur dann vorgenommen werden, wenn Zweifel an einem günstigen Verhältnis von Nutzen zu Nebenwirkungen auftreten.
� Auch eine Erstbehandlung mit AH bei Patienten im schweren Krankheitsstadium ist in Betracht zu ziehen.
Erfahrungen aus der Praxis
Die tatsächliche Verordnungspraxis für Antidementiva scheint nach einer Auswertung von Krankenkassendaten in Deutschland nicht im Widerspruch zu den Leitlinien zu stehen (4). Es zeigte sich, dass etwa ein Viertel aller Demenzund über 40 Prozent der Alzheimer-Patienten Antidementiva – überwiegend AH – erhalten. Doch etwa ein Drittel aller Demenzpatienten wird mit Neuroleptika behandelt, was wegen deren Gefahrenpotenzials bedenklich erscheint. Interessante Daten zur längerfristigen Behandlung mit AH stammen aus der Swedish Alzheimer Treatment Study (SWATS), einer seit 1997 an vielen Hunderten schwedischen Patienten durchgeführten Längsschnittstudie (5). Die detaillierte Erfassung ermöglicht die Kontrolle zahlreicher Krankheitsvariablen, wie Ersterkrankungsalter, körperliche Komorbidität oder individuell unterschiedliche Progredienz der Demenzerkrankung. Es zeigte sich, dass – bei Kontrolle dieser Variablen – die längere und höher dosierte Behandlung mit einem AH ein unabhängiger Prädiktor für eine höhere Lebenserwartung ist, vor allem für ein geringeres Herz infarktrisiko und eine niedrigere kardiale Mortalität. Diese Befunde lassen sich mit der antiinflammatorischen Wirkung der AH, einer verminderten Zytokinproduktion und einem niedrigeren Serumzytokinspiegel in Verbindung bringen. Ähnliche Ergebnisse zeigt eine taiwanesische Registerstudie (6). Hier wurden die Daten von über 37 000 Alzheimer-Patienten im Alter von über 50 Jahren ohne Vorgeschichte für zerebrale Ischämien ausgewertet. Die Patienten mit und ohne AH wurden hinsichtlich zahlreicher für eine zerebrale Isch ämie möglicherweise relevanter Faktoren gematcht. Es zeigte sich, dass unter AH das Risiko für eine zerebrale Ischämie innerhalb von fünf Jahren um etwa 20 Prozent vermindert war. Diesen Effekt führen die Autoren am ehesten auf die
entzündungshemmende und endothelschützende Wirkung der AH zurück.
Andere Antidementiva
Die bereits erwähnten S3-Leitlinien empfehlen auch Memantin (Axura®, Ebixa® und Generika) bei moderater oder mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz. Es kann ein Add-on zu einer Medikation mit AH erwogen werden, ausserdem die Behandlung mit Ginkgoextrakt. Nicht zu empfehlen sind Vitamin E, nicht steroidale Anti rheumatika, Hormonersatztherapie, Selegilin, Cerebrolysin oder die älteren Nootropika.
Krankheitsmodifizierende Therapien
Die bisherigen medikamentösen Therapien lindern lediglich die Symptomatik der Alzheimer-Krankheit, beeinflussen jedoch meist nicht die zugrunde liegenden Prozesse auf der Ebene von Beta-Amyloid und Tau-Protein. Derzeit werden grössere Phase-IIb- und -III-Studien auf der Basis verschiedener krankheitsmodifizierender Therapieprinzipien durchgeführt. Mit den am weitesten entwickelten Substanzen verfolgt man das Ziel, die Beta-Amyloid-Menge im Gehirn zu vermindern. Dies soll einerseits durch eine Verminderung der Beta-Amyloid-Produktion, zum Beispiel durch Beta-Sekretase-Hemmer, erreicht werden, andererseits durch eine Förderung der Beta-Amyloid-Elimination, zum Beispiel durch monoklonale Antikörper. Da angenommen wird, dass die Beta-Amyloid-Pathologie der Entwicklung einer Alzheimer-Demenz um viele Jahre vorausgeht, behandelt man im Rahmen derartiger Therapiestudien überwiegend Patienten mit leichter oder prodromaler Alzheimer-Demenz oder Personen, bei denen noch keine kognitiven Einbussen aufgetreten sind, aber die Beta-Amyloid-Pathologie mit Hilfe von Liquoruntersuchung oder Amyloid-PET nachgewiesen wurde.
Medikamente bei anderen Demenzformen
Die S3-Leitlinien raten zur Behandlung der Grunderkrankung. Auch Thrombozytenaggregationshemmer können sinnvoll sein. Die Ergebnisse einer Metaanalyse (7) sprechen bei vaskulärer Demenz für eine bessere kognitive Leistungsfähigkeit unter AH (off label). Dies ist allerdings häufig mit Nebenwirkungen verbunden, vor allem mit Gewichtsabnahme, Diarrhö, Brechreiz, Schlafstörungen oder Wadenkrämpfen. Häufiger als die rein vaskuläre ist wohl die gemischte Demenz, bei der man sowohl eine vaskuläre als auch eine Alzheimer-Pathologie annimmt. Für diese Patienten empfehlen die S3-Leitlinien eine Behandlung wie bei der Alzheimer-Demenz. Bei Parkinson-Demenz und Demenz mit Lewy-Körperchen kann gemäss S3-Leitlinien eine Behandlung mit Rivastigmin oder Donepezil erwogen werden (off label). Eine neuere Metaanalyse (8) zeigt, dass bei Parkinson-Demenz und Demenz mit Lewy-Körperchen die AH zu einer Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Alltagsfertigkeiten sowie zu einer Abnahme von Verhaltensstörungen führen. Die Behandlung ist nicht mit einer Verstärkung der motorischen Beeinträchtigungen verbunden. Es kam jedoch in allen Studien wegen anderer Nebenwirkungen zu mehr Be-
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handlungsabbrüchen in den Verumgruppen. Diese Patienten
werden – ähnlich wie jene mit frontotemporaler Demenz –
zumeist von Neurologen oder Psychiatern behandelt.
Bei frontotemporaler Demenz geben die S3-Leitlinien keine
medikamentöse Empfehlung. Ähnlich wie bei Parkinson-De-
menz und Demenz mit Lewy-Körperchen führt eine sympto-
matische Behandlung mit Neuroleptika häufig zu starken
Nebenwirkungen, sodass medikamentöse Behandlungsalter-
nativen erwogen werden sollten (9).
s
Prof. Dr. Georg Adler Institut für Studien zur Psychischen Gesundheit (ISPG) Richard-Wagner-Strasse 2 68165 Mannheim E-Mail: adler@ispg-mannheim.de
Interessenlage: Der Autor deklariert Beraterhonorare der Firmen Lilly, Novartis und Biogen.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 9/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nerven-
heilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN): S3-Leitlinie Demenzen (1. Revision), 2015, www.awmf.org 2. Kröger E et al.: Adverse drug reactions reported with cholinesterase inhibitors: an analysis of 16 years of individual case safety reports from VigiBase. Ann Pharmacother 2015; 49: 1197–1206. 3. O’Regan J et al.: Cholinesterase inhibitor discontinuation in patients with Alzheimer’s disease: a meta-analysis of randomized controlled trials. J Clin Psychiatr 2015; 76: e1424–e1431. 4. Bohlken J et al.: Pharmacotherapy of dementia in Germany: results from a nationwide claims database. Eur Neuropsychopharmacol 2015; 25: 2333–2338. 5. Wattmo C et al.: Longitudinal associations between survival in Alzheimer’s disease and cholinesterase inhibitor use, progression, and community-based services. Dement Geriatr Cogn Disord 2015; 40(5-6): 297–310. 6. Lin YT et al.: Association between acetylcholinesterase inhibitors and risk of stroke in patients with dementia. Sci Rep 2016; 6: 29266. 7. Chen YD et al.: Efficacy of cholinesterase inhibitors in vascular dementia: an updated meta-analysis. Eur Neurol 2016; 75: 132–141. 8. Matsunaga S et al.: Cholinesterase inhibitors for Lewy body disorders: a meta-analysis. Int J Neuropsychopharmacol 2015; 19(2), pii: pyv086. 9. Drach LM, Adler G: Medikamentöse Alternativen zu Antipsychotika bei Demenzkranken mit Verhaltensstörungen. Psychopharmakotherapie 2010; 17: 264–273.
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