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Schweizerische Menopausengesellschaft
(SMG)
Und eine HRT «macht» doch Brustkrebs!?
Am 29. August 2019 wurde in der Zeitschrift «The Lancet» eine Auswertung von 58 epidemiologischen retro- und prospektiven Studien zur Assoziation (!) zwischen einer menopausalen Hormontherapie (MHT) und Brustkrebsrisiko veröffentlicht. Die Ergebnisse sind unter «Kernaussagen» zusammengefasst. Im Folgenden werden einige Aspekte der Studie und deren Ergebnisse detailliert betrachtet und kommentiert. 1
Eine Stellungnahme von Prof. Dr. med. Petra Stute, Präsidentin Schweizerische Menopausengesellschaft
Was sind die Kernaussagen der Studie? I Alle systemischen MHT waren mit ei-
ner Erhöhung des Brustkrebsrisikos assoziiert. Das Risiko nahm mit der Therapiedauer zu. Das Risiko war für Östrogen-Gestagen-MHT (EPT) höher als für Östrogen-Mono-MHT (ET). I Für derzeitige EPT-Anwenderinnen bedeutet das ein relatives Risiko (RR) von 1,60 (95%-KI: 1,52–1,69) (1.–4. Jahr) bzw. ein RR von 2,08 (95%-KI: 2,02–2,15) (5.–14. Jahr). Die kontinuierliche, kombinierte EPT ist mit einem höheren Risiko als die sequenzielle, kombinierte EPT assoziiert. I Für derzeitige ET-Anwenderinnen bedeutet das ein RR von 1,17 (95%-KI: 1,10–1,26) (1.–4. Jahr) bzw. ein RR von 1,33 (95%-KI: 1,28–1,37) (5.–14. Jahr). I Das Alter beim Beginn der MHT hat keinen Einfluss auf das Brustkrebsrisiko. I Das Risiko für Brustkrebs ist auch nach Absetzen der MHT je nach vorheriger Anwendungsdauer weiterhin erhöht. I Je höher der BMI, desto höher das (ER-positive) Brustkrebsrisiko. Eine ET erhöht nur bei schlanken Frauen das Brustkrebsrisiko, nicht aber bei Adipösen. Eine EPT erhöht das Brustkrebsrisiko in jeder BMI-Kategorie, der additive Effekt ist aber bei adipösen geringer ausgeprägt als bei schlanken Frauen.
In absoluten Zahlen bedeutet das: I Wenn eine 50-jährige übergewichtige
Frau eine 5-jährige kontinuierliche, kombinierte EPT durchführt, wird innerhalb der nächsten 20 Jahre 1 von 50 Frauen zusätzlich die Diagnose Brustkrebs erhalten. I Wenn eine 50-jährige übergewichtige Frau eine 5-jährige sequenzielle, kombinierte EPT durchführt, wird innerhalb der nächsten 20 Jahre 1 von 70 Frauen zusätzlich die Diagnose Brustkrebs erhalten. I Wenn eine 50-jährige übergewichtige Frau eine 5-jährige ET durchführt, wird innerhalb der nächsten 20 Jahre 1 von 200 Frauen zusätzlich die Diagnose Brustkrebs erhalten.
Wie hoch ist das Basisrisiko für Brustkrebs? Das Risiko für Brustkrebs ist für «durchschnittlich gewichtige» Nicht-MHTAnwenderinnen altersabhängig in der Tabelle dargestellt. Interessanterweise entspricht ein «durchschnittliches» Gewicht einem BMI > 25, also Übergewicht, das per se mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko assoziiert ist. In der aktuellen Studie bezieht sich das zusätzliche Risiko auf einen 20-jährigen Beobachtungszeitraum (Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren). Das relative Basisrisiko für die Diagnose Brustkrebs be-
Tabelle:
Altersabhängiges Brustkrebsrisiko (Beobachtungszeitraum)
Alter (Jahre) Alle Frauen Frauen ohne MHT
5-Jahres-Risiko 50–54 55–59 1,40% 1,40% 1,33% 1,33%
60–64 1,71% 1,63%
65–69 2,09% 1,99%
10-Jahres-Risiko 50–59 55–64
2,7% 3,0%
20-Jahres-Risiko 50–69
6,3%
trägt in diesem Zeitraum 6,3% – das heisst 63 von 1000 Frauen werden zwischen 50 und 69 Jahren die Diagnose Brustkrebs erhalten. In der WHI-Studie betrug das relative Risiko für Brustkrebs bei einer 5-jährigen EPT 1,24. Das bedeutet, dass 3 zusätzliche Frauen zwischen 50 und 55 Jahren die Diagnose Brustkrebs erhalten werden (das relative Basisrisiko beträgt in dieser Alterskategorie 1,3% [siehe Tabelle] – das heisst, dass 13 von 1000 50-jährigen Frauen innerhalb der nächsten 5 Jahre die Diagnose Brustkrebs erhalten werden). Legt man nun die relativen Risiken der aktuellen Studie zugrunde (kontinuierliche, kombinierte MHT: RR: 1,60 [95%-KI: 1,52– 1,69]) (1.–4. Jahr), dann werden 7 Frauen innerhalb der ersten 4 Jahre zusätzlich die Diagnose Brustkrebs erhalten, also etwas mehr als in der randomisierten, kontrollierten WHI-Studie.
Die Analyse der Collaborative Group on Hormonal Factors in Breast Cancer Wie werden die Unterschiede des altersabhängigen Brustkrebsrisikos (Tabelle) in den relativen Risiken erklärt?
Welche Studien wurden in die Auswertung eingeschlossen? Alle epidemiologischen Studien zum Thema MHT und postmenopausaler Brustkrebs, die seit 1992, dem Beginn der Collaborative Group on Hormonal Factors in Breast Cancer, identifiziert wurden und die Angaben zum zuletzt (!) angewandten MHT-Typ, zur Anwendungsdauer inklusive Zeitdauer seit MHTStopp sowie zum BMI machten, erfüllten die Einschlusskriterien. Ab 2001 kam als zusätzliches Einschlusskriterium hinzu, dass die jeweilige Studie mindestens 1000 inzidente invasive Brustkrebsfälle aufweisen musste. Am Stichtag 1. Januar 2018 erfüllten 58 (24 prospektive, 34 retrospektive) Studien diese Kriterien und wurden für die Auswertung herangezogen. Da keine randomisierten, kontrol-
Quelle: 1. Collaborative Group on Hormonal Factors in Breast Cancer: Type and timing of menopausal hormone therapy and breast cancer risk: individual participant meta-analysis of the worldwide epidemiological evidence. The Lancet, published online August 29, 2019.
GYNÄKOLOGIE 4/2019
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lierte Studien (RCT) die geforderten mindestens 1000 Brustkrebsfälle aufweisen konnte, wurde keine der bekannten RCT berücksichtigt (PEPI, ERA, WEST, ESPRIT, DOPS, WHI, WISDOM, HERS). Interessanterweise hat von den genannten RCT nur der WHI-Studienarm mit der kombinierten MHT ein signifikant erhöhtes Mammakarzinomrisiko nach 5,5 Jahren Anwendungsdauer gezeigt. In der vorliegenden Auswertung wurde eine Studie als «prospektiv» definiert, wenn Informationen zu (u. a.) MHT vor der Diagnose Brustkrebs erfasst wurden. Eine Studie wurde dagegen als «retrospektiv» definiert, wenn Informationen zu (u. a.) MHT erst nach der Diagnose Brustkrebs erfasst wurden. Das heisst, dass in den «retrospektiven» Studien an Brustkrebs erkrankte Frauen erst nach (!) der Diagnosestellung zu ihrer früheren MHT befragt wurden. Das entspricht nicht der üblichen Definition von «prospektiv» und «retrospektiv»: Eine prospektive Studie dient der Untersuchung einer Hypothese zur Wirksamkeit oder zum Effekt einer Behandlung. Die Daten in einer solchen Studie werden nach der Hypothesenaufstellung eigens für die Prüfung der Hypothese gesammelt. In einer retrospektiven Studie hingegen kann man zum Beispiel nach Aufstellung der Hypothese vorhandene Datenbanken durchsuchen und daraus Daten entnehmen. Es ist also davon auszugehen, dass einige in der aktuellen Studie als «prospektiv» deklarierte Studien in Wahrheit retrospektiv waren und dass die als «retrospektiv» deklarierten Studien anfällig für Erinnerungsbias waren, da die gegebenen Informationen nicht immer objektiviert wurden. Die prospektive Studie, die mit Abstand die meisten Fälle und Kontrollen lieferte, ist die berühmte und wegen ihrer methodischen Schwächen berüchtigte One-Million-Women-Studie (n = 43 022 Fälle und n = 169 041 Kontrollen). Nicht berücksichtigt wurde interessanterweise die französische prospektive Kohortenstudie E3N; stattdessen wurde die methodisch schwächere EPIC-Studie eingeschlossen (E3N ist Teil von EPIC, wobei jedoch E3N regelmässig Daten von den Teilnehmerinnen erfasst, EPIC jedoch nicht).
Welches Studiendesign wurde für die Risikoberechnung gewählt? Insgesamt wurden 143 887 postmenopausale Frauen mit invasivem Mammakarzinom (Fälle) und 424 972 ohne Mammakarzinom (Kontrollen) eingeschlossen. Die 24 prospektiven Studien lieferten drei Viertel der Fälle. Nur diese wurden für die Berechnung der relativen Risiken berücksichtigt (n = 108 647 Fälle und n = 382 347 Kontrollen). Sie bildeten die Basis einer sogenannten Nested-Case-Control-Studie. Die an Brustkrebs erkrankten Frauen wurden mit jeweils zufällig gewählten Kontrollen aus der gleichen Studie nach den Kriterien Alter und Herkunftsregion «gematcht». Dieses Studiendesign entspricht dem Evidenzlevel IIb.
Welche Charakteristika hatten die postmenopausalen Frauen in den Studien? Die Erstdiagnose Mammakarzinom erfolgte im Durchschnitt im Jahr 2005 (IQR: 2000–09) in einem mittleren Alter von 65 Jahren (SD 7). 51% der Frauen mit Brustkrebs hatten zu irgendeinem Zeitpunkt eine MHT eingesetzt. Das mittlere Menopausenalter betrug 50 Jahre (SD 5), das mittlere MHT-Startalter ebenfalls 50 Jahre (SD 6). Die mittlere Anwendungsdauer betrug bei derzeitigen Anwenderinnen 10 Jahre (SD 6), bei früheren Anwenderinnen 7 Jahre (SD 6). Eine «derzeitige» MHT wurde definiert als MHT, bis zu maximal 5 Jahre zurückliegt (last recorded). Die Definitionen von «current» und «past» variieren stark in Studien, sodass beispielsweise Frauen, die in der aktuellen Studie als «current user» deklariert wurden, in anderen Studien «past user» gewesen wären.
Welche MHT-Typen wurden eingesetzt? Es wurde grob zwischen ÖstrogenGestagen-MHT (EPT) und ÖstrogenMono-MHT (ET) unterschieden. Der Östrogentyp (konjugierte equine Östrogene, Estradiol) und die Applikationsart der Östrogene (oral, transdermal) hatten keinen signifikanten Einfluss auf das Brustkrebsrisiko. Folgende Gestagentypen wurden bei EPT unterschieden: MPA, NETA, LNG, NOMAC, MP, DYD und Promegeston. Mit Abstand am häufigsten
wurden MPA und NETA eingesetzt, was die Dominanz älterer und US-amerikanischer Studien widerspiegelt. Nur 39 Frauen mit Brustkrebs hatten zuvor EPT mit bioidentischem MP eingesetzt. 235 Frauen mit Brustkrebs hatten zuvor reine Gestagene eingesetzt (MPA, NETA). Da eine Gestagen-Monotherapie heutzutage eher selten zur Behandlung von menopausalen Symptomen eingesetzt wird, muss davon ausgegangen werden, dass entweder die Indikation für eine Hormontherapie eine andere oder aber die Dosis deutlich höher als die heutigen Gestagen-Dosen gewesen sein muss.
Fazit Die aktuelle Studie zeigt ein nachhaltig höheres Risiko für Brustkrebs unter einer MHT, vor allem für kontinuierliche, kombinierte EPT-Präparate. Die Analyse schloss nur epidemiologische Studien mit einem erhöhten Risiko für Bias ein. Alle RCT, bis auf eine (der WHI-EPT-Arm), haben bisher kein erhöhtes Risiko für Brustkrebs unter einer MHT beschrieben. In der Analyse der Collaborative Group (1) wurden ältere Studien berücksichtigt, die andere Hormontypen und höhere Hormondosen als die heute üblichen einsetzten (= Bias). Ebenfalls wurde zu früheren Zeiten noch kein Mammografiescreening durchgeführt, sodass eventuell Frauen mit MHT eher zur Mammografie gingen als Frauen ohne MHT (= Bias). In der Gesamtschau aller Studien (auch der hier nicht berücksichtigten RCT und der E3N-Studie) kann festgehalten werden, dass eine kombinierte MHT in Abhängigkeit von der Anwendungsdauer das Risiko für Brustkrebs erhöht (= keine neue Erkenntnis). Legt man das Gewicht mehr auf die qualitativ besseren Studien, steigt das Risiko ab 5 bis 6 Jahren Therapiedauer an. In der täglichen Praxis ist das längst Teil der MHT-Beratung.
Prof. Dr. med. Petra Stute Präsidentin Schweizerische Menopausengesellschaft (SMG) Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital 3010 Bern E-Mail: petra.stute@insel.ch
Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel: keine.
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