Transkript
Fortbildung
Kunst als Behandlungsoption
Teil 1: Kunsttherapie bei somatoformen Störungen
3 • 2019
Unter dem Begriff «funktionelle Körperbeschwerden» wird heute ein breites Spektrum an Beschwerdebildern und Syndromen subsummiert, darunter somatoforme Störungen. Diese umfassen Belastungsstörungen und funktionelle Syndrome wie Fibromyalgie, Reizdarm, chronische Erschöpfung, kraniomandibuläre Dysfunktion und verschiedene Arten unklarer Schmerzen wie chronische nicht spezifische Rücken-, Gesichts- oder myofasziale Schmerzen. Für Hausarztpraxen werden bezüglich funktioneller Körperbeschwerden Häufigkeiten zwischen 20 und 50 Prozent angegeben und in der allgemeinen Bevölkerung bilden diese mit zirka 10 Prozent Prävalenz eine der häufigsten Krankheitsentitäten. Neben ärztlicher Beratung und symptombezogener Medikation werden häufig Psychotherapie, Physiotherapie und non verbale Therapien wie die Kunsttherapie eingesetzt.
Klientinnen und Klienten mit einer somatoformen Störung erleben Schwierigkeiten, den eigenen Körper wahrzunehmen und seine Sprache zu verstehen. Sie können oft nicht zwi-
Dietrich von Bonin
schen Körperempfindungen (z.B. Schmerz) und Gefühlen (z.B. Wut oder Angst) unterscheiden. Somatoforme Störungen bedingen sehr oft eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und mit eigenen und familiären Denkmustern. Jede Besserung ist geknüpft an einen stetigen inneren Bewusstwerdungs- und Transformationsprozess. Sie verlangt von betroffenen Personen oft, sich mit den am schwierigsten auszuhaltenden Aspekten des eigenen Seins zu konfrontieren. Kunsttherapie ermöglicht mit verschiedenen Methoden, einen erlebten Bezug zum Körper herzustellen, der über Wahrnehmungen des Befindens weit hinausgeht. Werden doch die psychischen Botschaften selber zum Kunstmaterial und Ausgangspunkt für Selbstakzeptanz und Transformation. Im selbsterschaffenen kunsttherapeutischen Objekt aus Farbe, Sprache, Bewegung und Musik erscheinen die Lebenssituation und ihre begleitenden Bilder und Gefühle nicht mehr als hinzunehmendes Schicksal, sondern als wandelbare Gegenstände eigener Gestaltungsfähigkeit. In dieser und der nächsten «doXmedical»-Ausgabe (4/19) werden Schilderungen aus den fünf Fachrichtungen der Kunsttherapie einen Einblick in die Praxis geben.
Erstarrte Emotionen bewegen
Fachrichtung Bewegungs- und Tanztherapie
Tanztherapie bewegt Seele und Körper. Sie weckt Lebenskräfte, regt zur Reflexion an und hilft, gespeicherte Verhaltensmuster zu verändern. Äussere Bewegung führt häufig zu innerer Bewegtheit, zum Ausdruck dessen, was sich emotional im Körper festgesetzt hat oder in Spannung gehalten wurde.
Tanztherapie strebt an, über ein ganzheitliches Erleben wieder Einklang zwischen Körper, Geist und Seele zu bringen und einen besseren Umgang mit sich selbst zu finden. In der RehaClinic für Psychosomatik in Braunwald und meiner Praxis in Zürich wurde in den letzten fünf Jahren für Gruppen ein Ansatz in drei Phasen entwickelt, der sich bewährt hat.
Erste Phase: Ankommen im Körper Die ersten Übungen fokussieren auf Zentrieren und Erden sowie auf das Erleben von Schwung- und Schwerkraft, verbunden mit der Atmung. Hierauf folgt eine angeleitete Körperreise in Bewegung, die in Teilen auch zu Hause angewendet werden kann. Struktur und Anleitung helfen in dieser Phase, Sicherheit zu schaffen in der neuen Situation. Geteilte rhythmische Bewegungen schaffen Verbindung und Vertrauen.
Zweite Phase: Bewegungsfluss Der Körper wurde in der ersten Phase zu Dynamik und Energie angeregt. Jetzt fordern wir die Klientinnen und Klienten
– 28 –
3 • 2019
Fortbildung
auf, ihren eigenen Impulsen zu Musik zu folgen. Dabei leiten wir an, eine Bewegungsqualität speziell zu beachten (bspw. rund, eckig, leicht, schüttelnd) oder sich ganz frei zu bewegen. In dieser Phase etabliert sich der Bezug zum eigenen Körper als Basis. Daraus hervorgehend können Raumempfinden und Interaktion miteinbezogen werden. Lebenskraft, Wohlbefinden, ein Gefühl von «im Fluss sein» und auch Humor werden häufig in dieser Phase erlebt, jedoch auch Müdigkeit und Begrenzung. Ist eine Basis der Körperverbundenheit geschaffen und damit der Wechsel von der kognitiven zur Erlebnisebene gelungen, kann in die dritte Phase übergegangen werden.
Dritte Phase: Themenzentriertes Erleben Hier wird ein Thema bewusst zur Erforschung in der Bewegung und unter Einbezug von Körperempfindungen angeleitet. Beispiele hierfür wären: Raum und Grenzen, ein Körperteil im Vordergrund, Loslassen, Nehmen und Geben teils mit Einbezug von Materialien als Symbole. Das praktisch Erlebte dieser Phase wird meist verbal reflektiert.
Sehr wichtig sind Regulation und Eigenverantwortung. Die Klientinnen und Klienten lernen, ihre Grenzen selbst wahrzunehmen, indem sie ihre Bewegungen in Bezug auf Grösse, Intensität, Kraft und Antrieb variieren oder sich zwischendurch hinsetzen oder hinlegen. Der Ansatz im Umgang mit körperlichen Begrenzungen oder unangenehmen Symptomen besteht insbesondere in der Gruppentherapie darin, die Aufmerksamkeit auf angenehme und/oder neutral besetzte Partien im Körper zu lenken, um den Wahrnehmungsradius erneut zu erweitern. In der Einzeltherapie steht der Bezug zur eigenen Biografie mehr im Vordergrund. Schwerwiegendere Störungen oder eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten sprechen für eine Einzeltherapie. Die spezifische Arbeit mit Symptomen kann hier fokussierter im Gesamtzusammenhang der Krankheitsgeschichte der Klientin oder des Klienten angegangen werden. Weniger zugänglich sind im Feld der somatoformen Störungen die Konversionsstörungen. Jedoch wurden auch hier in Einzeltherapien bereits positive Veränderungen festgestellt, unter anderem bei Gangstörungen.
Alexandra Gysel, Kunsttherapeutin (ED), Fachrichtung Bewegungs- und Tanztherapie; E-Mail: info@tobeinmotion.ch
Inneren Baustellen eine Stimme geben
Fachrichtung Drama- und Sprachtherapie
Sobald sich zeigt, dass viele schwierige Situationen den Alltag eines Klienten prägen, verwende ich die «Baustellentechnik». Ich nenne diese Technik so, weil jeder Mensch «Baustellen» in seinem Leben hat, an denen zeitweise gearbeitet wird, bis die Arbeit abgeschlossen ist. Die Klientin bildet mit Seilen grosse und kleinere Kreise, die je ein Thema repräsentieren. Sie bestimmt die Grösse der Kreise, welche den jeweiligen Belastungsgrad darstellen. Gemeinsam erforschen wir die Themen auf Dringlichkeit und Inhalte, indem sich die Klientin in den jeweiligen Kreis stellt und den Themen eine Stimme gibt. Frau K. erlebte solche Baustellen. Sie spricht während der Übung die Vermutung aus, ihre Magen-Darm-Beschwerden seien auf Probleme in solchen Bereichen zurückzuführen. Im Verlauf der Therapie zeigte sich, dass sie in Beziehungen mit Freunden, Bekannten und in der Familie oft sehr ange-
– 29 –
passt ist. Wir spielen eine erlebte Situation nach. Ein Arbeitskollege überschreitet ihre körperliche Grenze und legt schon am ersten Arbeitstag seinen Arm um ihre Schulter. Gemeinsam beobachten wir, was diese Situation in ihr auslöst. Sie erstarrt und kann sich weder verbal noch körperlich wehren. Aus diesem Grund gehen wir auf die Suche, wer in ihrem Umfeld die Fähigkeit hätte, sich in dieser Situation optimal zu verhalten. Die Wahl fällt auf eine ihrer Freundinnen, die wortgewandt und mutig ist und sich nichts gefallen lässt. Frau K. zieht sich den imaginären «Energiemantel» (ein farbiges Tuch) dieser Freundin an und zeigt, wie diese die Situation meistern würde. Die hier nötige ästhetische Distanz wird geschaffen, indem sich nicht die Klientin selbst, sondern quasi ihre Freundin wehrt. Durch Ausprobieren und Einüben verinnerlicht sie dieses Verhalten und kann es später bei Bedarf auch im Alltag aktivieren.
Fortbildung
3 • 2019
Im Verlauf der Therapie wird der Klientin bewusst, wie viel Wut und Trauer auf jene Menschen sich in ihr angestaut haben, die ihre Grenzen überschritten haben. Um diesen Gefühlen Luft zu verschaffen, nehmen wir eine Handvoll Ton. Dieser wird zu einer Kugel geformt und anschliessend mit voller Wucht auf den Boden geworfen. Im nächsten Schritt werfen wir die Tonkugel und schreien gleichzeitig. Darauf folgen ganze Sätze, welche mit kräftiger Stimme gesprochen werden. Frau K. braucht Überwindung. Ich unterstütze sie und führe sie in die dramatische Realität, indem ich frage, was sie sagen würde, wenn sie ganz mutig wäre? Daraufhin findet die Klientin Worte, die schon lange in ihr schlummern: «Lass mich in Ruhe!», «Ich weiss, was ich will.» und «Hau ab!» Erleichtert von der intensiven Tätigkeit setzen wir uns. Mit geschlossenen Augen formen wir aus dem Ton ein Objekt. Wir machen die Transformation, die Veränderung bildlich und fassbar. Sobald die Klientin das Gefühl hat, fertig zu sein, öffnet sie die Augen und betrachtet das Ergebnis. Sie interpretiert es als Yin und Yang (Abbildung). Für sie sei es wichtig, eine Balance zwischen ihrem männlichen und ihrem weiblichen Anteil zu finden. Die Sitzung schliesst sie heute mit der Aussage ab: «Ich glaube, es könnte auch Spass machen, jemandem die Meinung zu sagen.» Beim Abschlussgespräch berichtet sie, dass ihre MagenDarm-Beschwerden nur noch selten aufträten. Sie realisiert,
– 30 –
Abbildung
dass ihr Bauch auch ein Gefühlsbarometer ist, das auf Nervosität, Angst und bei neuen Situationen reagiert. In der Therapie lernte sie, sich auf schwierige Situationen vorzubereiten. Diese Szenen müssen nicht unbedingt in der Realität geprobt werden. Eine Gestaltung als «Kopfkino» kann schon ausreichend sein und ist im Alltag einfach anwendbar. Während meiner langjährigen Tätigkeit als Therapeutin habe ich die Erfahrung gemacht, dass Klienten die erlernten dramatherapeutischen Techniken auch noch nach Jahren nutzen.
x
Gabriele Stöckli, Kunsttherapeutin (ED) Fachrichtung Drama- und Sprachtherapie g.stoeckli@naturkraft-zentrum.ch
Korrespondenzadresse: OdA ARTECURA Dietrich von Bonin MME Kunsttherapeut Rainweg 9H 3068 Utzigen
Literatur: 1. S3-Leitlinie «Funktionelle Körperbeschwerden» AWMF-Reg.-Nr. 051-001. 2. Lacroix L, Peterson L, Verrier P: Art Therapy, Somatization and Narcissistic Identification. Art Therapy, Journal of the American Art Therapy Association 2001; Volume 18, Issue 1. 3. Koch S, Kunz T, Lykou S, Cruz R: Effects of dance movement therapy and dance on health-related psychological outcomes: A meta-analysis. The Arts in Psychotherapy 2014; 41: 46–64. 4. Kellerman PF: Concretization in psychodrama with somatization disorder. The Arts in Psychotherapy 1996; 23 (2): 149–152.