Transkript
FORUM
Lieber selbstständig oder lieber angestellt?
Unterschiedliche Wege in die Hausarztmedizin
Die Studie anlässlich des zehnjährigen Bestehens der JHaS hat gezeigt, dass mehr und mehr Junge den Weg in die Hausarztmedizin finden. Heute kann man als Hausarzt nicht nur, wie früher üblich, selbstständig in der eigenen Praxis arbeiten, sondern auch als Angestellter. Wir haben zwei Kolleginnen aus der Praxis gefragt, warum sie sich für die Selbstständigkeit respektive eine Anstellung entschieden haben – und wo sie sich in zehn Jahren sehen.
Zur Person
Med. pract. Aurelia Herzog, 35 Jahre, ist Leiterin und Inhaberin der Arztpraxis Aesch (Luzern) mit insgesamt drei Ärzten (zusammen rund 140 Stellenprozent) und 6 MPAs (zusammen rund 300 Stellenprozent). Sie arbeitet zu 70 Prozent in der Praxis. Sie lebt in einer Partnerschaft und hat drei Kinder im Alter von 1, 3 und 5 Jahren.
Warum ich gern in der eigenen Praxis arbeite
1. Warum ich mich für eine eigene Praxis entschieden habe. Ich gehöre nicht zu all jenen, die von klein auf wussten, dass sie einmal Ärztin werden wollen. Noch als Gymnasiastin äusserte ich mich dagegen – der Beruf war mir viel zu verantwortungsvoll. Aber sobald ich nach dem Studium wusste, dass ich Hausärztin werden würde, war für mich auch klar, dass ich in der eigenen Praxis arbeiten wollte. Es war kein durchdachter Vernunftsentscheid, das kam aus dem Bauch heraus. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass das Gefühl, frei entscheiden zu können, in der eigenen Praxis stärker ist als im Angestelltenverhältnis – und so eine patientenzentrierte, nicht immer guidelineskonforme, manchmal gar unkonventionelle Medizin eher möglich ist. Auch neben der medizinischen Arbeit ist es für mich ein Gewinn, vieles gestalten zu können – von der Teamsitzung über den Blumenschmuck bis zur Wartezimmerlektüre.
2. Warum es für mich gut ist, in der eigenen Praxis zu arbeiten. Nach den Assistenzarztjahren in verschiedenen Spitälern und Praxen habe ich mich in der Hausarztpraxis meines ehemaligen Kinder- und Hausarztes anstellen lassen, mich zunehmend in der Leitung der Praxis engagiert und diese seit dem 1. Januar 2019 übernommen. Der Schritt in die Selbstständigkeit war nicht nur aus den oben beschriebenen Gründen gut für mich, sondern auch die von der Generation Y angeb-
lich so gefürchtete Verbindlichkeit fühlte sich plötzlich positiv an. Die Arzt-Patienten-Beziehung gewinnt durch die Verbindlichkeit, und das Vertrauen wird gegenseitig gestärkt, wenn man weiss, dass man nicht nur ein paar Monate miteinander zu tun haben wird, sondern Jahre.
3. Was mir daran manchmal nicht gefällt. Ab und zu gibt es sie schon, die Momente, in denen ich mich frage, weshalb ich mir die Selbstständigkeit angetan habe. Die Verbindlichkeit macht es mir eben auch schwer, für ein paar Monate eine Auszeit zu nehmen, sei es für einen Tapetenwechsel oder für einen Mutterschaftsurlaub. Es ist möglich, aber doch schwieriger zu organisieren, wenn man selber dafür geradestehen muss. Ein weiterer Punkt, der manchmal belastend sein kann, ist die Unsicherheit, ob ich die gewünschte Verstärkung für mein ärztliches Team finden werde, um nach der Pensionierung meines Vorgängers das Pensum stemmen zu können. Bis vor Kurzem gehörte ich zu den Gesuchten, nun bin ich selbst eine Suchende auf dem so ausgetrockneten Markt an jungen Hausärzten. Unter dem Strich stimmt es für mich aber ganz klar so, wie es ist.
4. Wem würde ich es besonders empfehlen, in der eigenen Praxis zu arbeiten? Ich würde jeder begeisterten Hausärztin, die ein gewisses Quantum an Unsicherheit auszuhalten weiss – was bekannterweise in der Allgemeinmedizin sowieso sehr wichtig ist –, raten, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Denn so haben wir es in der Hand, den wunderbaren Beruf des Hausarztes/der Hausärztin zu gestalten, damit er auch in Zukunft attraktiv bleibt. Dazu gehört meines Erachtens auch die administrative und wirtschaftliche Seite der Medizin.
5. Werde ich in zehn Jahren voraussichtlich noch genauso
arbeiten oder wieder in ein Angestelltenverhältnis wechseln?
Ich wünsche mir, dass ich in zehn Jahren noch genauso be-
geistert Hausärztin sein werde wie heute – in einem Gesund-
heitssystem mit einer starken und sinnvollen Hausarztmedi-
zin; in einer weiterhin so breit gefächerten Praxis mit einer/
einem guten leitenden Ärztin/Arzt an meiner Seite.
L
Med. pract. Aurelia Herzog, Fachärztin FMH für Allgemeine Innere Medizin, Aesch LU
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ARS MEDICI 14–16 | 2019
FORUM
Zur Person
Dr. med. Anita Stalder ist 41 Jahre alt und arbeitet seit 2013 bei Sanacare Bern mit einem 60-Prozent-Pensum. Sie lebt in einer Partnerschaft und hat zwei Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren.
Beim Einstieg in die Praxistätigkeit sah ich einen Vorteil in der Unverbindlichkeit einer Anstellung gegenüber einer selbstständigen Tätigkeit. Ich sagte mir, dass ich unkomplizierter wieder gehen könnte, sollte es mir nicht gefallen. Heute fühle ich mich meinem Team sowie meinen Patientinnen und Patienten gegenüber so sehr verpflichtet, dass mir ein Weggang in eine andere Praxis aus diesem Grund sehr schwer fallen würde.
Warum ich gern als angestellte Hausärztin arbeite
1. Warum ich mich für eine Anstellung entschieden habe. Ich habe meine Zeit als Assistenzärztin in diversen Spitälern in der Schweiz sehr positiv erlebt, die Arbeit hat mir Spass gemacht und die Spitalluft fand ich immer sehr stimulierend. Und dennoch war mir sehr früh klar, dass ich später als Hausärztin arbeiten möchte. Als 2012 unser erstes Kind zur Welt kam und ich mit den Schwierigkeiten konfrontiert wurde, eine passende Teilzeitstelle als Oberärztin in einem Spital zu finden, war der Moment für den Wechsel in die Praxis gegeben. Als frischgebackene Mutter und nur wenig erfahrene Hausärztin hätte ich mir den Einstieg in eine eigene Praxis schlicht nicht zugetraut. So war ich über das Stellenangebot in der Sanacare-Gruppenpraxis sehr glücklich und bin seit Februar 2013 hier angestellt.
2. Warum es für mich gut ist, angestellt zu arbeiten. Wie schon bei meinem Einstieg in die Praxistätigkeit geniesse ich nach wie vor die Freiheit, mich bei der Arbeit voll und ganz auf die Medizin konzentrieren zu können. Ich habe Feierabend, wenn ich alle meine Patientinnen und Patienten gesehen und die Berichte gelesen beziehungsweise verfasst habe. Das ganze Drumherum wird von Fachleuten organisiert, die dafür ausgebildet und angestellt sind. Sollte ich dennoch Lust haben, mich einzubringen, so steht es mir offen, mich in Projekttätigkeiten zu engagieren. Ich geniesse es, abends ein Buch zu lesen oder Fachliteratur und keine Bewerbungsdossiers, Patientenreklamationen oder Laborverträge wälzen zu müssen. Sehr froh bin ich, dass sich mein Arbeitgeber nicht in meine fachliche Arbeit einmischt. Ich bin also frei, meine Patientinnen und Patienten so zu behandeln, wie ich es richtig finde. Ich schätze es ausserdem, dass meine Arbeitsbedingungen klar und für das ganze Team gleich sind: bezahlte Weiterbildungen, zur Verfügung gestellte Weiterbildungstage, interne Notfallschulungen mit Experten, Bezahlung der Beiträge an die Fachgesellschaften, organisierte Qualitätszirkel. Auch habe ich 2014 problemlos und ganz selbstverständlich ein halbes Jahr Mutterschaftsurlaub erhalten, ohne dass ich mich um eine Stellvertretung kümmern musste.
3. Was mir daran manchmal nicht gefällt. Was ich als Vorteil erwähnt habe, kann natürlich gelegentlich auch ein Nachteil sein: Ich entscheide eben nicht selber über das ganze Drumherum in der Praxis, und manchmal würde ich gewisse Dinge anders entscheiden, wenn ich könnte. Oftmals sind es die kleinen Beschlüsse «von oben», die im ersten Moment nerven. Mit etwas Abstand betrachtet relativiert sich mancher Ärger jedoch von selber. Ein Nachteil des Angestelltenverhältnisses ist sicher die fixe Arbeitszeit: Ohne Überzeitkompensation oder Ferientag kann ich nicht fehlen, Minusstunden sind nicht wirklich erwünscht, und ein unbezahlter Urlaub wird nicht selbstverständlich bewilligt. Da würde ich mir sicher ab und zu wünschen, unkomplizierter am ersten Schultag der Tochter oder am Geburtstag des Sohnes ein paar Stunden freinehmen zu können.
4. Wem würde ich es besonders empfehlen, angestellt zu arbeiten? Die Arbeit im Angestelltenverhältnis würde ich all jenen Kolleginnen und Kollegen empfehlen, die Freude an der Hausarztmedizin haben, sich aber nicht mit wirtschaftlichen und administrativen Fragen belasten wollen. Im Angestelltenverhältnis braucht es die Fähigkeit, gewisse Entscheidungen mittragen zu können, die man nicht selber gefällt hat und die man vielleicht nicht unbedingt gut findet. Wer hier eine gewisse Loyalität mitbringt und vor der Anstellung die Arbeitsbedingungen gut studiert, der oder die kann im Angestelltenverhältnis durchaus sehr glücklich werden.
5. Werde ich in zehn Jahren voraussichtlich noch genauso
arbeiten oder eine eigene Praxis haben?
Ich werde ab und zu von meinen Patientinnen und Patienten
gefragt, ob ich denn beim nächsten Check in einem Jahr noch
da sein werde. Ich antworte immer gleich: Ich habe keine
Pläne, meine Arbeitsstelle zu wechseln und wüsste moment-
an auch nicht, warum ich dies tun sollte. Die Vorteile meiner
Tätigkeit als angestellte Hausärztin überwiegen für mich
nach wie vor bei Weitem. Da Lebensentwürfe sich aber än-
dern können und das Schicksal es manchmal auch anders
meint, gebe ich aus Prinzip nie eine längerfristige Prognose
ab. Grundsätzlich kann ich aber Folgendes sagen: Selbst
wenn ich eines Tages eine selbstständig tätige Hausärztin
werden sollte, waren meine Jahre als angestellte Hausärztin
genau richtig.
L
Dr. med. Anita Stalder, Fachärztin FMH für Allgemeine Innere Medizin, Bern
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