Transkript
SUMMER SCHOOL
Typ-2-Diabetes
Empfehlungen zur Diabetestherapie
Die American Diabetes Association (ADA) und die European Association for the Study of Diabetes (EASD) haben das Konzept der Therapie des Typ-2-Diabetes in ihren Guidelines 2018 angepasst. Die grösste Veränderung bezog sich dabei auf die Behandlung nach patientenbezogenen Prioritäten. Ein solches Konzept verfolgt die Schweiz bereits seit 2016. Unterdessen wurden jedoch wieder viele neue Studien mit Antidiabetika publiziert. In naher Zukunft werden daher die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) aktualisiert. Einen Ausblick auf die Anpassungen gibt das Zürcher-Ostschweizer Update 2019.
Der Typ-2-Diabetes mellitus ist eine progrediente Erkrankung. Deren Behandlung orientiert sich nach aktuellem Konzept nicht nur am HbA1c-Wert, sondern auch an den Komorbiditäten sowie den Präferenzen des Patienten, was die Therapieadhärenz positiv beeinflussen kann. Das individuelle HbA1c-Ziel liegt bei 6,0 bis 8,0 Prozent. Die erste Massnahme betrifft Lebensstilveränderungen. Unmittelbar nach der Diagnose kann mit mehr Bewegung, Kalorienrestriktion und Gewichtsverlust eine HbA1c-Reduktion von bis zu 2 Prozent erreicht werden. Vor einem Einsatz von Medikamenten ist ein dreimonatiger Versuch mit Lebensstilveränderungen daher sinnvoll. Bleibt die Blutzuckerkontrolle ungenügend, besteht der zweite Schritt im Beginn einer medikamentösen Therapie.
Steckbrief
Wer hat die Guidelines erstellt? Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED)/Universitätsspital Zürich (1, 2) Wann wurden sie erstellt? 2017/Zürcher-Ostschweizer Update 2019 Für welche Patienten? Patienten mit Typ-2-Diabetes Was ist neu? s Berücksichtigung der aktuellen Evidenzlage bei diversen Anti-
diabetika. s Keine Unterscheidung mehr zwischen kardiovaskulärer oder nicht
kardiovaskulärer Vorerkrankung. s Der kardiovaskuläre Schutz von SGLT2-Hemmern und GLP-1-RA
sollte allen Typ-2-Diabetikern zur Verfügung gestellt werden.
SGED-Empfehlungen
www.rosenfluh/qr/sgedssed
Bei HbA1c-Werten ≥ 8,5 Prozent ist der Beginn mit einer Doppelkombination empfohlen, um einerseits mit verschiedenen Wirkmechanismen den Blutzucker effizient zu senken, dies mit der Möglichkeit, damit kurzfristig makrovaskuläre Ereignisse zu verhindern. Andererseits lassen sich mit niedrigeren Dosen der einzelnen Substanzen Nebenwirkungen reduzieren. Eine allfällige Therapieanpassung bezüglich Dosis oder Präparat sollte nach drei Monaten erfolgen. Bei einem HbA1c-Wert < 8,5 Prozent besteht die medikamentöse Therapie aus einschleichend dosiertem Metformin und einer frühen Kombinationstherapie. Vier Fragen sind wichtig Die Therapie des Typ-2-Diabetes richtet sich nach vier klinischen Situationen: s Insulinmangel s schlechte Nierenfunktion s kardiovaskuläre Erkrankung s Herzinsuffizienz. 1. Leidet der Patient an einem Insulinmangel? In diesem Fall muss der Mangel mit einem Basalinsulin (z.B. Insulin degludec [Tresiba®] glargin 300 [Toujeo®]) gedeckt werden. Reicht das nicht aus, ist eine Basis-Bolus-Therapie, eine Therapie mit Mischinsulin (Insulin degludec + aspart [Ryzodeg®]) oder eine Kombinationstherapie eines Basalinsulins plus GLP-1-Rezeptor-Agonist (GLP-1-RA) (Insulin degludec + Liraglutid [Xultophy®], Insulin glargin + Lixisenatid [Suliqua®]) empfohlen. Wird mit den Jahren auch diese Strategie ungenügend, ist eine Basis-Bolus-Therapie angezeigt. Hier ist es wichtig abzuklären, ob eventuell ein Typ-1-Diabetes oder ein spezifischer Diabetes (z.B. chronische Pankreatitis) vorliegen könnte. Ein Indiz dafür könnte ein anhaltend hoher HbA1c-Wert(> 9%) trotz Antidiabetikatherapie sein. 2. Wie ist die Nierenfunktion? Bei einer schlechten Nierenfunktion mit geschätzter glomerulärer Filtrationsrate (eGFR) < 30 ml/min/1,73 m2 besteht der erste Schritt aus der Anwendung von GLP-1-RA oder DPP-4Hemmern. Im Fall von Linagliptin braucht es dazu keine 508 ARS MEDICI 14–16 | 2019 SUMMER SCHOOL Tabelle: Eigenschaften der Wirkstoffklassen (1) Wirkstoffklasse Metformin SGLT2-Hemmer GLP-1 R-Agonisten DPP-4-Hemmer Insulin (i.d.R. basal) Reduktion kardiovaskulärer Komplikationen ⇓ (Langzeit) ⇓⇓ ⇓⇓ ⇔ ⇔ Relative HbA1c-Senkung (Effektivität) ⇓ ⇓–⇓⇓ ⇓⇓ (⇓) ⇓ ⇓⇓⇓ Einsatz Niereninsuffizienz (eGFR <45/ <30 ml/min) Hypoglykämierisiko +/− ⇔ +/− ⇔ +/− ⇔ +/+ ⇔ +/+ ⇑⇑ Sulfonylharnstoffe ⇔ ⇓ −/− ⇑ Effekt auf Applikation Körpergewicht Tageskosten ⇓ oral + ⇓⇓ oral ++ ⇓⇓⇓ Injektion/oral +++ ⇔ oral ++ ⇑⇑ Injektion + – ++ (Art/ Dosis) ⇑ oral + Antidiabetika gemäss (1) und (2) Wirksubstanz Biguanide Metformin SGLT2-Hemmer Canagliflozin Dapagliflozin Empagliflozin Präparatename Glucophage® oder Generika Invokana® Forxiga® Jardiance® DPP-4-Hemmer Alogliptin Linagliptin Saxagliptin Sitagliptin Vildagliptin Sulfonylharnstoffe Gliclazid Glibenclamid Glimepirid GLP-1-Rezeptor-Agonisten Exenatid Exenatid Depot Liraglutid Semaglutid Dulaglutid Insulinanaloga, lang wirksam Insulin degludec Insulin detemir Insulin glargin Insulin glargine 300 Insulin glargine Biosimilar Humaninsulin, mittelwirksam NPH Insulinanaloga, kurz wirksam Lispro Aspart Glulisin Mischinsulin (kurz und lang wirksam oder NPH-Insulin) Insulin lispro Insulin aspart Insulin degludec/aspart Vipidia® (Herzinsuffizienz möglich) Trajenta® Onglyza® (Herzinsuffizienz) Januvia®, Xelevia® Galvus® Diamicron® oder Generika Daonil®/Semi-Daonil®/Generika Amaryl® oder Generika Byetta® (2 x täglich) Bydureon® Pen (1 x wöchentlich) Victoza® Ozempic (1 x wöchentlich) Trulicity® (1 x wöchentlich) Tresiba® Levemir® Lantus® Toujeo® SoloStar® Abasaglar® Huminsulin®, Insulatard® Humalog® NovoRapid®, Fiasp® Apidra® Humalog® NovoRapid® NovoRapid® Kombination Vokanamet® Xigduo® XR Jardiance Met® Glyxambi® (Empagliflozin/Linagliptin) Qtern® (Dapagliflozin/Saxagliptin) Vipdomet® Jentadueto® Kombiglyze XR® Janumet®, Janumet XR®, Velmetia® Galvumet® Glucovance®/-mite® Xultophy® (mit Insulin degludec) Xultophy (mit Liraglutid) Humalog Mix® (NPH-Insulin) NovoMix® (NPH-Insulin) Ryzodeg® (degludec) Bemerkungen Medikamente in Grün haben kardiovaskuläre Endpunktstudien. Medikamente in Rot sind in der Medikamentengruppe in Bezug auf die derzeit bessere Datenlage bezüglich kardiovaskulärer und mikrovaskulärer Endpunkte zu bevorzugen. Quelle: Vortrag Prof. Lehmann, FOMF 2018/Zürcher-Ostschweizer Update 2019 sowie SGED-Empfehlungen 510 ARS MEDICI 14–16 | 2019 SUMMER SCHOOL Foto: zVg EXPERTENKOMMENTAR Prof. Roger Lehmann Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung im Universitätsspital Zürich, Vorsitzender der Arbeitsgruppe «Medikamentöse Therapie T2DM» der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) Welchen Stellenwert hat die Neuerung? Alle bisherigen kardiovaskulären Endpunktstudien waren nicht darauf ausgelegt, die primäre Prävention in Bezug auf kardiovaskuläre Ereignisse zu testen, da meist nur Hochrisikopatienten in diese Studien eingeschlossen wurden, welche nur einige Jahre dauerten. Zudem ist die Diagnose einer kardiovaskulären Erkrankung in der Praxis schwierig, und viele Patienten haben eine kardiovaskuläre Erkrankung, welche hingegen noch nicht diagnostiziert wurde. Aufgrund der Wirkmechanismen und der Resultate der Endpunktstudien ist davon auszugehen, dass die Medikamentengruppen der SGLT2-Hemmer und der GLP-1-RA auch in der Primärprävention eine wichtige Stellung haben. Warum sollte sich der Hausarzt an den Empfehlungen orientieren? Für den Hausarzt ist die Diabetestherapie in Anbetracht der vielen Substanzen und Kombinationen, welche heute möglich sind, unübersichtlich geworden, und die Datenmenge an Studien ist fast nicht zu bewältigen. Deshalb soll sich der Hausarzt nur an den verschiedenen Klassen orientieren und aus dieser Klasse ein Medikament wählen, das eine gute Evidenz aufweist. Empfehlungen müssen einfach sein, um den Bedürfnissen von Hausärzten zu entsprechen. Es wird bald eine webbasierte Applikation auf den Markt kommen, die nach Eingabe weniger Patientencharakteristika die beste Therapie vorschlägt. Dosisanpassung. Als zweiter Schritt folgt die Applikation von langwirksamem Basalinsulin. Bei eGFR-Werten zwischen 45 und 30 ml/min/1,73m2 kommen GLP-1-RA und einige SGLT2-Hemmer (Canagliflozin, Empagliflozin) infrage, und die Dosis von Metformin muss halbiert werden. Bei ungenügender Blutzuckersenkung besteht der nächste Schritt aus der Gabe von DPP-4-Hemmern oder einem Basalinsulin. Bei einer eGFR zwischen 60 und 45 ml/min/1,73m2 sind zusätzlich zu Metformin nephroprotektive Antidiabetika wie alle SGLT2-Hemmer und GLP-1-RA indiziert. Wird das HbA1c-Ziel damit nicht erreicht, ist in einem nächstem Schritt die Zugabe von DPP-4-Hemmern, Gliclazid oder einem lang wirksamen Basalinsulin (z.B. Tresiba®) angezeigt. 3. Liegt eine kardiovaskuläre Erkrankung vor? Bei Vorliegen einer symptomatischen wie auch asymptomatischen kardiovaskulären Erkrankung eignen sich als früher Metforminzusatz SGLT2-Hemmer oder GLP-1-RA (bei BMI > 28). Bei ungenügender Wirkung besteht der nächste Schritt aus einer zusätzlichen Gabe von DPP-4-Hemmern (bei vormalig SGLT2-Hemmer), Gliclazid oder Basalinsulin. Ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung können als Metforminzusatz SGLT2-Hemmer, GLP-1-RA wie auch DPP-4Hemmer zum Einsatz kommen. Bei Nichterreichen des HbA1c-Werts unter Metformin/SGLT2-Hemmer können GLP-1-RA, DPP-4-Hemmer, Gliclazid oder Basalinsulin dazu kombiniert werden. Bei Nichterreichen des HbA1cWerts unter Metformin/GLP-1-RA oder Metformin/DPP-4Hemmern ist der nächste Schritt der Zusatz von Basalinsulin, SGLT2-Hemmern oder Gliclazid oder Basalinsulin (1, 2). 4. Ist eine Herzinsuffizienz vorhanden, oder geht es um deren Prävention? In beiden Fällen soll der Patient als Metforminzusatz SGLT2Hemmer erhalten und bei ungenügender Blutzuckersenkung in einem nächsten Schritt zusätzlich DPP-4-Hemmer vor einer Zugabe von Basalinsulin (1, 2). In naher Zukunft könnten die vier klinischen Fragen auf zwei bis drei (Insulinmangel, Nierenfunktion und Herzinsuffizienz) reduziert werden, da Patienten mit und ohne kardiovaskuläre Erkrankung oder Herzinsuffizienz von SGLT2-
Hemmern profitieren. Lang wirksame humane GLP-1-RA sind ebenfalls kardioprotektiv und wären theoretisch die beste Kombination zu SGLT2-Hemmern. Diese Kombination wird jedoch von den Krankenkassen zurzeit nicht erstattet (2), obwohl sie zum Beispiel vom ADA-EASD-Konsensus (3) empfohlen wird.
Prioritätensetzung wichtig
Die heute verfügbaren Medikamente wirken auf verschie-
dene Organsysteme. Wichtig bei der Auswahl ist das Setzen
von Prioritäten und die Berücksichtigung der Präferenzen des
Patienten. Liegt die Priorität auf der kardiovaskulären Prä-
vention, kommen nur SGLT2-Hemmer und GLP-1-RA in-
frage. Liegt die Priorität auf der Gewichtssenkung, sind GLP-
1-RA noch stärker als SGLT2-Hemmer, auf lange Zeit gese-
hen wirkt auch Metformin gewichtssenkend. Sollen dagegen
Hypoglykämien reduziert werden, kommen vier Substanz-
klassen infrage: Metformin, SGLT2-Hemmer, GLP-1-RA
und DPP-4-Hemmer. Ist der Preis entscheidend, so verur-
sachen Sulfonylharnstoffe und Metformin am wenigsten
Kosten (Tabelle). Die Wahl der Antidiabetika innerhalb der
Wirkstoffklassen soll nach der jeweiligen Evidenzlage getrof-
fen werden.
s
Valérie Herzog
Referenzen: 1. Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und
Diabetologie 2016/2017: Massnahmen zur Blutzuckerkontrolle bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. www.sgedssed.ch 2. Zürcher-Ostschweizer Empfehlungen 2019, Universitätsspital Zürich. 3. Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018; 61: 2461–2498.
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